Читать книгу Das Erbe von Sunneck. Band 2 - Martina Frey - Страница 7
Burg Stein, Nassau, Ende September 1242
ОглавлениеLorentz stand in der Kammer, die er seit seiner Ankunft im Sommer mit seinen beiden Kameraden bezogen hatte. Sie war spärlich eingerichtet. Das einfache Holzgestell war mit Riemen bespannt, auf denen ein dünnes, mit Wolle gefülltes Unterbett lag, das Lorentz jeden Morgen Rückenschmerzen garantierte. Auf dem Schemel an der winzigen Fensteröffnung lag ein Messer zur Rasur. Die Wände waren nicht verputzt und die Spinnweben in den düsteren Ecken machten den Raum nicht heimeliger.
Gerald von Stein hatte ihm und seinen beiden Begleitern Linus und Martin Unterschlupf gewährt. Eine großzügige Geste, die Lorentz nicht vergessen würde. Wochen der Untätigkeit waren vergangen. Sobald er daran dachte oder sich in seiner Unterkunft umsah, verschlechterte sich seine Laune.
Einst hatte er in einem Herrenhaus am Rande von Mainz gelebt. Die Räume mochten nicht prunkvoll eingerichtet gewesen sein, dennoch waren sie mit persönlichen Schätzen ausgestattet und entsprachen seinen Ansprüchen. Seit der Flucht aus Mainz hatte Lorentz seinen ganzen Besitz zurücklassen müssen. Nun hauste er in dieser schäbigen Kammer, die er mit fünf Schritten durchmessen konnte. Im Sommer war die Hitze erträglich gewesen. Jetzt zog der kalte Herbstwind durch die schmale Fensteröffnung.
Früher hatte er sich vorgestellt, wie reich der Erzbischof ihn für seine Treue belohnen würde. Ein Stück fruchtbares Land, das Lorentz bestellen konnte, reichlich Gesinde, das für Ordnung sorgte und Jonata, die den Haushalt führte und sich um die Horde von Kindern kümmerte.
Das waren Träume gewesen. Lorentz‘ Blick fiel auf das einfache Lager. Das war ihm von seinem glorreichen Leben geblieben.
Besonnen gürtete er sich das Schwert um. Oft genug musste er an das denken, was vor Wochen auf Sunneck geschehen war. Die Erinnerungen waren noch so frisch, dass es ihm schwerfiel es einfach zu vergessen.
Er atmete tief durch und verließ die Kammer. Jetzt war keine Zeit, in Selbstmitleid zu vergehen. Walram hatte nach ihm rufen lassen.
Lorentz eilte den Berg hinauf, durch das Tor, bis er vor dem hell verputzten Palais stehen blieb. Ehe er eintrat, entdeckte er eine Sänfte an den Stallungen. Es war Besuch angekommen.
Neben der Eingangstür stand eine Wache, die Lorentz zunickte, als dieser vorbeiging und die Stufen, hinauf zum Rittersaal sprang. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, trat er ein.
Walram war wie vermutet nicht allein. Eine Frau stand mit ihm in der Nähe eines gedeckten Tisches.
Er und Lorentz kannten sich, seitdem Lorentz hier als Knappe gedient hatte. Trotz seiner 22 Jahre wirkte er wesentlich älter, mit dem kurzen Bart und dem melancholischen Blick.
»Ah, Lorentz«, rief der Grafensohn erfreut aus und winkte ihn zu sich. »Da bist du ja. Sie wollte dich unbedingt sehen.«
Die Frau drehte sich um.
Lorentz blieb wie angewurzelt stehen, als er Elisabeth von Braubach erkannte.
»Seid gegrüßt, Ritter Lorentz«, sagte sie. Ihr Gesicht strahlte.
Lorentz wusste nie, ob Elisabeth wirklich schüchtern war oder sie absichtlich diese Verletzlichkeit vermittelte, um Vertrauen zu gewinnen. Sie war mit dem Feind verheiratet worden und hatte damit eine lange Fehde zwischen den beiden Familien beendet.
Obwohl sie kaum älter als Jonata ist, sieht sie immer noch um vieles jünger aus, stellte Lorentz fest. Ihren Liebreiz hatte sie trotz ihrer Ehe mit Gerhard von Braubach nicht verloren. Ein Mann, der Lorentz gefährlich werden konnte, denn einer seiner Brüder war Siegfried, Erzbischof von Mainz. Lorentz war zur Vermählung von Elisabeth und Gerhard eingeladen gewesen. Eine wichtige Verbindung für die beiden Familien. Seitdem herrschte Frieden zwischen den mächtigen Häusern im Taunus. Bis vor Kurzem. Da war es zu Zwistigkeiten gekommen, nachdem Heinrich von Nassau während einer Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser die Seiten gewechselt hatte.
