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Spätherbst 1961

Im Alter von sechs Jahren zwang ihn sein Vater dazu, Bleiche zu trinken. Nicht so viel, dass er sich die Speiseröhre dauerhaft verätzt hätte – gerade genug, dass er zwei Tage lang Bauchkrämpfe hatte und sich so oft übergab, bis er Sternchen sah, sogar als er aufgehört hatte, sich zu übergeben.

Vielleicht hatte ihn sein Vater davon abhalten wollen, zum Säufer zu werden wie alle anderen Männer in der Familie. Oder er wollte, dass seine Kinder niemandem blindes Vertrauen entgegenbrachten, nicht mal dem eigenen Vater. Oder, und das war am wahrscheinlichsten, er hatte rein gar nichts damit bezweckt, weil der Vater ständig Blödsinn mit seinen Jungs trieb, wenn die Mutter kein Auge auf sie hatte.

Jetzt fühlte sich seine Magengrube wieder so an, als hätte man ihm Bleiche eingeflößt. Die Attacke war unerwartet, der Schlag hatte ihn mit einer Geschwindigkeit und Härte getroffen, wie er sie nie zuvor erlebt hatte. Es war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen, alles Blut schien sich aus seinen Beinen zurückzuziehen. Er krümmte sich, würgte, taumelte rückwärts. Er sah, wie der Angreifer abermals auf ihn zustürmte, er musste zwei, drei Schritte zur Seite tun, sonst würde ihn der andere endgültig fertigmachen. Er wich im Krebsgang aus, ihm war unbeschreiblich schlecht, es hörte gar nicht mehr auf. Der Angreifer fokussierte ihn, Entschlossenheit in den Augen. Oder Blutgier.

Er atmete dreimal durch, so tief es ging. Seine Beine hatten die bleierne Schwere verloren, der andere würde es jetzt nicht mehr so leicht haben, ihn zu überrumpeln. Dann traf ihn ein Schlag auf das rechte Ohr. Es blitzte in ihm auf, als ob etwas in seinem Hirn geplatzt wäre, und er ging zu Boden. Schwärze breitete sich von der Brust bis zu den Haarspitzen über seinen Kopf, er hörte seinen eigenen rasselnden Atem, spürte das Herz bis in die Schläfen klopfen. Unter ihm war eine Lache aus Schweiß, die ihn am Boden festzukleben schien. Er hörte die Stimme seines Angreifers, aber er verstand die Worte nicht, sie kamen aus weiter Ferne, waren von einem überlauten Echo verzerrt oder langten rückwärts bei ihm an.

Dann merkte er, dass es nicht sein Angreifer war, der sprach.

»Drei – vier …«

Sein Kopf strebte nach oben, er machte den Nacken lang, aber seine Arme und Beine hatten vergessen, dass sie sich am Aufstehen beteiligen mussten, und er wusste ums Verrecken nicht, wie er ihnen klarmachen sollte –

»Fünf …« Er rollte sich auf die Seite, sein Oberkörper klebte nun nicht mehr am Boden und er konnte ihn aufrichten. »Sechs …«

Er stellte ein Bein auf, dann das andere, drückte sich mit aller Kraft in die Vertikale. Die Worte waren verstummt, dafür hörte er jetzt das Geschrei der Halle. Ein hundertstimmiger Chor begann etwas zu skandieren, das nach »Auf–die–Knie–auf–die–Knie« klang.

Er brachte die Fäuste mühsam vors Gesicht, sie hielten Schläge ab, die eher spielerisch kamen. Endlich ertönte der Gong.

Auf dem Weg in seine Ecke musste er sich mühevoll ausbalancieren, ließ sich auf das Polster fallen, spürte, wie ihm der Sekundant Blut aus dem Gesicht wischte und Wasser in den Mund spritzte. Er war unendlich dankbar für die Flüssigkeit, auch wenn er das meiste wieder ausspuckte.

