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Es war Wochen her, seit er zuletzt die Sonne gesehen hatte. Was nicht nur an Vanuzzis verschobenem Tag-Nacht-Rhythmus lag. Rauch und Industrienebel breiteten sich so dicht über und in den Straßen von Essen aus, dass man kaum dreißig Meter weit sehen konnte. Angeblich hatte der Smog seit Herbstbeginn schon zwanzig Menschen getötet. Wo er wohnte, schien alles zu kulminieren: Wenn die Kokerei, die nur wenige Straßen weiter lag, Koks drückte, hüllten riesige Rauchschwaden das Haus ein. Von Chicago war er so einiges gewöhnt, aber das hatte ihn doch nicht auf das Leben im Ruhrgebiet vorbereitet.

Sélestat hatte einen Treffpunkt in Köln gewählt. Im piefigen katholischen Bonn wäre um dreiundzwanzig Uhr wahrscheinlich auch nichts mehr offen gewesen. Chez René, der Name ließ auf nichts Gutes schließen. Von außen sah er verrammelt aus, zwei kleine Fenster an der Vorderfront waren so abgeklebt, dass man nicht hineinsehen konnte. Vanuzzi rechnete mit einem Gorilla als Einlasskontrolle. Er atmete vorsorglich tief durch, um nicht gleich zu explodieren; er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, von Männern betatscht zu werden. Doch zu seiner Überraschung betrat er den Laden ohne Musterung.

Nikotinschwaden und Musik. Vanuzzi erreichte eine Plattform oberhalb einer kleinen Treppe, die ins eigentliche Lokal führte. Es war schwach beleuchtet und gut gefüllt, vorwiegend Männer in Anzug und Krawatte, wahrscheinlich Geschäftsleute, die für ein paar Stunden vergessen wollten, dass sie seit zwanzig Jahren verheiratet waren. Rechts befand sich eine kleine Bühne, auf der sich eine junge Frau in Schulmädchenuniform mit einem Teddybär in der Hand zu rauchigen Saxophonklängen bewegte. Vanuzzi verdrehte die Augen. Wahnsinnig originell! Früher oder später landete man bei jedem Fall in einem Nachtclub und wurde vom Barmann oder den Mädchen ausgenommen. Er hatte nur zehn Mark bei sich, sein letztes Geld, dafür bekam man hier vermutlich gerade mal ein Glas Leitungswasser. Ohne Eis.

Vanuzzi suchte von seiner erhöhten Position das Publikum nach einem bekannten Gesicht ab, fand keines, ging die Treppe hinab und sah noch einmal in jede Nische. Er schlenderte zum Tresen. Der Barmann, kräftig, mit Schnurrbart und mehr als einmal gebrochener Nase, musterte ihn von oben bis unten mit abschätzigem Blick.

»Was darf’s sein?«

»Ich warte auf jemanden.«

»Sie müssen etwas bestellen.«

»Ich warte auf jemanden.«

»Sie müssen –«

»Kölsch.«

»Gibt’s hier nicht.«

»Irgendein Bier. Klein. Hell.«

Der Barmann griff nach einem Gläschen und drehte sich zum Zapfhahn. Vanuzzi sah zur Bühne hinüber. Das Mädchen war beim letzten Knopf ihrer Bluse angekommen. In dem Tempo würde es wahrscheinlich zwei Stunden dauern, bis sie endlich nackt abtreten konnte.

Das Bier war eiskalt. Vanuzzi nahm lediglich einen winzigen Schluck, doch er genügte, das Gesöff um die Hälfte zu verringern. Als er sich wieder zur Treppe umdrehte, sah er den Franzosen auf der Plattform, neben ihm einen zweiten Mann. Er war größer als Sélestat, ein paar Jahre älter, der Kopf schien direkt in den Oberkörper überzugehen, Halbglatze, hervorstehende Augenwülste, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Da kommt der Pudel mit seinem Rottweiler, dachte Vanuzzi.

Sélestat hatte ihn gesehen, trat direkt auf ihn zu.

»Vanuzzi! Was macht Ihre Deckung?«

»Monty grüßt zurück.«

»Dann freue ich mich, Sie in unserem Team begrüßen zu dürfen. Obwohl Sie eher Einzelgänger sind. – Das ist mein Mitarbeiter, sein Name ist Faucon.«

»Faucon. Aber natürlich.«

Wo in Frankreich lag dieses Kaff nun wieder?

