Читать книгу Der goldne Topf von E.T.A. Hoffmann: Reclam Lektüreschlüssel XL - Martin Neubauer - Страница 9
Serpentina: Schlangenhafte Doppelgängerin
ОглавлениеEigentlich müsste schon der Name der zweiten weiblichen Bezugsperson von Anselmus zu denken geben: Serpentina ist von serpens, dem lateinischen Wort für »Schlange«, abgeleitet – und eine Schlange entspricht nach der biblischen Vorstellung und der gängigen Alltagsmetaphorik nur zu gut dem Bild einer hinterlistigen Verführerin. Sie rührt dermaßen an Anselmus’ Sehnsüchten, dass er jegliche Selbstbeherrschung verliert und durch sie in »wahnsinnige[s] Entzücken« (S. 33) gerät. Ein »schnöder unchristlicher Name« (S. 35) also, der Unlauteres markiert – oder doch nicht?
Auffällig ist, dass das Mädchen aus der Feenwelt Ähnlichkeiten mit ihrem bürgerlichen Gegenstück Veronika besitzt – eine klare Stimme, die wie eine Kristallglocke klingt (vgl. S. 10, S. 17), sowie blaue Augen (vgl. S. 10, S. 21). Beide Frauen wirken wie zwei Seiten desselben Wesens: eine Variante des bei Hoffmann so häufigen Doppelgängermotivs also – und Doppelgänger stehen bei E. T. A. Hoffmann üblicherweise im Zusammenhang mit psychischem Ungleichgewicht und außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen. So vermengen sich die Bilder der beiden in Anselmus’ Kopf, wenn ihm Veronika beim gemeinsamen Umtrunk ein Glas Punsch serviert (S. 76) und plötzlich die Gestalt Serpentinas und ihrer Welt vor seinem geistigen Auge aufsteigt: Handelt es sich dabei um ein Phänomen, das sich aus dem Reich des Wunderbaren herleitet, oder schlicht um Benebelung durch allzu viel Alkoholkonsum?
Wenn der Anselmus des Märchens am Ende seine Erlösung erfährt, so trifft dies auch für Serpentina zu, mit der er sich schließlich in Liebe vereinigt. Hat sie sich anfangs noch smaragdgrün und schlangenartig durch die Erzählung bewegt, so streift sie letztlich vor der Harmonie einer romantisch beseelten Naturkulisse alles Reptilienhafte von sich ab und erscheint »in hoher Schönheit und Anmut« (S. 100). Als Verkörperung des Wunderbaren als Tatsache repräsentiert sie letztlich auch die Poesie, zu der sie unter Lindhorsts Mitwirkung den Studenten hinführt.