Читать книгу Wie wir töten, wie wir sterben (eBook) - Martin von Arndt - Страница 10

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Vor fünf Jahren waren Vanuzzi und Ödön mit brisanten Unterlagen für den MI6 aus dem brennenden Ungarn entkommen. Danach mussten sie sich eine neue Heimatbasis schaffen. Ödön war schon nach zwei Wochen krank vor Heimweh. Er hing Tag und Nacht vor dem Radio, las jede Zeitung, die ihm unter die Finger kam, immer in der Hoffnung, irgendwann doch gute Nachrichten aus Budapest zu finden. Vergeblich. Die Sowjets zertraten den revolutionären Widerstand im Land und zementierten ihre Herrschaft. Vanuzzi nahm Ödön das Radio weg und sorgte dafür, dass er keine Zeitungen mehr zu Gesicht bekam. Der junge Mann hatte immer mehr Gewicht verloren, drohte zugleich, apathisch zu werden. Dennoch drängte er darauf, in Österreich zu bleiben, wohin sie zunächst geflohen waren. Falls die Revolution in Ungarn eines Tages einen zweiten Anlauf nehmen würde, wäre Ödön schneller wieder in seinem Heimatland gewesen. Doch Vanuzzi hatte ihm klargemacht, dass Österreich, seiner Neutralität wegen, für Agenten uninteressant geworden war: »Wenn du Kühlschränke verkaufen willst, ziehst du auch nicht an den Nordpol!« Und da Ödön in ihm immer noch so etwas wie seinen »Ausbilder«, wahrscheinlich auch einen Ersatzvater sah, war er ihm 1957 widerwillig in die BRD gefolgt. Für Leute wie Vanuzzi der europäische Hotspot. Der MI6 hatte dafür gesorgt, dass sie problemlos Papiere bekommen hatten. Kurzzeitig hatte er darüber nachgedacht, nach Westberlin zu gehen … spätestens heute war er froh, sich dagegen entschieden zu haben. Es war keine drei Monate her, dass die DDR begonnen hatte, die Stadt mit einer Mauer, Sperranlagen und Todesstreifen abzuriegeln. Beinahe jeden Tag hörte Vanuzzi von Republikflüchtlingen, die erschossen worden waren, und am Checkpoint Charlie hatten sich schussbereite amerikanische und sowjetische Panzer gegenübergestanden. Westberlin war eine Insel geworden, vielleicht sogar eine tödliche Falle.

Monty Hanson, der 1957 frisch in Bonn akkreditiert war, hatte Vanuzzi damals vorgeschlagen, in seiner Nähe zu bleiben. Im großbürgerlichen Bonn hatten sich Vanuzzi und Ödön allerdings keine Wohnung leisten können, deshalb waren sie nach Köln ausgewichen und in einem Ledigenheim untergekommen. Hatten sich das Zimmer mit zwei weiteren Ungarn-Flüchtlingen geteilt. Das ganze Jahr über mussten sie ihre Lebensmittel in Zeitungen verpacken und auf den äußeren Fensterbänken lagern, weil es keine andere Möglichkeit gab, sie zu kühlen. »So viel zum Thema Kühlschränke verkaufen«, hatte Ödön gemurrt. Doch wenigstens hatte er wieder ein wenig Gewicht zugelegt.

Anfangs schien das Ledigenheim für Vanuzzi die perfekte Tarnung, auch wenn er alles, was nicht zu dieser Camouflage passte, in einem Bankschließfach verstecken musste. Nach zwei Jahren wurde er nachlässiger, begann, seine Waffe in seine Nachttischschublade zu legen und diese nicht immer abzuschließen. Als einer ihrer Zimmerkameraden offenbar auf der Suche nach Geld war, stieß er zufällig auf die Pistole. Am selben Abend nahm er Vanuzzi beiseite und sagte ihm, dass ein Ungar schweige wie ein Grab, aber nur, wenn man von Zeit zu Zeit ein paar Mark aufs Grab lege. Der verblüffte Vanuzzi ließ sich zunächst darauf ein, bis die Forderungen immer unverschämter wurden. Ödön, der einen Job als Schreinergehilfe in Köln gefunden hatte, blieb im Ledigenheim, und Vanuzzi, dem der MI6 eine winzige Wohnung beschafft hatte, packte seine Siebensachen und zog weiter. Seitdem lebte er in Essen, konnte in der Masse der italienischen Gastarbeiter untertauchen, ein Gesicht unter vielen in einer Stadt mit über siebenhunderttausend Einwohnern.

