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DIE GRÜNE GRENZE

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Ende 1945 brach Irene, in einem der kältesten Winter der Wettergeschichte, von Prag aus Richtung Wien auf. Sie wollte mit der Straßenbahn weit hinter die Grenzen der Stadt fahren.

Es war noch früh am Morgen. Irene hatte einen Tag abgewartet, an dem es nicht schneite – zumindest noch nicht. Der Schnee bedeckte zentimeterdick Straßen und Häuser. Ja, es wirkte so, als bedecke er auch die Menschen, die gesichtslos an ihr vorbeihuschten. Eiszapfen hingen in bizarren Formen von Gebäuden und Laternen herab.

Irene hatte eine kleine Tasche mit den nötigsten Dingen gepackt, die sie brauchen würde und über die sie – auf den Straßen Prags herrschte der Notstand – noch verfügen konnte: eine Thermoskanne mit heißem Tee, ein kleines Messer, etwas Brot, Wurst und einen Apfel. Die Lebensmittel hatte Irene von einem tschechischen Freund erhalten, den sie vom Tanzen kannte. Der tschechische Freund bekam sie von den Russen, die die Sachen bei Plünderungsaktionen erbeutet hatten, während sie Prag einnahmen.

Außerdem packte sie ein kleines Verbandspäckchen ein, etwas Nähzeug, Streichhölzer, Wäsche zum Wechseln und – obwohl sie nicht wusste, wie sie ihn bedienen sollte – einen alten Kompass. Das verbeulte Ding lag kühl und schwer in ihrer Hand. Die Kompassnadel schwang aufgeregt herum und wusste die Richtung nicht. Der Kompass hatte ihrem Vater gehört. Sie sah ihren Vater vor sich, etwas beleibt und mit einem gütigen Schmunzeln im Gesicht. Sie sah ihren Vater, wie er die Straße entlanglief, mit der Mutter am Arm. Wie er freundlich nickend die Leute über den Gartenzaun grüßte.

Irenes Vater, ein Handelsvertreter für den feinen Rasierbedarf namens Hermann Kohn, war ein verlässlicher Charakter gewesen, ehrlich und integer. Als er in den Wirren des Ersten Weltkriegs in der preußischen Armee gegen seine eigenen polnischen Landsleute kämpfen musste, die sich auf der anderen Seite in den zaristischen Truppen befanden – er war ein polnischer Jude –, hatte er diesen Kompass bei sich, den Irene jetzt in der Hand hielt. Nur damals hatte der Kompass wohl noch funktioniert.

Irene zog alle Kleidungsstücke übereinander an, die sie besaß, rollte eine Decke zusammen, verschnürte sie mit einem Gürtel und band sie an der Tasche fest, die sie mitnehmen wollte.

Dann verließ sie die Wohnung. Sie nahm bewusst eine aufrechte Haltung ein, wie es ihr durch das Tanzen zur zweiten Natur geworden war, und zwang sich, in Richtung Tür zu gehen. Es würde in Prag keine Perspektive mehr für sie geben. Ihre tschechischen Freunde konnten ihr nicht helfen, sie nicht bei sich aufnehmen, wenn sie sich nicht selbst in Gefahr bringen wollten.

Sie hatte vor, nach Österreich zu gehen, um dort Arbeit zu suchen und um zu überleben. Eine Wienerin mit dem Namen Agnes Lehner hatte Irene eine Adresse gegeben und sie in ihre Heimatstadt eingeladen.

Irene fuhr mit der Straßenbahn an die äußerste Grenze Prags. Dann nahm sie die Eisenbahn in Richtung des Ortes Znojmo (Znain), in dessen Nähe sich die Grenze und der kürzeste Übergang nach Österreich befanden.

„Gott sei es gelobt“, dachte sie. „Ich habe noch Schuhe, was in diesen Tagen nicht jeder von sich behaupten kann.“

Trotz ihrer flachen Absätze rutschte sie auf den vereisten Wegen aus, obwohl sie es gewohnt war, bei jedem Wetter in Schuhen mit hohen Absätzen zu laufen. Neben dem Eis auf den Straßen trug auch Irenes Angst dazu bei, dass sie sich wackelig auf den Beinen fühlte.

Auf den Straßen Prags sammelten Russen und Tschechen Deutsche ein, brachten sie über die Grenze und vertrieben sie aus dem Land. Die Tschechen schlossen sich den Russen an; sie erstrebten jetzt ein kommunistisches System, um den Faschismus endgültig aus ihren Reihen zu vertreiben.

Der strenge Winter trug nicht zur Sanftmut der Menschen bei. Irenes Mutter, die von der Miliz abgeholt worden war, war da draußen in den Weiten des Winters verschollen.