In der kleinen Halle in Hamburg saßen die Zuschauer gedrängt. Es roch nach zu vielen erregten Menschen, zusammengepfercht auf zu engem Raum. Blaue Rauchfäden aus Zigaretten vermischten sich mit dem dicken grauen Qualm der Zigarren und zogen in Schwaden zum Ring hinauf. In den ersten drei Reihen Typen mit gemusterten Sakkos und bunten Hemden, die bis zum Bauchnabel aufgeknöpft waren. Alles Milieu, dachte er, Luden, die ihre Goldketten und Goldzähne spazieren führten. Dahinter erkannte er Kleinbürger in schäbigen blauen oder grauen Anzügen. Das zurückgekämmte Haar strotzte vor Brillantine, die das Deckenlicht reflektierte. Dazwischen junge Männer in Matrosenanzügen, die bei jedem Schwinger mitgingen und fast von den Stühlen fielen. Die meisten waren besoffen, sie gingen erst zu den Boxkämpfen und versumpften dann auf der Reeperbahn, bis ihr Landurlaub vorbei war.

Sein Sekundant musste etwas zu ihm gesagt haben, aber er hatte nicht darauf geachtet. Er stellte sich vor, er wäre jetzt da unten, inmitten dieser Männermeute, in einem Dunst aus Bier und Schweinebraten, aus Schweiß, Tabak und ungewaschenen Klamotten. Und er ließ den Gedanken an sich vorüberziehen, was all diese mittelalten Überlebenskünstler da unten vor zwanzig Jahren gemacht hatten – ob sie in Polen und Russland jüdische Frauen und Kinder in die von ihnen selbst ausgehobenen Gräben geschossen hatten. Es war nicht gut, darüber nachzudenken. Schluck deinen Stolz runter, er macht dich nicht satt, hatte sein Vater immer gesagt. Also schluckte Vanuzzi seinen Stolz runter und begann, sich in der für die Pause verbleibenden Zeit den bisherigen Kampf zu vergegenwärtigen.

Sein Gegner war ein verdammter Rechtsausleger. Vanuzzi hatte schnell begriffen, dass der gewohnt war, gegen Linksausleger gut auszusehen. Mit jeder im Uhrzeigersinn ausgeführten Bewegung drohte Vanuzzi, in die Schlaghand des Deutschen zu laufen. Mehrmals hatte der Southpaw ihm schon linke Haken verpasst, die gesessen, ihn aber nicht ausgeknockt hatten. Aber da Vanuzzis rechte Augenbraue aufgeplatzt und das Auge darunter angeschwollen war, hatte er Mühe, die Schlaghand des anderen rechtzeitig zu sehen. Vor einer Minute wäre das beinahe schiefgegangen.

Im Infight war Vanuzzi dem Deutschen überlegen, doch seine Uppercuts hatten bislang keinen Erfolg erzielt. Mittlerweile hielt ihn der Kerl auf größerer Distanz – Kunststück!, er war fast zehn Zentimeter größer als Vanuzzi, ein Hüne von zwei Metern Körperlänge.

Es war nicht sein erster Kampf in den letzten Monaten – aber der erste, dessen Ausgang tatsächlich offen war. Bei den anderen hatte ihm irgendeiner dieser schmierigen Typen wenige Stunden vorher gesagt: »Du gehst runter, Ami, aber nicht vor Runde vier, kapiert?«

8–9–2. Acht Siege, neun Niederlagen, zwei Unentschieden. Seine Bilanz musste ausgeglichen sein, sonst wäre mit den Wetten auf ihn kein Geld zu verdienen gewesen. Mit seinem italienisch klingenden Namen hätte er hier gar nicht erst aufzutauchen brauchen, also hatte er sich einen echten Ami-Namen verpasst: Ted Jackson. Das Publikum, das vermutlich aus Leuten bestand, die immer noch an die Überlegenheit der arischen Rasse glaubten, wollte sehen, wie sein teutonischer Held den verdammten Besatzer vermöbelte. Doch das passierte nur hin und wieder, wenn die mit der Brillantine im Haar ihre Wetten im Vorfeld entsprechend platziert hatten.