»Monsieur Faucon spricht ein wenig Deutsch, er war nach dem Krieg hier stationiert … er kann uns verstehen, wenn wir langsam schwetze.«

Schwetze? Vanuzzi sprach die deutsche Sprache jetzt schon so lange, er hatte längst begonnen, in ihr zu denken, in ihr zu träumen, Selbstgespräche in ihr zu führen. Und doch überraschte sie ihn immer wieder.

Sélestat machte Zeichen, ihm zu folgen. Er steuerte eine kleine, etwas abseits vom Geschehen befindliche Nische an, die gerade frei geworden war. Der Franzose bestellte Rotwein, Vanuzzi knurrte, dass er sich als eingeladen betrachte. Faucons Augenschlitze wurden schmaler, doch Sélestat lachte.

»Naturellement.«

»Erzählen Sie!«

»Gleich zur Sache, das ist gut. – Was wissen Sie über Algerien, Vanuzzi?«

»Nur, dass ihr Franzosen da seit sieben Jahren Krieg führt.«

Sélestat sah ihn mit kritischem Blick an.

»Das ist kein Krieg! Ein Krieg kann nur zwischen souveränen Staaten geführt werden. Algerien ist seit vielen Jahren fester Bestandteil des französischen Mutterlands. Genau wie die Bretagne.«

»Allerdings treten euch die Bretonen nicht in die Eier.«

»Weil die Bretonen zivilisiert sind im Gegensatz zu den Arabern. Wir haben es lange mit Vernunft probiert. Der Entwicklungsschub, den Algerien durch unsere Kolonisierung bekommen hat, ist superb. Wir haben ihnen Recht und Ordnung, Bildung und Kultur gebracht, und alles, was wir dafür bekommen, ist Terror und Gewalt.«

»Na, ein bisschen wird es sich für euch gelohnt haben, sonst wärt ihr längst raus.«

»Mir gefällt dein Gequatsche nicht, Vanizzi!«, dröhnte Faucons Bassstimme dazwischen.

»Der Name ist ›Vanuzzi‹. Und für das Gequatsche kann ich nichts. Ich bin aus Chicago, da redet man so.«

Er sah, wie Sélestat dem Rottweiler einen herrischen Blick zusandte, dann sprach der Pudel weiter.

»Jedenfalls haben auch die Sozialisten vor einiger Zeit verstanden, dass unsere zivilisatorische Mission scheitern wird, wenn wir den algerischen Terrorismus nicht mit Stumpf und Stiel ausrotten. Also musste die Armee ins Land. Sie setzt die Polizeiarbeit fort – mit den Methoden, die der FLN versteht.«

»Und was für Methoden sind das?«

»Informationsgewinnung. Aktionen und Strategien des FLN vorwegnehmen.«

»Folter.«

»Unsere Leute foltern nur, wenn Eile geboten ist. Wenn ein Anschlag droht, wenn ein Menschenleben gegen zwanzig zählt. Wenn wir uns weigern, einen Schuldigen zu foltern und dadurch den Tod eines Unschuldigen verhindern – wie sollen wir den Eltern des Getöteten in die Augen schauen?! – Sie waren im Krieg, Vanuzzi, wenn Ihre Jungs auf SS-Leute getroffen sind, haben Sie sie auch nicht zum Kaffee eingeladen.«

»Kaffee war meist aus.«

»Mir gefällt auch deine Visage nicht, Vanizzi!«

Diesmal reagierte auch Sélestat genervt.

»Wenn Sie das nicht verstehen«, sagte Sélestat in schärferem Ton, »dann verstehen Sie hoffentlich die Worte Ihres ehemaligen Präsidenten Theodore Roosevelt: Kolonialkonflikte sind immer unbarmherzige Rassenkriege, die außerhalb der Regeln der internationalen Moral stehen. Die völkerrechtlichen Vereinbarungen zur Kriegsführung besitzen keine Gültigkeit, weil der Gegner als unzivilisierter Barbar die Regeln der zivilisierten Kriegsführung gar nicht kapiert