Sein Magen zog sich zusammen, während Lorentz nähertrat und Elisabeth anlächelte. Unwillkürlich dachte er an den Angriff auf Wiesbaden und fragte sich, ob Elisabeth von all dem wusste und Gerhard auch hier war. Hatte der Erzbischof erfahren, dass sich Lorentz in Nassau aufhielt?
Sein Blick fiel auf Walram.
»Sei beruhig, Lorentz«, sagte dieser sofort, als könnte er seine Gedanken lesen. »Ich wollte gar nichts von dir sagen, aber meine Schwester begann von Jonata zu erzählen. Sie macht sich Sorgen um sie. Da kam ich nicht umhin ihr von dir zu berichten. Immerhin weißt du, was aus Jonata geworden ist.«
Sein Magen zog sich erneut zusammen. So viele Wochen hatte er sich hier unerkannt verbergen können. Mit dem Besuch dieser Frau hätte das Versteckspiel jetzt ein Ende. Lorentz zweifelte nicht daran, dass der Erzbischof von seinem Aufenthaltsort erfahren würde.
»Ich bin so froh, dass Ihr wohlauf seid«, sagte Elisabeth freundlich. »Ich musste oft an Jonata und ihr Schicksal denken.«
»Ihr seid sehr gütig.« Lorentz blieb argwöhnisch. »Ihr seid alleine nach Nassau gekommen?«
»Gerhard ist nicht hier. Ihr müsst nicht befürchten, dass ich Euch an meinen Gemahl verrate, Ritter Lorentz.« Sie sagte es, als könnte auch sie die Gedanken an seinem Gesicht ablesen. War er so einfach zu durchschauen? »Ich wollte unbedingt meinen Bruder besuchen. Ich habe mich nach Nassau gesehnt. Nur deshalb bin ich hier.«
Obwohl ihre Worte aufrichtig klangen, blieb Lorentz misstrauisch.
»Ihr habt die Befehle meines Schwagers missachtet und Jonata aus den Klauen von Ulrich von Mechtheim befreit«, fuhr Elisabeth fort. »Ich weiß, dass der Erzbischof nach Euch suchen lässt, Ritter Lorentz. Ich hörte meinen Gemahl und dessen Bruder Gottfried darüber reden.«
Das konnte er sich gut vorstellen. Der Erzbischof hatte seine beiden Brüder in Braubach und Eppstein sicherlich angewiesen, Lorentz zu finden.
»Was mit Wiesbaden passiert ist, hat mich bestürzt und Euer Schicksal ebenso. Jonata hat mir die Augen geöffnet und mir erzählt, was vorgeht. Mein Gemahl hat es vor mir geheim gehalten, um mich nicht aufzuregen, wie er es nannte.« Mit einem Mal war ihre gute Laune fort. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Ich habe ihm nicht verziehen, dass er mir den Plan der Eppsteiner verschwieg. Ganz gleich, was mein Gemahl also von mir erwartet, ich werde ihm nichts von Euch erzählen.«
Ihr Versprechen beruhigte ihn nicht sonderlich. Wenn sich die Eppsteiner Brüder über ihn unterhielten, konnte das für ihn gefährlich werden. Ihr Einfluss reichte weit. Sobald sie Jagd auf Lorentz machten, fände er keinen ruhigen Ort mehr, selbst im Nassauer Land nicht. Natürlich war ihm klar, dass er nicht lange unentdeckt bleiben würde. Früher oder später müsste er sich seinem Schicksal stellen.
»Selbst wenn sie von Lorentz erfahren, werden die Eppsteiner es nicht wagen, hierherzukommen«, versicherte Walram nun.
Seine Anwesenheit könnte einen weiteren Konflikt zwischen den Eppsteinern und Nassauern auslösen. Er bezweifelte aber, dass der Erzbischof einen offiziellen Weg einschlug, um Lorentz einzufangen. Er und seine Brüder hatten genug Handlanger, die im Verborgenen arbeiteten.