Beinahe fünfzig Minuten ging dieser Kampf bereits – lange genug für Vanuzzi, um den Southpaw zu studieren. Und als eine Handbewegung des Ringrichters die beiden Kontrahenten wieder in die Mitte rief, glaubte er, endlich die Lücke in der Verteidigung des Deutschen gefunden zu haben. Ödön, Vanuzzis Sekundant, klatschte ihm zweimal aufmunternd mit den Handflächen auf die Trapezmuskeln. Sofort begannen die Boxer, einander zu belauern, tauschten einige harmlose Jabs aus. Der Deutsche, der zuvor so siegessicher gewesen war, schien durch die Pause aus dem Rhythmus gekommen zu sein. Seine Schläge wurden langsamer, verrieten sich durch eine vorangehende Bewegung in der Schultermuskulatur.

Es war Zeit!

Zwei, drei weitere Jabs, dann setzte Vanuzzi einen Cross, der den Deutschen schwanken und direkt in seinen Powerpunch rennen ließ, einen rechten Haken. Sein Gegner ging auf die Bretter, der Ringrichter schickte Vanuzzi in die neutrale Ecke. Der Deutsche versuchte, sich wieder zu fangen, krabbelte im Kreis, während der Ringrichter zählte und das Publikum johlte, buhte und pfiff. Dann war es vorbei. Vanuzzi spürte, wie eine Hand nach seinem verschwitzten rechten Arm griff, abglitt, noch einmal fester zugriff, um ihn in die Höhe zu befördern. Er stand da, den Arm gereckt, pumpte unentwegt und schaute mit so verengtem Blickwinkel Richtung Publikum, dass er den Ringrichter an seiner Seite kaum erkannte.

Vanuzzi drehte eine Ehrenrunde, trollte sich dann zu seinem Sekundanten. Die beiden verließen den Ring und strebten dem Umkleideraum zu. In weniger als fünf Minuten würde der nächste Kampf beginnen.

Die Umkleide der Boxhalle war eine ehemalige Waschküche. Sie roch nach Schimmel, der die Wände in abstrakten Mustern bedeckte, nach Chlor und Urin. Kaum einer der Boxer ging zum Pinkeln vor die Tür, sie benutzten einfach die beiden Waschbecken, in denen sich nachfolgende Kämpfer ihre Gesichter wuschen. Der Harngeruch ging nicht mehr weg, so viel Lauge sie auch in die Leitungen kippten.

Vanuzzi ließ sich auf eine wacklige Holzbank fallen, die unter seinem Gewicht ächzte. Sein getrübter Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand, auf eine Ankündigung aus dem vergangenen Jahr. Eine englische Musikgruppe namens The Beatles trat allabendlich in einem Stripclub auf der Großen Freiheit auf. Es klang nicht nach Jazz, und so verlor Vanuzzi umgehend das Interesse.

Ödön zog ihm schweigend die Handschuhe ab und versorgte seine Wunden. Der junge Mann ließ sich immer wieder zu diesen Freundschaftsdiensten überreden. »Wer soll mich sonst nach den Kämpfen zurückbringen? Mit verklebten Augen kann ich nicht Auto fahren«, erklärte Vanuzzi jedes Mal, und Ödön gab jedes Mal nach, obwohl er das Boxen verachtete. Vanuzzi konnte es ihm nicht verdenken. Er selbst hatte für diese Gladiatorenkämpfe in der Hamburger und Kölner Unterwelt nichts übrig. Aber er brauchte das Geld. Es war zuletzt eine mehr oder weniger sichere Einkommensquelle gewesen. Die einzige.

Vanuzzi hustete, winzige Tröpfchen Blut landeten auf seinen nackten Oberschenkeln.