»Good old Teddy! Ist allerdings ein bisschen her, dass er das sagte.«

»Ich stamme aus dem Elsass. Als es 1871 an die Deutschen ging, hat sich ein Teil meiner Familie in Algerien ein neues Leben aufgebaut. Sie haben das Land rechtmäßig erworben, sie haben geschuftet und die Gegend urbar gemacht. Für die Araber war es Wüste, aber heute, wo es gutes Land ist, wollen sie es zurückhaben … ich war oft zu Besuch, ich kenne die Verhältnisse. Glauben Sie mir, Vanuzzi: Die Araber sind nichts als eine dreckige Rasse! Unser Fehler war von Anfang an, dass wir sie wie Menschen behandelt haben. Sie taugen nichts. Du kannst ihnen nicht vertrauen. Sie widersetzen sich jeglichem sozialen Fortschritt. Und wenn wir ihnen etwas beibringen, dient es nur dazu, uns übers Ohr zu hauen.«

Vanuzzi verbiss sich einen Kommentar. Obwohl ihm die Worte bekannt vorkamen – als Jude hatte er sie mehr als einmal gehört, nur waren immer er und seine Glaubensbrüder damit gemeint gewesen.

Sélestat kippte den letzten Schluck Rotwein, der sich in seinem Glas befand, schenkte sich und den anderen nach und sagte dann: »Vielleicht haben Sie davon gehört, dass de Gaulle kürzlich über ein Referendum zur Unabhängigkeit Algeriens abstimmen ließ. Meine Familie da unten fühlt sich von ihm verraten und verkauft. Und ich kann sie verstehen. Weil wir den Sieg schon vor Augen hatten.«

»Ist das so?«

»Wenn de Gaulle den Terroristen nicht permanent Zugeständnisse gemacht hätte, wäre Algerien längst befriedet. Noch ist es nicht zu spät. Auf keinen Fall dürfen wir das Land herschenken, wie wir Indochina hergeschenkt haben, sonst wären all die jungen Soldaten dort sinnlos gefallen. – Aber es geht dabei nicht nur um Frankreich.«

»Sondern?«

»Um den Einfluss der Kommunisten in der Region. Wenn Algerien dem FLN in die Hände fällt, wird ganz Nordafrika kommunistisch. Wenn Nordafrika kommunistisch ist, nehmen die Sowjets Europa von zwei Seiten in die Zange. Nasser, der Staatspräsident von Ägypten, ist schon Moskaus Schoßhündchen. Er heizt den Konflikt in Algerien an. Unsere Jungs führen einen Krieg für die ganze freie Welt!«

»Ich dachte, es ist gar kein Krieg.«

»Eigentlich gefällt mir an dir gar nichts, Vanizzi.«

»Mach Männchen!«

»Was hast du gesagt?«

Faucon war hochgeschnellt, sah Vanuzzi drohend an. Trotz ihrer Randposition im Raum hatten sich einige Köpfe zu ihnen umgedreht.

»Wollt ihr beiden vielleicht mal vor die Tür?«

Sélestat sah abwechselnd von Vanuzzi zu Faucon. Der zischte ein paar französische Worte zwischen den Zähnen, zog seinen Mantel über und verließ den Club.

»Sie sollten vorsichtig sein, Vanuzzi. Faucon ist ein besserer Kämpfer als Sie. Im Krieg hat er deutschen Soldaten mit bloßer Hand den Garaus gemacht.«

»Schon gut, Sélestat, wir haben alle unsere Heldengeschichten aus dem Krieg. Zu den Fakten: Um wen geht es?«

Sélestat zog ein maschinengeschriebenes Blatt und ein Foto hervor, auf dem zwei Männer in Sonntagsgarderobe posierten. Der Ältere mit Vollbart, gut aussehender Südländer mit melancholischem Blick, der Jüngere mit eng stehenden Augen, kleiner Nase, auf der Stirn ein liegendes Dreieck aus Muttermalen.

»Das sind die beiden: Youssef Ben Kemali und Saïd Djefel. Schon mal gehört?«

»Nein, woher denn?«

»Würden Sie etwas mehr als den Sportteil in der Zeitung lesen, wären Ihnen die Namen ein Begriff.«

»Mehr als den Sportteil, muss ich mir aufschreiben. – Warum sind sie in der BRD untergetaucht?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das wissen müssen.«

»Ich bin mir sehr sicher, dass ich das wissen muss.«

»Also gut. Seit drei Jahren ist Charles de Gaulle Ministerpräsident. Für die meisten Franzosen ist er ein Kriegsheld. Er hat den Arabern Honig ums Maul geschmiert, daraufhin sind viele von ihnen in sein Lager abgewandert, weil sie dem FLN nicht mehr zugetraut haben, das Land in die Unabhängigkeit zu führen. Der FLN musste reagieren, also hat er Algerien für unabhängig erklärt.«

