Читать книгу Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation? - Martin Schaub - Страница 50
2.4 Darstellungsgang
ОглавлениеGemäss der konzeptionellen Zweiteilung der Untersuchung, wie sie das visualisierte Theoriegerüst und die Fragestellungen ausweisen (Darstellungen 3 und 4, Kapitel 1.10), geht der Analyse des Denkmalgebrauchs die Untersuchung des Denkmals als Gegenstand voraus. Das auf ersten Blick vertraute und natürliche Erscheinungsbild der Denkmalanlage bedarf einer minutiösen Beschreibung – erst der zweite Blick zeigt, wie dicht und intensiv das Gelände gestaltet und wie facettenreich dessen Deutung ist. Methodisch führt dies zu einem zweistufigen Verfahren (Kapitel 3.1 bis 3.8). Die detaillierte Beschreibung der Denkmalelemente knüpft an Panofskys Bildinterpretationsschema an, genauer an die vor-ikonografische Beschreibung. Dieser Schritt erfährt eine Historisierung, indem eine vor-ikonografisch synchrone von einer vor-ikonografisch diachronen Perspektive unterschieden wird. Dieser Längsschnitt ermöglicht es, auch die geschichtskulturelle Dynamik zu fassen. Der zweite Analyseschritt kombiniert aus darstellungspraktischen Gründen Panofskys ikonografische Analyse mit ersten Ansätzen ikonologischer Interpretation. Deren weitere Vertiefung erfolgt anhand mehrerer gegenstandsbezogener Theorien, deren Auswahl durch die dem Projekt zugrundeliegenden Konzeption bedingt ist (Kapitel 3.9).[320] Dazu gehört Speitkamps kulturwissenschaftliches Analyseraster, das eine hilfreiche Grundlage bietet, um die öffentliche Wirkung eines Denkmals zu untersuchen. Nipperdeys Typologie der Nationaldenkmäler ihrerseits verallgemeinert die analytische Perspektive weiter, indem sie vom Nationaldenkmal als Ausprägung des Nationalbewusstseins ausgeht. Abschliessend soll das Rütli mit zentralen Elementen der schweizerischen Identitätskonstruktion in Verbindung gebracht werden, mit denen sich insbesondere Marchal intensiv auseinandergesetzt hat.
Die folgenden Hauptkapitel 4, 5 und 6 fokussieren auf den Gebrauch der Anlage. Entlang von Schönemanns Unterscheidung von kollektivem und individuellem Geschichtsbewusstsein – sie ist im theoretischen Gerüst für alle Operationalisierungsdimensionen nach Hettling übernommen worden –,[321] widmen sich in einem ersten Schritt und aus kollektiver Perspektive mehrere Teilstudien den textlichen, danach den bildlichen Darstellungen des Denkmals und des Gründungsmythos. Damit soll aufgezeigt werden, welche Narrative und narrativen Chiffren Behörden (Regierung, Verwaltung), Medien und andere gesellschaftliche Akteure (Wissenschaft, Kunst, Tourismusorganisationen) hervorbrachten. Die textlichen Rütlidarstellungen (Kapitel 4.1) setzen mit jenen Beschreibungen ein, die Chronisten, Historiker und Literaten vor dem Kauf des Geländes 1858 angefertigt hatten. Dazu zählen die traditionsbildenden Texte, welche den Mythos seit Ende des 15. Jahrhunderts geformt haben, genauso wie die wirkungsmächtigste Bearbeitung, die Schiller mit seinem Drama «Wilhelm Tell» vorlegte. Ausschnitte daraus fanden sich sogar in den Reiseführern. Die diachron angelegte Teilstudie zu diesem Gebrauchsmedium spannt den Bogen von der ersten Ausgabe des Baedeker-Führers zur Schweiz von 1841 bis zu aktuellen Publikationen. Entschieden pädagogisch ausgerichtet sind die Lesebücher und die Geschichtsbücher, die unter behördlicher Obhut für den Schulunterricht entwickelt wurden. Die in diesen Unterrichtsmaterialien enthaltenen Rütli-Narrative veränderten sich im Verlauf des Untersuchungszeitraums stark. Sowohl Behörden als auch Private nahmen schliesslich Einfluss auf Strassen- und Schiffsbezeichnungen, deren geschichtskulturelle Präsenz mit derjenigen von Wertzeichen und Münzen vergleichbar ist.
Für die visuelle Repräsentation des Denkmals fiel die Wahl naheliegenderweise auf geschichtskulturelle Medien, die für das Rütli von besonderer Bedeutung sind (Kapitel 4.2). An erster Stelle stehen Stückelbergs Tellskapellen-Fresken, die zur ikonischen Darstellung des Rütli-Schwurs wurden, wie ein Blick auf Postkartenbestände zeigt. Gerade das Verschicken von Postkarten, versehen mit einem ortsspezifischen Stempel, entsprach einer langjährigen Tradition. Damit stehen Abbildungen in touristischen Materialien in Zusammenhang, welche die Innerschweizer Tourismusbüros heute auslegen oder die im Untersuchungszeitraum dreidimensional inszeniert worden waren. Eine pädagogische Absicht ist den Rütlibroschüren eigen, von welchen die SGG im Verlauf des letzten Jahrhunderts vier Fassungen herausgab. Geschichtskultureller Abbildcharakter kommt wegen ihrer alltäglichen Präsenz auch Münzen, Banknoten, Briefmarken und Poststempel zu. Mit diesen Visualisierungen konnten staatliche Behörden für die alltägliche Präsenz von Motiven sorgen – ähnlich dem im Alltag zunehmend präsenten Fernsehen, dessen Rütli-Bilder im diachronen Längsschnitt analysiert werden. Das Beispiel einer kommerziellen Nutzung in Inserateform rundet die Analyse der Visualisierungen ab.