Die ihm manchmal, besonders an den Wochenenden, im Vergleich zu Chicago vorkam wie ein Dorf, das aus den Nähten geplatzt war. Und über dem stets der Geruch von faulen Eiern lag.

Vanuzzi hatte sich die Dossiers seiner Zielpersonen durchgelesen. Sie waren knapp gehalten. Beide wurden vom SDECE für ein Massaker in der Nähe des Ouarsenis-Gebirgsmassivs verantwortlich gemacht, bei dem mehr als dreihundert französische Soldaten bestialisch getötet worden waren. Ben Kemali hatte Englisch und Rechtswissenschaft studiert. Er war Anfang vierzig, hatte Frau und zwei Kinder. Djefel war zehn Jahre jünger, ohne eigene Familie. In Algerien schien er so etwas wie Ben Kemalis rechte Hand gewesen zu sein. Sie waren gebildet, hatten sich beim FLN schnell einen Namen gemacht und waren in der Hierarchie aufgestiegen. Seit Frankreich den Krieg in Algerien verschärfte, waren immer mehr hochrangige FLN-Leute festgenommen worden. Ben Kemali und Djefel schien die Flucht in letzter Minute gelungen zu sein. Immerhin hatte der SDECE die Stationen, die sie über Italien und die Schweiz genommen hatten, nachverfolgen können, bis sich in der BRD ihre Spuren verloren. Man ging davon aus, dass sie irgendwo in Nordrhein-Westfalen untergekommen waren, weil hier die algerische Gemeinschaft am größten war. Dennoch, das war immer noch viel zu wenig. Vanuzzi hatte nicht einen echten Anhaltspunkt. Und Monty hatte nur zu deutlich gemacht, dass er ihm nicht helfen würde. Also musste er damit beginnen, ganz kleine Brötchen zu backen.

Sein Boxclub lag im finsteren Hinterhof eines finsteren Viertels im finsteren Norden der Stadt. Es war bereits dunkel, als sich Vanuzzi dorthin aufmachte. An einem nahegelegenen Förderturm waren wie jeden Abend die Lichter angegangen, der Dampf der Kühlanlagen quoll in weißlichem Grau empor, bis er sich in der Schwärze des nächtlichen Himmels verlor.

Beim Betreten des Clubs schlug ihm der Geruch von alten Socken entgegen, von Kohl, Mäusekot und Männern, die einmal in der Woche baden. Vanuzzi atmete nur oberflächlich ein und aus.

Immerhin standen die Chancen gut, dass »Die Taube« heute trainierte. Die Taube war der mit Abstand beste Halbschwergewichtler aus ihren Reihen, auch wenn er den Sprung zur Professionalisierung nicht geschafft hatte und als Anfangsdreißiger auch nicht mehr schaffen würde. Trotz seiner Größe von fast eins achtzig war er Gedingehauer (was auch immer das sein mochte) auf Zeche Fritz-Heinrich. Vor allem aber stammte sein Vater aus Algerien.

Die Taube bearbeitete gerade den Sandsack. Vanuzzi trat näher, sah ihm dabei zu. Die Augenlider des Boxers waren entzündet, den Kohlestaub bekam er nie ganz aus ihnen heraus. Er ließ seine braunen Augen noch dunkler erscheinen. Schwarzhaarig, gutaussehend wie ein Filmstar, ein drahtiger Typ, der nahezu unendliche Kondition hatte. Eigentlich hieß er Alexander – die deutsche Mutter hatte sich bei der Namenswahl durchgesetzt. Doch weil er, wie viele, die unter Tage arbeiten, Tauben züchtete, nannten sie ihn hier nur: Die Taube.

Mit einer mächtigen rechten Geraden beendete er den Trainingsabschnitt, fing den Sandsack mit seinen Handschuhen ab und sagte: »Danny, schon gehört: guter Kampf in Hamburch.«

Vanuzzi winkte ab.

»Denkt, er hat mich nach zwei Runden am Boden. Riesenbaby mit Glaskinn.«

Die Taube lachte. Vanuzzi zeigte ihm das Foto der beiden Algerier.

»Schon mal gesehen?«

Die Taube blickte flüchtig auf das Bild.