»Algerien ist unabhängig?«

»Wäre ja noch schöner! Außer Ägypten und ein paar anderen arabischen Staaten hat niemand diese Farce anerkannt. Aber um das Ganze offiziell zu machen, hat der FLN ein Schattenkabinett präsentiert, künftige Regierungsleute, Männer in Anzügen. Um der Welt zu signalisieren, dass man keine Verbrecherbande ist.«

»Djefel und Ben Kemali waren Teil des Schattenkabinetts.«

»Nur Ben Kemali. Djefel ist sein Mitarbeiter.«

»Um zu erfahren, was diese Regierung plant, würden Sie sie gern mal in die Mangel nehmen, klar. Aber was machen die in der BRD?«

»Sind hier abgetaucht. Weil sie, wie alle von der ALN, Kriegsverbrecher sind, und Deutschland selten ausliefert.«

Als er Vanuzzis fragenden Blick sah, schob Sélestat hinterher: »Armée de libération nationale, der bewaffnete Arm des FLN. Wissen Sie, was die mit gefangenen französischen Soldaten machen? Sie stechen ihnen die Augen aus. Wenn sie ihre Messer nicht schmutzig machen wollen, nehmen sie Schraubenzieher. Dann schlagen sie die Hände ab. Am Ende ziehen sie ihnen die Axt über den Schädel und lassen die Leichen liegen, als Abschreckung für andere.«

»Ich verstehe.«

»Tun Sie das, Vanuzzi? Tun Sie das wirklich …? Ich habe im letzten Krieg manches gesehen: die Nazis in Dünkirchen, die Ruinen von Oradour … aber so etwas habe ich nicht erlebt. Denken Sie an die Worte Ihres Präsidenten: Unzivilisierte Barbaren kapieren –«

»Weshalb ich? Mit dem SDECE hatte ich noch nie zu tun.«

»Wir brauchen jemanden, der nicht direkt mit uns in Verbindung gebracht werden kann. Unsere Leute haben in der BRD schon einmal viel Wind gemacht, das ist noch nicht lange her. Diesmal will man im Élysée-Palast keine Demarche der westdeutschen Regierung riskieren. Die Beziehungen unserer Länder sind zarte Pflänzchen … außerdem könnten uns die Deutschen bei den Amis verpetzen, weil wir alliierte Statuten verletzen.«

»Ich arbeite auf eigene Rechnung, also deutet nichts Richtung Paris, okay. Aber warum muss ich Ben Kemali und Djefel in Frankreich übergeben, und nicht hier?«

»Weil wir dann sagen können, dass wir sie bei uns geschnappt haben. In Frankreich liegen Haftbefehle gegen sie vor.«

Vanuzzi grinste. Auch wenn er Sélestat etwas suspekt und Faucon zum Kotzen fand, hatte die Sache begonnen, sein Jagdfieber zu wecken. »Wo soll ich ansetzen?«

»Was ich Ihnen gegeben habe, ist alles, was Sie von uns erwarten können.«

»Das ist nicht besonders viel. Die BRD ist zwar nicht groß, aber groß genug, um …«

»Muss ich Ihnen Ihre Arbeit erklären? Oder habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Die Crémerie weiß von nichts. Wir haben uns nie gesehen, wir haben nie miteinander gesprochen. Das ist Ihr Job, Vanuzzi. Machen Sie was Schönes draus!« Sélestat stand auf, legte einen Zettel über die Vorgehensweise zur Kontaktaufnahme, einen Briefumschlag mit einer Anzahlung und einen Hundertmarkschein für die Bedienung auf den Tisch. Dann ging er ohne zu grüßen zum Ausgang.

Vanuzzi überschlug Sélestats Geld, tauschte den Hunderter gegen einen Fünfziger aus dem Umschlag und bezahlte. Als er einen letzten Blick zur Bühne warf, war dort gerade ein neues Mädchen damit beschäftigt, sich umständlich ihres Mieders zu entledigen.

Vanuzzi trat hinaus in die Nacht und atmete die Luft tief ein. Sie roch nach Chrysanthemen, verbranntem Holz und frischem Teer.

Wie wir töten, wie wir sterben (eBook)

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