Читать книгу Wie wir töten, wie wir sterben (eBook) - Martin von Arndt - Страница 12

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Er stand am Fenster, trank einen starken Kaffee. Ein Himmel wie aus Bleiguss: Grautöne, kaum unterscheidbar, ob Wolken, ob Hintergrund.

Das Telefon hatte ihn geweckt, van Doren hatte bei ihm anrufen lassen, nun sollte Vanuzzi in Bonn antanzen. Es war früher Nachmittag, ganz und gar nicht seine Uhrzeit. Er warf zwei Kopfschmerztabletten zum Kaffee ein, verzichtete aufs Duschen und fuhr los.

Nachdem er sich beim Zerberus an der Pforte gemeldet hatte, ließ man ihn geschlagene zehn Minuten im Regen stehen. Dann kam Mo Mahmoudi angelaufen, der sich seine Uniformjacke über den Kopf hielt, und drückte Vanuzzi ein großes Kuvert in die Hand.

»Mister van Doren schickt Ihnen das mit einer Empfehlung.«

Vanuzzi öffnete den Umschlag, zog eine zusammengefaltete Kölner Zeitung heraus. Am Titel sah er, dass sie mehrere Wochen alt war.

»Was soll ich damit? Sonst hat er nichts gesagt?«

»Nichts, Sir. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Sir?«

Vanuzzi zuckte mit den Schultern, Mahmoudi hüpfte in langen Schritten, mit denen er die Pfützen umschiffte, zum Haus zurück.

Vanuzzi ging zu seinem Wagen und entfaltete die Zeitung. Son of a bitch! Das sah van Doren ähnlich: Jemandem helfen, ohne ihm wirklich zu helfen. Wahrscheinlich eines dieser Spielchen, die sie in Harvard trieben, ein Intelligenztest, und er war der Hamster … nein: die Laborratte.

Er hatte die Zeitung überflogen. Van Doren hatte tatsächlich nichts angestrichen oder anderweitig markiert. Vanuzzi warf das Blatt auf den Beifahrersitz und zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte hastig, gegen den Ärger an, der sich in seinem Magen breit machte.

Sein Blick fiel wieder auf die Zeitung. Er stutzte, nahm sie auf. Jetzt erst bemerkte er, dass die Seiten 3 bis 6 fehlten. Ja, die Ausgabe bestand überhaupt nur aus zwei Zeitungsbüchern. Das grenzte die Suche immerhin ein wenig ein. Titelseite – uninteressant, im ersten Buch würde er nichts finden, das diente nur dazu, Aufschluss über das Datum zu geben, sonst hätte van Doren das andere Buch nicht beigelegt, sondern es ebenfalls einfach weggelassen. Es musste um einen Artikel im zweiten Buch gehen, doch das waren entweder langweilige lokale Wirtschaftsthemen oder die Ergebnisse der Trabrennbahnen.

Dann aber, beim nochmaligen Überfliegen: ein Foto. Im Vordergrund der Geschäftsführer einer Konservenbüchsenfabrik, die überwältigend gute Umsätze getätigt hatte. Im Hintergrund Arbeiter in Blaumann und Schiebermütze, die nach Schichtende aus der Fabrik strömen. Ein Malocher streift so knapp an seinem Boss vorbei, dass sein Gesicht über der Schulter des Geschäftsführers gut erkennbar ist. Vom Blitzlicht überrascht, blickt er direkt in die Kamera … Muttermale in der Form eines liegenden Dreiecks auf der Stirn … kein Zweifel: Es war Saïd Djefel!

