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Wer kann besser zählen?
ОглавлениеWenn die letzten Sonnenstrahlen auf die Ruinen des Forums fielen und der Felsen, auf dem die drei Knaben hausten, einen dunklen Schatten über die grasbewachsenen Wege warf, schauten die drei von ihrem Horst herunter, und Angelo zählte die Postamente des Juliatempels, er zählte die Säulen, die großen Steine, die herumlagen, und wenn er nicht mehr weiter wusste, half ihm Mario, der sehr gescheit war. Er wusste immer alles und konnte einem fast alles sagen, was man nicht selber wusste.
Angelo war auch schon am Abend zum Kolosseum hinuntergegangen. Mario hatte ihm erklärt, hier hätten im alten Rom die Gladiatoren, starke Männer, gegeneinander gekämpft. Staunend war Angelo davor gestanden und hatte in die Höhe geschaut, und dann hatte er begonnen zu zählen, die Bogen ringsherum, zuerst die untersten, dann die mittleren und zuletzt die obersten. Das war gar nicht so leicht; denn es waren nicht mehr alle Bogen ganz. Manche waren nur noch halb und waren vermauert, damit der Stein nicht mehr abbröckelte. Angelo wusste zuerst nicht, ob er diese mitzählen sollte. Viele Bogen waren überhaupt nicht mehr da. Er entschloss sich, nur die ganzen Bogen zu zählen. Dreimal musste er rings um das Kolosseum herumgehen. Es war ein langer Weg, und als er endlich fertig geworden war, da war es schon ganz dunkel geworden. Droben in der Grotte erzählte er den anderen, wie viele Bogen es seien, und dass er alle habe zählen können.
Mario lachte. „Das ist keine Kunst. Ich kann noch viel weiter zählen, fast bis unendlich.“
„Ich will auch bis unendlich zählen können“, rief Angelo. „Wie viel ist das?“
„Das ist viel mehr als die Bogen des Kolosseums“, erklärte Mario, „unendlich ist hunderttausend Millionen mal mehr. So weit kann man gar nicht zählen.“
„Doch, das kann man“, ereiferte sich Lorenzo, „ich kann bis tausend zählen, das ist fast so viel wie unendlich.“
Mario lachte, und Angelo lachte auch; denn wenn Mario lachte, so hieß das, dass tausend noch lange nicht so viel wie hunderttausend Millionen Mal die Bogen des Kolosseums sind. Und wenn Mario dieser Meinung war, dann musste man es ihm glauben. Er war ja viel älter als Lorenzo. Darum lachte Angelo mit, aber Lorenzo wurde böse; denn er liebte es nicht, wenn man über ihn lachte. Lorenzo sagte nichts mehr. Immer, wenn er böse war, sagte er nichts.
Die Zahlen ließen Angelo an diesem Abend keine Ruhe mehr. „Ich glaube, ich kann weiter als bis tausend zählen“, sagte er, „ich will es einmal versuchen“, und er begann, zuerst laut: „Uno, due, tre, quattro, cinque, sei …“, dann immer leiser, und zuletzt bewegten sich nur noch stumm seine Lippen, nur manchmal sagte er wieder: „tre cento“ und dann „quattro cento.“ Und dann holte er tief Atem und zählte wieder weiter. Er zählte so eifrig, dass er sicher nicht nur bis tausend, sondern weit darüber hinaus bis unendlich gekommen wäre, wenn ihn nicht vorher der Schlaf eingehüllt und von seinen Zahlen erlöst hätte.
So lernte Angelo zählen, und Mario lehrte ihn rechnen; denn das musste man können, wenn man es zu etwas Rechtem bringen wollte.