»Freunde von dir?«

»Könnte man so sagen. Vor allem schulden sie mir Geld für mein Auto, die Beule repariert sich nicht von selbst.«

Die Taube nickte. Er begann, sich für die Arbeit am Punchingball vorzubereiten.

»Und dat Fotto hasse vor oder nachen Unfall gemacht?«

Statt einer Antwort grinste Vanuzzi.

»Nie gesehn, Danny.«

»Wo trifft sich dein alter Herr mit seinen Landsleuten?«

»In Köln. Am Hansaring gibbet ein Café. Irgendwat mit L … Lessner … Lessing … Lessmann! Der Pächter is von Tunesien.«

Vanuzzi steckte das Foto wieder ein und sah der Taube einen Moment bei den Speed-Bag-Punches zu. Dann machte er sich auf den Weg nach Köln.

Als er kurz nach zwanzig Uhr dort ankam, schloss das Café gerade. Die letzten Gäste standen in Grüppchen, unterhielten sich auf Arabisch. Vanuzzi beschloss, bei seiner Geschichte der Fahrerflucht zu bleiben, auch wenn es nicht allzu wahrscheinlich war, dass die Männer einen der Ihren in die Pfanne hauen würden. Immerhin würde er in ihren Augen sehen, wenn sie jemanden erkannten, dann könnte er sie sich anderswo in Ruhe vornehmen. Doch nachdem die Männer Vanuzzis Gruß freundlich erwidert hatten, verhärteten sich ihre Mienen, als er das Foto und seine Geschichte präsentierte. Die meisten sahen gar nicht hin, und die, die hinsahen, schüttelten die Köpfe. Innerhalb weniger Minuten strebten die Grüppchen auseinander, Vanuzzi stand unentschlossen – sollte er auf den Wirt warten? Aber vielleicht wohnte der im Haus, und er würde sich hier in der Kälte nur die Beine in den Leib stehen. Blöde Idee! Vanuzzi machte sich auf den Weg, dachte über das weitere Vorgehen nach. Wenn die Algerier schwiegen und die Franzosen und Briten ihm nicht weiterhelfen würden, musste er es wohl oder übel bei seinen ehemaligen Landsleuten versuchen.

Er hatte ein wenig straßab geparkt, musste die Ringstraße überqueren. Der Verkehr war überschaubar, und Vanuzzi ließ sich Zeit. Doch als er die Straßenmitte gerade erreicht hatte, hörte er einen Wagen beschleunigen. Er drehte sich dem Geräusch zu und sah, wie das Auto, das ohne Licht fuhr, direkt auf ihn zuhielt. Er trat einen Sprint an, ein Motor jaulte drohend, dann blitzte der Kühlergrill direkt neben ihm auf. Vanuzzi hechtete auf den Bürgersteig, der Wagen schlingerte, fing sich wieder und jagte in irrem Tempo in westlicher Richtung davon. Er hatte ihn nur um wenige Zentimeter verfehlt. Kennzeichen: Fehlanzeige, auch Automarke und Farbe hatte er nicht erkannt, geschweige denn den Fahrer.

Als das Adrenalin abzuflauen begann, richtete sich Vanuzzi mühsam auf. Seine Hüfte schmerzte, wahrscheinlich geprellt, Schürfwunden an den Händen, sonst war er unverletzt. Entweder machte in Köln ein geisteskrankes Arschloch Jagd auf Fußgänger – oder seine neuen algerischen Freunde mochten es überhaupt nicht, wenn jemand Fragen nach einem der Ihren stellte. Es war nicht viel mehr als eine Warnung. Wenn ihn das Auto wirklich erwischen hätte wollen, hätte er keine Chance gehabt!

Das Glas seiner Armbanduhr war gesplittert, aber das Uhrwerk war nach dem Hechtsprung nicht stehengeblieben. Sie zeigte 20.27 Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er es in einer halben Stunde schaffen. Vor 21.30 Uhr ging sein Mann nie heim, Vanuzzi wusste, dass der sicher sein wollte, dass die Kinder bereits im Bett waren, bevor er zu Hause ankam.

Vanuzzi lenkte den Wagen Richtung Autobahn, dann gab er Vollgas bis zum Bonner Verteilerkreuz. Es war 21.05 Uhr, als er an Schloss Deichmannsaue in Bad Godesberg ankam.

Wie wir töten, wie wir sterben (eBook)

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