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Burg Stein, Nassau

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Kaum war die Sonne über der bewaldeten Anhöhe aufgetaucht, erwärmte sich die Luft. Kein Wölkchen ließ sich blicken, um die Menschen für einen Augenblick von der Hitze zu erlösen.

Lorentz von Marbach brachte am Ufer der Lahn sein Pferd zum Stehen und betrachtete das Tal. Ihm gegenüber auf der anderen Flussseite am Fuß des Berges, lag das von einem schützenden Wall eingeschlossene Dorf Nassau. Die alte Fernstraße verlief über eine einfache Holzbrücke durch das Lahntal Richtung Rhein. Für diesen Monat war es ein ungewöhnlich heißer Tag gewesen. Mit dem Abend kam endlich die kühle Erlösung.

Der Stammsitz der Nassauer thronte hoch oben auf dem Berg. Auf halber Strecke zur Anhöhe, am nördlichen Hang, wo der Mühlbach in die Lahn mündete, erhob sich Burg Stein. Lorentz ahnte, woher sie ihren Namen hatte, denn das Gemäuer schien förmlich aus dem Felsen zu wachsen. Der helle Putz leuchtete im Sonnenlicht. Dort lebte ein Gefolgsmann der Nassauer, Gerald von Stein. Jeder, der zum Grafen hinaufwollte, musste zuerst an dieser Vorburg vorbei. Zwischen einsamen, kargen Büschen, hinter denen sich kein Angreifer verstecken konnte, führte der Weg hinauf. Türme und Erker zierten die Vorburg, auf dessen höchstem Turm die Flagge mit dem Wappen der Familie von Stein flatterte. Eine rote Rose mit blauem Butzen, in Gold gehalten.

Der mächtige Bau auf dem Gipfel dagegen war beeindruckend. Innerhalb des Mauerrings stand der bewohnte Bergfried, in eindrucksvoller Größe, von dessen Spitze das Wappen winkte. In der nördlichen Ecke der Wehrmauer stand der weißgetünchte Palas, in dem sich der große Versammlungsraum befand.

Durch den staufischen Kaiser gestärkt, reichte die Herrschaft des Nassauer Grafen weit über die Lahn und den Rhein hinaus. Heinrich II. hatte über den Sturm auf seine kleine Stadt am Rhein hinweggesehen und trotzte weiterhin dem Papst und seinem persönlichen Erzfeind Siegfried III.. Ein Feind, den Lorentz zwar nicht fürchtete, dem er aber respektvoll aus dem Weg ging.

Lorentz hatte vor Kurzem Roberta und deren ehemalige Kinderfrau Hermine nach Wiesbaden gebracht, dann war er nach Nassau aufgebrochen, um dort ein Versteck zu finden. Als ehemaliger Knappe wurde ihm der Schutz gewährt. Seit seinem Eintreffen auf Burg Stein fühlte sich Lorentz nutzlos und lungerte oft bei den Stallungen herum. Er hatte sich von den Verletzungen, die er im Kampf um Sunneck davongetragen hatte, noch nicht ganz erholt. Martin und Linus, die ihm treu gefolgt waren, hatten sich in Geralds Dienste gestellt. Erst hatten sie Lorentz die Treue schwören wollen, aber außer seinem Rittertitel war ihm nichts geblieben. Nicht einmal einen Knappen konnte er sich leisten.

Für Lorentz gab es nirgendwo einen Platz. Er war sich sicher, dass der Erzbischof von Mainz nach ihm suchen ließ. Während des Überfalls auf Wiesbaden hatte Lorentz dessen Befehle missachtet, sich ihm sogar später noch einmal widersetzt und Burg Sunneck angegriffen. Reue erfüllte ihn noch immer nicht. Er hatte Rache nehmen und seine Verlobte befreien wollen. Beides war ihm nicht zufriedenstellend gelungen.

Die Sonne im Gesicht beobachtete er seine Kameraden, die den Weg hinunterkamen. Gerald von Stein wie auch Walram, der Sohn des Grafen von Nassau, befürchteten weitere Übergriffe auf ihre Ländereien und schickten regelmäßig Dienstmannen los, um nach dem Rechten zu sehen.

Heinrich II. blieb an der Seite des jungen Königs Konrad IV., zu dem er während der langwierigen politischen Auseinandersetzungen zurückgekehrt war. Seine ehemaligen Verbündeten hatten darin einen Verrat gesehen. Das war auch der Grund, warum der Erzbischof von Mainz mit seinen Brüdern, den Grafen von Eppstein, die Stadt Wiesbaden überfallen hatte.

Wenn Siegfried schon bei einem mächtigen Mann wie dem Grafen von Nassau zu solchen Mitteln griff, was würde er tun, wenn er seinen einstigen Herold in die Finger bekam?

Lorentz hatte mit Walram, einem Sohn von Heinrich II. ein ernstes Gespräch geführt. Er wollte den Nassauern seine Dienste anbieten. Der Grafensohn befürchtete einen Bruch zwischen ihnen und Eppstein, sollte Lorentz sich dem Hause Nassau anschließen. Walram wollte unbedingt einen weiteren Zusammenstoß vermeiden. Solange Lorentz vom Erzbischof gesucht wurde, blieb es bei dem Wunsch ein Vasall des Grafen zu werden.