Die feuerroten Haare des jungen Mannes standen in alle Richtungen ab, sie hätten einen frischen Schnitt gebrauchen können. Vor ein paar Tagen war Ödön zweiundzwanzig Jahre alt geworden. Sommersprossig, schmächtig, kaum größer als eins fünfundsechzig, wirkte er eher wie ein Schuljunge, der buchstäblich auf gepackten Koffern saß und seine Eltern erwartete. Er hatte nicht nur seinen Job verloren, sondern auch das Zimmer im Ledigenheim. Es war ein Teufelskreis: ohne Einkommen keine Unterkunft, ohne Unterkunft kein Einkommen. Auch wenn seine eigene Bude viel zu klein war, hatte Vanuzzi Ödön angeboten, für den Übergang bei ihm unterzukommen. Erst als Vanuzzi ins Ledigenheim kam und den jungen Mann sah, der ihm in der Lobby traurig entgegenblickte, fiel es ihm wieder ein: Natürlich, er hätte ihn schon vor zwei Stunden abholen sollen.

»Sorry, kleine Planänderung«, sagte Vanuzzi und ging in die Offensive.

Ödön seufzte und schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht noch mal eine Nacht hierbleiben, die haben mir schon eine Woche gestundet …«

»Nein, du kommst natürlich mit. Nur haben wir vorher noch eine Kleinigkeit zu erledigen.«

Kaum hatte Vanuzzi Djefel in der Zeitung identifiziert, hatte er sich auf den Weg zur Konservenbüchsenfabrik gemacht. Er kannte die Gegend aus seiner Kölner Zeit, sein damaliger Boxclub lag ganz in der Nähe. Vanuzzi war einen Moment unschlüssig, ob er den Pförtner auf Sélestats Foto von Djefel und Ben Kemali oder auf die Zeitung ansprechen sollte. Da er den Algerier nicht alarmieren wollte, schien ihm der Bericht unverdächtiger. Doch als er den Pförtner sah, war ihm sofort klar, dass der, gut geschmiert, ein phänomenales Gedächtnis hätte und sich für nichts weiter interessieren würde als den Zehner, den Vanuzzi ihm mitsamt der Zeitung unter dem Schalter durchschieben würde. Und Vanuzzi behielt recht: Djefel nenne sich Bertini, erzählte der Pförtner, und sei pünktlich zur Spätschicht an diesem Wochenende gekommen. Sie würde um zwanzig Uhr enden. Vanuzzi hatte seine Vorbereitungen getroffen und hatte Ödön abgeholt. Er war ihm stets ein unerlässlicher Helfer gewesen – nicht nur als Sekundant bei den Boxkämpfen. Mit ihm würde er Djefel in die Enge treiben, und anschließend würde Ödön den Algerier auf der Rückfahrt nach Essen bewachen.

Auf dem Weg zur Fabrik erklärte Vanuzzi Ödön in groben Zügen seinen Auftrag und den Plan. Der junge Mann nickte und schwieg. Euphorie sah anders aus.

»Das ist unsere Chance, aus dem Dreck zu kommen, Ödön! Denk dran, was wir mit dem Geld alles anstellen können.«

Ödön sah aus dem Seitenfenster. Wahrscheinlich noch immer beleidigt, weil er ihn hatte warten lassen. Nicht zu ändern!, dachte Vanuzzi und steckte sich eine Zigarette an. Er nahm einen tiefen Zug, der in den Lungen brannte und nach Asche schmeckte. Dann warf er die Zigarette halb geraucht aus dem Seitenfenster.

Der Mond hatte sich hinter eine kompakte Wolkenwand verkrochen. Es nebelte, im gelblichen Schein der Straßenlaternen tanzten kleine Schneeflocken, die vom Wind verwirbelt wurden.

Es war 20.10 Uhr. Unter den ersten Arbeitern, welche die Fabrik verlassen hatten, war Djefel nicht gewesen.

Vanuzzi hatte das Auto in einer Seitenstraße abgestellt und sich und Ödön gegenüber dem Fabriktor postiert. Er rauchte hastig, um seine Nervosität zu betäuben. Hoffte, dass Djefel nicht in unmittelbarer Nähe der Fabrik wohnte. Dann hätten sie mehr Zeit, zuzuschlagen. Und weniger Zeugen.