Walram blieb gelassen. Ihn schien der mögliche Ärger nicht zu stören, denn er lachte schalkhaft. »Wir haben schon andere Probleme gelöst. Das werden wir auch überstehen. Sobald du dich mit dem Erzbischof geeinigt hast, wird mein Vater dich mit offenen Armen, als seinen Vasallen aufnehmen.«
Das Problem mit dem Erzbischof zu lösen, bedeutete zweifellos Lorentz‘ Tod. Eine Einigung mit diesem Kirchenmann käme einem Wunder gleich, dennoch widersprach er Walram nicht.
»Es ist furchtbar, was Jonata und ihre Schwester durchmachen mussten«, sagte Elisabeth nun und setzte sich an die gedeckte Tafel.
»Woher kennt Ihr Jonata?« Lorentz war verwundert und fragte sich, wann sich die beiden begegnet waren.
»Wir haben uns in Eppstein kennengelernt. Simon von Mechtheim brachte sie mit. Mein Gemahl behauptete damals, sie sei ein Gast, aber ich hatte da so meine Zweifel. Simon von Mechtheim ließ sie nicht aus den Augen. Ich bewunderte Jonata von Anfang an. Sie war so willensstark und bot jedem die Stirn.« Bei dieser Erinnerung lächelte Elisabeth. »So etwas wird bei einer Frau nicht gern gesehen, nicht wahr, Lorentz?«
Er hatte sie für diese Eigenschaften umso mehr geliebt. »Es war manchmal recht anstrengend.«
»Sie floh damals aus Eppstein. Seitdem frage ich mich, was aus ihr geworden ist. Mein Gemahl erzählte mir nichts mehr darüber. Ich hörte nur noch, dass Wiesbaden überfallen wurde.«
Lorentz versteifte sich. Von Jonatas Ausflug nach Eppstein wusste er nichts. Woher auch? Auf Sunneck war keine Zeit gewesen, mit Jonata allein zu sprechen und sie zu fragen, was sie alles erlebt hatte. Statt ihm die Gelegenheit zu geben, sich für seine späte Hilfe zu entschuldigen, hatte sie ihm harte Worte an den Kopf geworfen und war mit diesem verdammten Raubritter davongezogen.
Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Dann dachte er über Elisabeths Worte nach. »Sie floh aus Eppstein?«
»Oh ja. Ich habe noch nie eine so mutige Frau getroffen wie Jonata.« Sie lächelte bewundernd. »Nachdem sie hörte, was mein Schwager in Mainz plante, wollte sie nach Sonnenberg, um den Burgvogt zu warnen.«
»Wie ist es denn einer Frau gelungen, aus Eppstein zu fliehen?«, fragte jetzt Walram verblüfft.
Das Gesicht seiner Schwester wurde von einem tiefen Rot überzogen. Er bekam keine Antwort.
Lorentz hob eine Hand an sein Kinn und konnte nicht fassen, was er hörte. Jonata war keine Gefangene auf Sunneck mehr gewesen. Ihr war die Flucht vor Ulrich gelungen. »Sie war frei?« Warum war sie dann dort, als er die Burg gestürmt hatte? Sie hätte zu ihrer Tante gehen und dort auf ihn warten können, statt freiwillig in ihr Gefängnis zurückzukehren. Warum war sie wieder nach Sunneck gegangen? Die Befürchtung, Jonata sei aus Liebe zu Simon zurück, zermalmte sein Herz.
»Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich hörte, dass Wiesbaden zerstört wurde«, hörte er Elisabeth sagen. »Jonata war dort und ich befürchtete, sie sei tot. Erst jetzt habe ich erfahren, dass sie am Leben ist. Ich bin so froh.«
Er fasste sich an den Kopf und atmete die Luft hörbar aus. Es war für ihn kaum vorstellbar, dass sie in dieses Kampfgetümmel geraten war. Vielleicht ganz in seiner Nähe und er hatte es nicht bemerkt. Es war riskant von ihr gewesen, diesen Weg allein zurückzulegen, aber es passte zu Jonata und ihrem Eigensinn. Erst vor Kurzem hatte er erfahren, dass vor dem Angriff auf Burg Sonnenberg ein Feuer entzündet worden war, um den Vogt in Wiesbaden zu warnen. Nun wusste Lorentz, wer die Nachricht nach Sonnenberg gebracht hatte.