Lorentz atmete tief durch und trieb sein Pferd an.

Kurz nach seiner Ankunft in Nassau hatte er seinen zerrissenen Waffenrock abgelegt. Seitdem trug er die schlichte Kleidung eines Bauern. Er hatte mit Linus und Martin ein beengtes Quartier auf Burg Stein bezogen und hielt sich seitdem unauffällig im Hintergrund. Den ganzen Tag untätig zu sein, würde ihn bald in den Wahnsinn treiben.

Lorentz erreichte den Burghof und zügelte sein Pferd.

Gerald von Stein trat aus dem Palais, erblickte Lorentz und ging auf ihn zu. »Eurem Gesicht ist anzusehen, dass Ihr Euch langweilt.«

»Ich bin es nicht gewohnt, den ganzen Tag herumzusitzen und nichts zu tun.«

Gerald von Stein grinste. Sein leicht ergrautes Haar stand im Gegensatz zu seiner Kraft, die er mit seinen Worten wie auch mit seinen Bewegungen ausstrahlte. Sein Ruf aufbrausend zu sein, eilte ihm voraus. Ihn von einem Feldzug gegen Mechtheim abzuhalten, hatte Lorentz große Mühe gekostet. Er wollte Jonata nicht in Gefahr bringen. Diese Mechtheimer waren zu allem fähig und würden nicht zögern, ihr etwas anzutun.

»Für einen ehemaligen Herold muss es die Hölle sein«, stellte Gerald fest.

»Der Palast des Erzbischofs von Mainz wäre jetzt für mich die Hölle. Deshalb nehme ich gerne Nichtstun in Kauf.«

»Über Siegfried wird erzählt, dass er Vergehen niemals vergisst«, sagte Gerald.

Der Erzbischof verfolgte seine eigenen Pläne, und wer sich nicht daranhielt oder sie gar durchkreuzte, hatte nichts mehr zu lachen.

Gerald fuhr mit einer Hand über seinen Bart. »Ich verstehe immer noch nicht, warum Eure Verlobte mit diesem Raubritter gegangen ist.«

Das verstand er selbst nicht. Jeder Gedanke daran zerriss ihn ein Stück mehr. Wie ein Narr hatte er dagestanden und ansehen müssen, wie sie zwischen seinen Feinden fortgegangen war. Es hatte ihn in den Fingern gejuckt, ihre Bitte zu missachten.

»Eure Verlobte ist ein einfältiges Ding«, schimpfte Gerald. »Sie ist dem Untergang geweiht, seitdem sie den Mechtheimern in die Hände fiel.«

»Jonata ist nicht mehr meine Verlobte«, erwiderte Lorentz. Seine eigenen Worte machten ihn noch verdrossener. Es auszusprechen, machte es noch endgültiger.

»Holt sie Euch zurück«, riet ihm der Ritter. »Kein Weib sollte einen Mann so verhöhnen.«

»Ulrich war ihr Gemahl und …« Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Er verteidigte ihre Entscheidung und ihr Verhalten, dabei sah er es genauso wie Gerald. Den nächsten Satz auszusprechen, kostete ihn Überwindung. »Sie trägt sein Kind unter ihrem Herzen.«

Die Nachricht darüber hatte ihn so bestürzt, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Für ihn war es schon schlimm genug, dass Ulrich sie zu seiner Frau genommen hatte. Dass sie jetzt auch noch seine Brut in sich trug, war für ihn schier unfassbar.

Gerald sah ihn überrascht an. »So. Das wusste ich nicht. Ulrich hat also einen Nachkommen.« Er wandte sich ab und ließ Lorentz mit seinen düsteren Gedanken allein.

Wie oft überlegte er, was er hätte anders machen oder sagen können, um Jonata von ihrem Vorhaben abzubringen. Welche Worte wären nötig gewesen, damit sie Vernunft annahm, statt ihn zurückzulassen und mit den Feinden zu gehen? Oder waren es weniger Worte, die er hätte nutzen sollen, sondern eher Taten? Hätte er sie daran erinnern sollen, was einmal zwischen ihnen war? Er wäre für sie gestorben. Er hatte alles für sie geopfert. Und Jonata? Sie hatte nichts Besseres zu tun, als sich an den Hals des nächsten Teufels zu werfen. Bis heute wollte er nicht wahrhaben, dass sie etwas für diesen Simon empfand. Immer wieder redete er sich ein, dass etwas anderes dahintersteckte. Doch es änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihn abgewiesen hatte. Damit hatte sie ihn zutiefst gedemütigt und gekränkt.

Würde Jonata heute vor ihm stehen, er würde sie beschimpfen, sie anschreien und ihr Vorhaltungen machen. Und dann würde er sie in die Arme nehmen, sie küssen und ihr verzeihen.

Das Erbe von Sunneck. Band 2

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