Als der Algerier zwanzig Minuten nach Schichtende noch immer nicht da war, zog Vanuzzi los, sich an der Pforte nach Djefel zu erkundigen. Neuer Pförtner, neues Risiko. Im selben Moment sah er einen Mann im Gespräch mit einem zweiten aus dem Tor treten – er hatte ein liegendes Dreieck aus Muttermalen auf der Stirn. Djefel trug einen Knebelbart, der ihn älter aussehen ließ. Vanuzzi gab Ödön ein Zeichen, und sie folgten den beiden Arbeitern in kurzer Distanz.

Der zweite Mann war definitiv nicht Ben Kemali, dafür war er zwanzig Jahre zu alt. Und noch etwas gab Vanuzzi zu denken: Er hatte nicht damit gerechnet, dass Djefel einen Bekannten haben würde – das zum Thema »keine Zeugen«. Er musste darauf vertrauen, dass sie nicht zusammenwohnten, also würden sie sich früher oder später trennen, Vanuzzi musste nur geduldig sein. Doch schon zweihundert Meter weiter sah Vanuzzi entsetzt, wie Djefels Begleiter auf ein Auto zuhielt und die Fahrertür öffnete. Dann aber hob Djefel die Hand zum Gruß, ging geradeaus weiter, und das Auto fuhr ohne ihn an.

Der Algerier schlenderte allein weiter in der Richtung von Vanuzzis ehemaligem Boxclub. Mit der Gegend war dieser bestens vertraut: Ein paar Hundert Meter weiter kam eine Unterführung. Vanuzzi gab Ödön Instruktionen, Djefel zu folgen, und schlug sich seitab, um vor dem Algerier die andere Seite der Unterführung zu erreichen. Er sprintete über eine verkehrsreiche Straße, rutschte eine Böschung hinab und sah den Eingang. Die Unterführung war schwach beleuchtet, doch konnte Vanuzzi zwei Männer erkennen, die sich näherten. Porca Madonna!, Ödön hielt viel zu wenig Abstand, hoffentlich spannte Djefel nicht, dass ihm jemand seit der Fabrik folgte. Doch der Algerier ging still seines Wegs, einen Henkelmann in der Hand. Als er etwa in der Mitte der Unterführung angekommen war, machte sich Vanuzzi auf, Djefel entgegenzutreten. Sie waren noch zwanzig Meter voneinander entfernt, als Ödöns Schuhe knirschend über Kies rutschten. Der Algerier blieb abrupt stehen, drehte sich um, dann wieder zu Vanuzzi hin. Mit blitzschneller Reaktion rannte Djefel auf Ödön zu, der vergessen hatte, seine Waffe zu ziehen, und schlug dem jungen Mann seinen Henkelmann ins Gesicht. Ödön taumelte, fiel aber nicht zu Boden. Im Vorüberrennen sah Vanuzzi, dass Ödön in Ordnung schien, und forderte ihn auf, zu folgen. Djefel hatte Mühe zu laufen, schien erst jetzt zu bemerken, dass er noch immer den Henkelmann in der Hand hielt und warf ihn weg. Vanuzzi holte auf, doch dann sah er, dass der Algerier auf eine Mauer sprang und sich nach oben hangelte, bevor Vanuzzi nach seinen Beinen greifen konnte. Er hörte etwas reißen, einen Schmerzenslaut, dann ein Aufplumpsen auf der anderen Seite. Nachdem er selbst auf die Mauer geklettert war, sah Vanuzzi, dass sie zu einem Haus gehörte und von drei Seiten ein kleines Gartengrundstück einfasste. Kein Durchlass zur gegenüberliegenden Straße. Vanuzzi schickte den leicht aus der Nase blutenden Ödön um das Haus herum zum Vordereingang, falls es dem Algerier gelingen sollte, ins Haus zu kommen. Er selbst sprang in den Garten und schaltete seine Taschenlampe an. Sie funzelte, er hätte die Batterien prüfen sollen, bevor er damit losgezogen war. Immerhin konnte er sehen, dass Blutflecke auf dem Gras waren. Djefel musste sich beim Klettern verletzt haben, nach rechts oder links über die angrenzenden Mauern würde er so jedenfalls nicht mehr kommen. Häschen in der Grube.