»Sie hat viel verloren. Ihren Vater, ihr Heim, alles, was ihr lieb und teuer war«, fuhr Elisabeth betrübt fort. »Sie tut mir unendlich leid. Sagt mir, wo ist sie jetzt? Ist sie wohlauf?«
Erst, nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, antwortete Lorentz: »Als ich sie das letzte Mal sah, ging es ihr gut.«
Zwischen dem Feuer und den herabstürzenden Mauerteilen von Sunneck. Dort hatte Lorentz jeden Mechtheimer spüren lassen wollen, wie sehr er sie verachtete. Er hatte sie für ihre Verbrechen bestrafen wollen.
Wie es ihr jetzt ging, wusste er nicht. Seine eigene Stimme hörte er wie aus weiter Ferne: »Jonata ist in Mechtheim.« Er war der Gehörnte. Der Dummkopf, der alles riskiert hatte, um die Frau, die er liebte, zu befreien. Statt ihm dankbar zu sein, war sie mit dem Feind gegangen. Der sicher nicht mehr am Leben war, fügte er in Gedanken hinzu. Die Verletzungen des Raubritters waren zu schwer gewesen. Selbst Jonatas heilende Hände konnten nicht ändern, was Gott für dieses Monster bestimmt hatte. Sollte Simon von Mechtheim doch überlebt haben, so würde Lorentz selbst dafür sorgen, das Schicksal dieses Mannes zu erfüllen. Simon sollte seinem Bruder in die Hölle folgen. Das war es, was sich Lorentz geschworen hatte, als er vor Wochen Jonata gehen ließ.
»In Mechtheim? Bei ihren Feinden? Das ja furchtbar. Ich hoffe, ihr geht es gut. Es wundert mich, dass sie nicht bei Euch ist. Sie hat daran geglaubt, dass Ihr sie befreien werdet«, sagte Elisabeth überzeugt.
Jetzt fühlte er sich elend. Zu lange hatte er Jonata in ihrem Leid allein gelassen. Viel zu viel Zeit war vergangen, ehe er einen Weg gefunden hatte, diese Höllenbrut von Sunneck zu vertreiben und seine Verlobte zu befreien.
»Sie wollte unseren Feinden einen freien Abzug von Sunneck garantieren und begleitete Simon von Mechtheim. Jonata war schon immer dickköpfig. Ich konnte sie nicht aufhalten.«
Diese Eigenschaft hatte er bis vor Kurzem noch an ihr bewundert.
»So wie ich sie kennengelernt habe, wird sie sich gegen ihre Feinde behaupten.«
Ihm wurde das Gespräch unangenehm. Elisabeth kannte er zwar von früher, trotzdem war sie nicht die Person, mit der er über seine Gefühle sprechen wollte.
»Und was Euch angeht, Ritter Lorentz, so müsst Ihr nicht befürchten, dass ich Euch an den Bischof oder meinen Gemahl verrate. Mein Gemahl ist auf Reisen, deshalb verbringe ich die Zeit bei meinem Bruder.«
»Ich danke Euch für Eure Verschwiegenheit«, presste Lorentz mit einem erzwungenen Lächeln hervor.
»Setzt Euch zu uns an den Tisch«, forderte Elisabeth ihn auf. »Walram hat mir ein Fest versprochen.«
Ihr Bruder runzelte die Stirn. »Habe ich das?«
»Ich habe meine gute Freundin Isalda hierher eingeladen.« Elisabeth warf Lorentz einen herausfordernden Blick zu. »Ihr erinnert Euch an sie? Ihr beide wart früher immer zusammen zu sehen.«
Lorentz nickte bedächtig. »Ich erinnere mich noch gut an sie.«
»Sie wird sich freuen, Euch hier wiederzutreffen. Wusstest du, dass sie mit einem angesehenen Ritter verheiratet war.«
Davon hatte er nichts gewusst.
»Oh, er lebte nicht lange. Diese Vermählung hat Isalda nicht glücklich gemacht. Sie war von ihren Eltern arrangiert. Die Ärmste. Sie hat einiges durchmachen müssen. Wie Ihr auch, Ritter Lorentz. So und jetzt erzählt, wie es Euch gelungen ist, Sunneck von diesen Raubrittern zu befreien.«
Lorentz hätte sich lieber verabschiedet. Er wollte Elisabeth nicht zurückweisen und konnte sich der Aufforderung nicht einfach entziehen. Gehorsam ließ er sich an dem Tisch nieder und begann von seinem Besuch in Mainz zu berichten. Der Anfang vom Ende seiner Treue zum Erzbischof.