Dann ging die Tür auf, und ein Mann trat ein, den er hier noch nie gesehen hatte. Anfang vierzig, gelocktes hellbraunes Haar, Bartschatten, der Mund ein Strich.

»Zutritt nur für Boxer und Betreuer«, schnauzte Ödön.

Der Mann reagierte nicht, trat direkt vor Vanuzzi hin und sagte: »Wohin sind die Wildgänse gezogen?«

Vanuzzi betrachtete ihn skeptisch. Teures Jackett, bis obenhin geschlossenes Hemd und Krawatte – der gehörte eindeutig nicht zur Klientel hier. Außerdem stimmte etwas an seinem Deutsch nicht.

»Die Wildgänse sind nicht gezogen. Sie sind hier und dort und überall.«

»Eine Sekunde nach der Geburt, eine Sekunde vor dem Tod.«

Vanuzzi nickte, schickte Ödön mit einem Blick aus dem Raum und warf sich ein Unterhemd über. Er hasste es, mit bloßem Oberkörper Verhandlungen führen zu müssen.

Der Mann zog eine Packung filterlose Gauloises Caporal und hielt Vanuzzi eine hin.

»Lungentorpedo. Aber Sie können das ab.«

Er gab Vanuzzi Feuer, steckte sich selbst eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.

»Also?«, fragte Vanuzzi.

»Nennen Sie mich Sélestat.«

»Nennen Sie mich Jackson.«

Sélestat lachte.

»Sie glauben, dass ich das mit den beschissenen Wildgänsen weiß und dann nicht mal Ihren wirklichen Namen kenne, Vanuzzi?«

Sie maßen einander.

»Gruß von Monty. Aber das dürfte klar sein, oder?«

»Was haben Sie für mich, Sélestat?«

»Sie sind ein Kämpfer, Vanuzzi. Aber sind Sie auch ein Jäger?«

»Kommt auf das Wild an.«

»Zwei kriminelle Elemente, die großen Schaden angerichtet haben und noch größeren Schaden anrichten werden, wenn man sie lässt. Es wäre gut, wenn jemand sie für uns findet und stellt. Nicht, weil wir es selbst nicht könnten … aber es gäbe – gewisse Verwicklungen, wenn wir es tun, und die müssen wir vermeiden.«

»Wer ist ›wir‹?«

»Erst die Antwort, dann die Details.«

»Antwort gibt’s erst, wenn ich weiß, für wen ich arbeite.«

»Sie können hier«, Sélestat führte die Arme weit auseinander und beschrieb einen Kreis, »als mittelmäßiger Boxer weitertingeln oder für uns arbeiten. Ihre Entscheidung.«

Vanuzzi fixierte den anderen.

»Wir zahlen allerdings besser als die hier.«

Sélestat hatte das starke französische Kraut hastig aufgeraucht und schnipste den Zigarettenstummel in ein Waschbecken.

»Natürlich müssen Sie sich erst einmal bei Ihrem Case Officer rückversichern, ob alles seine Richtigkeit hat. Ich bitte sogar darum, Vanuzzi.«

»Wie kann ich Sie kontaktieren?«

»Gar nicht. Wir treffen uns übermorgen, wenn Sie wieder bei Kräften sind. Dreiundzwanzig Uhr. Merken Sie sich den Ort, der in diesem Brief steht. Da finden Sie auch die Summe, die wir für Sie springen lassen. Ich bin überzeugt, dass dies Ihre Entscheidung beschleunigt.«

Er drückte Vanuzzi einen Umschlag in die Hand und wandte sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um und sagte: »Übrigens: Sie sollten mehr auf Ihre Deckung achten. Ist Ihre große Schwäche, Vanuzzi!«

Er sah, wie der andere aus der Tür verschwand. Dann fanden seine Augen wieder das Plakat aus dem letzten Jahr. The Beatles. Was für ein dämlicher Name! Damit würden es die Jungs nie zu etwas bringen.

Wie wir töten, wie wir sterben (eBook)

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