Aber eines, das sich gut versteckt hatte!

Es waren knapp dreißig Meter bis zum Haus. Ein Mietshaus, mindestens drei Stockwerke. Rechts vor sich sah Vanuzzi dichtes Buschwerk. Er zog seine Pistole, setzte die Taschenlampe darauf ab und hielt langsam auf das Gebüsch zu. Das Licht der Lampe ging immer wieder aus, damit die Batterien wieder Kontakt bekamen, musste er sie schütteln. Er hatte sich bis auf wenige Meter den Sträuchern genähert, als das Licht komplett erlosch. Dann hörte er ein Rascheln neben sich. Vanuzzi fuhr herum, fühlte eine Bewegung an seinem rechten Fuß und setzte zu einem Tritt an – als er plötzlich hörte, wie eine Katze schreiend das Weite suchte.

Im nächsten Moment ertönte ein Knarren, und ein Lichtschein erhellte ein Stück Rasen links vor Vanuzzi. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich eine Gestalt an einer zweiten vorbeidrückte und ins Innere des Hauses huschte. Eine Männerstimme fluchte.

Dass gerade jetzt jemand in den Garten kommen musste! Vanuzzi rannte seinerseits den Hausbewohner über den Haufen und schlug die Tür hinter sich zu. Sie führte wenigstens nicht in einen Keller, in dem sich Djefel hätte verstecken können, sondern über einige Stufen nach oben, ins eigentliche Treppenhaus. Das Hauslicht ging aus, Vanuzzi hörte Schritte auf den Stiegen über sich. Unregelmäßig. Der Algerier zog hörbar ein Bein nach. Vanuzzi tastete sich die Treppe hinauf und fand einen Lichtschalter. Wenige Meter vor ihm war die Haustür. Er ging darauf zu, öffnete sie und sah, wie Ödön zum Schlag ausholte.

»Hast du ihn gesehen?«

»Ja. Aber er hat mir direkt die Tür vor der Nase zugeknallt.«

»Gut. Er kommt nicht mehr weit.«

»Er könnte klingeln.«

»Wer lässt jemand um die Uhrzeit rein?«

»Wenn er um Hilfe bittet?«

»Ein Illegaler? Riskiert, dass die Polizei ihn findet …?«

Ödön, der sich ein Taschentuch in ein Nasenloch gesteckt hatte, nickte. Dann sagte er: »Solange er uns nicht davonfliegt …«

Vanuzzi riss die Augen auf, instinktiv drückte er Ödön seine Pistole in die Hand und rannte die Stiegen hinauf.

Scheiße …! Scheißescheißescheißescheiße.

Als er auf dem Treppenabsatz zum zweiten Stock angekommen war, hörte er einen lauten, dumpfen Schlag. Vanuzzi blieb abrupt stehen, drehte sich um, starrte in Ödöns Gesicht, das Panik verriet.

Als Vanuzzi aus dem Haus trat, standen bereits mehrere Menschen um Djefels Leib. Der lag auf der Seite, die Glieder verrenkt, Blut breitete sich kreisförmig um den Schädel aus.

»Krankenwagen, schnell!«, rief eine Stimme.

»Is hier ne Telefonzelle?«

»Im Haus wird ja wohl einer Telefon ham.«

»So wie dat hier aussieht?«

»Komm, mach!«

Vanuzzi atmete ein, dann sagte er mit tiefer Stimme: »Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!«

Wie wir töten, wie wir sterben (eBook)

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