Zu diesen kollektiv produzierten und eingesetzten Narrativen zu Mythos und Denkmal tritt die nach Hettling dritte Komponente, jene des Festes resp. der symbolischen Praxis hinzu. Im Rahmen des vierten Kapitels werden jene Aspekte diskutiert, die sich ausschliesslich auf die kollektive Praxis beziehen. Dazu zählen erstens Frequenz, Umfang und Ausgestaltung der institutionalisierten Gedenkfeiern (Kapitel 4.3), das heisst der staatlich und von privater Seite organisierten Anlässe zum Gedenken an 1291 und an den Rütli-Rapport, sei es in Form grosser Jubiläen, sei es in Form jährlich stattfindender Veranstaltungen, die in ihrer Frequenz und Inszenierung untersucht werden. Eine Teilstudie erlaubt zudem qualitative und quantitative Aussagen zur massenmedialen Berichterstattung über diese Gedenkfeiern im Speziellen und, im Vergleich, zum Rütli allgemein. Kapitel 4.4 wiederum fächert die verschiedenen Kategorien von Gruppen auf, die das Rütli besuchen, und zeichnet die quantitative Entwicklung dieser Besuche nach. Als besondere Gruppenkategorie gelten die Schulklassen – vor allem wegen der oft zitierten Schulreisetradition –, deren quantitative Entwicklung sich anhand verschiedener Quellenbestände skizzieren lässt (Kapitel 4.5). Weitere Facetten der kollektiven Praxis werden in Kapitel 6 zusammen mit denjenigen der individuellen Praxis dargestellt. Diese zweigliedrige Strukturierung ergibt sich sowohl aus inhaltlichen als auch aus erkenntnispraktischen Überlegungen.
Die vielperspektivische Betrachtung des kollektiven Gebrauchs der Anlage wird ergänzt durch die detaillierte Analyse des individuellen Umgangs mit dem Denkmal. Auch sie folgt strukturell den vier Operationalisierungsdimensionen Hettlings. In einem ersten Schritt werden die individuellen geschichtlichen Vorstellungen heutiger Besucherinnen und Besucher besprochen, basierend auf den Kurzinterviews und dem Kurzfragebogen (Kapitel 5.1). Der zweite Schritt fokussiert darauf, wie die Besuchenden den Ort, also das Denkmal wahrnehmen, verbal-beschreibend oder fotografierend (Kapitel 5.2). Mit der Wahrnehmung des Denkmals hängt auch die Frage zusammen, wie sich die Besuchenden gegenüber dem Phänomen positionieren, dass auf dem Rütli kaum ein Denkmalkörper im engeren Sinn zu sehen ist.
Im sechsten Hauptkapitel werden gleichzeitig die individuelle und die kollektive Interaktion zwischen Besuchenden und Denkmal untersucht. So enthält das erste Unterkapitel 6.1 eine quantitative Schätzung der Besuchsfrequenz seit Beginn des 20. Jahrhunderts, begleitet von der Diskussion soziodemografischer und herkunftsspezifischer Merkmale – die Datenbasis umfasst sowohl den Einzel- als auch den Gruppenbesuch. Ein diachroner Längsschnitt und ein synchroner Querschnitt der Kapitel 6.2 und 6.3 zeigen anhand von Quellenmaterial, von Kurzinterviews und Beobachtungsnotizen, wie sich die Interaktion von Individual- und Kollektivbesuchenden mit dem Denkmal gestaltet. Diese Gesamtschau erfolgt aus erkenntnispraktischen Gründen und ist in der Hauptsache nach räumlichen Gesichtspunkten strukturiert. Dem handlungsorientierten Fokus folgen Überlegungen zu Besuchsmotiven, erneut aus diachroner und synchroner Perspektive, ermöglicht durch eine qualitativ-quantifizierende Analyse der Rütli-Gästebücher sowie durch die Kurzinterviews (Kapitel 6.4). Daran schliesst der Versuch an, neben Interaktion und Motivation auch Emotionen zu beschreiben, die ein Besuch des Denkmals zu evozieren vermag.
Kapitel 7 stellt den Gegenstand und seinen Gebrauch gegenüber. Die Ergebnisse der Teilstudien werden hier resümierend und integrierend zusammengeführt, verglichen, kontrastiert, verbunden und dann thesenartig verdichtet. Eine Reflexion des heterogenen Theorie- und Methodensettings beschliesst die Arbeit.