Da Irene gut Tschechisch sprach, konnte sie der Gefahr ausweichen, als Deutsche erkannt zu werden. Dennoch war sie sehr vorsichtig, es hätte sie ja jemand wiedererkennen können oder ihren Ausweis verlangen. Und was ihr bei den Nazis noch geholfen hatte, dass sie nach deutschnationalem Gesetz als sogenannte Halbjüdin gegolten hatte – Irenes Mutter war eine Deutsche aus Böhmen –, hätte ihr jetzt den Tod bringen können, denn so absurd es klang: Dass sie überlebt hatte, war in diesen Tagen keine gute Visitenkarte.

Allerdings befürchtete sie, eher zu verhungern, als abtransportiert zu werden. Irene tauchte im Menschengetümmel unter und suchte sich einen Platz in einem Eisenbahnwaggon, wo, wie überall, sich schon andere drängelten. An einer Bahnstation stiegen Militärs ein. Die Soldaten schoben eine Gruppe traurig aussehender Gefangener vor sich her und trieben sie in einen Wagen, der eigentlich für den Transport von Lasten gedacht war. Irene bemerkte zu ihrem Entsetzen, dass es sich bei den Gefangenen um Deutsche handelte, und sie dachte an ihre Mutter, daran, wie sie still, ohne ein Wort – um Irene, die sich im hinteren Teil der Wohnung versteckt hielt, nicht zu verraten – mit den tschechischen Milizionären gegangen war.

Kurz vor dem tschechischen Städtchen Znojmo stieg Irene aus und machte sich auf in Richtung Wald, durch den sie musste, wenn sie die Grenze ungesehen passieren wollte. Vorn leuchtete er ihr dunkelgrün und schneehell entgegen und sie würde gleich in seinem Schutz verschwinden.

Sie tauchte ein in das tief verschneite Gewölbe aus Tannenzweigen, das sich unter seiner Schneelast beugte. Es hingen Eiszapfen an den Ästen wie Stalaktiten in einer Tropfsteinhöhle. Zuerst fühlte Irene sich in der Stille des weiß eingepackten Waldes aufgenommen und geborgen. Aber dann merkte sie, wie ihr die Kälte schneidend den Nacken und die Arme hinaufkroch. Die eiskalte Luft schmerzte bei jedem Atemzug in ihren Lungen. Sie bewegte sich schneller, und ihr Körper begann sich an die Umstände zu gewöhnen.

„Ich werde lange gehen müssen. Im Augenblick weiß ich noch, in welche Richtung … und das ist gut so“, dachte sie.

Plötzlich hörte sie Stimmen. Sie flüchtete, wich vom Weg ab und preschte durch den knietiefen Schnee, der ihr ins Gesicht stob. Knackend brachen Äste. Sie blieb stehen und hielt den Atem an, der sie in dampfenden Wölkchen vor ihrem Gesicht verriet. Sie lauschte. Die Stimmen waren noch ein Stück hinter ihr. Vorsichtig lief sie weiter – sie sank bei jedem Schritt ein – zu einem Gebüsch, in dessen Unterholz sie kroch. Keine Minute zu früh, denn jetzt kamen Soldaten durch den Wald. Ihre Uniformen hoben sich vom Weiß der Umgebung deutlich ab. Sie sprachen laut und fröhlich miteinander. Dann verschwanden sie auf dem Weg zwischen den Bäumen. Es herrschte wieder tiefe Stille. Ein paar Schneeflocken fielen von den Zweigen. An Irenes Fußspuren, die als dunkle Löcher im Schnee von ihrer Flucht zeugten, waren die Soldaten, in ihr Gespräch vertieft, vorbeigelaufen, ohne einen Blick zur Seite zu werfen.

Irene lief über verschlungene Pfade durch den Winterwald. Sie wusste nur ungefähr, in welche Richtung sie gehen musste. Die rotgoldenen Strahlen der Sonne leuchteten von Westen her durch die Baumwipfel.

Die Sonne würde gleich untergehen und sie hielt sich Richtung Südosten, wo sich die grüne Grenze bei Znojmo befand. Sie lief und lief und wunderte sich über die Kraft, die ihr bei jedem Schritt neu verliehen wurde. Das Vorhaben erschien ihr eigentlich unmöglich. Aber sie fragte nicht danach, wie sie es schaffen sollte, sondern ging Schritt für Schritt voran. Der Schnee lag an manchen Stellen hoch, weil er hier noch unberührt war; sie musste ihre Beine heben, die sie kaum noch spürte. Dann wieder hatte sie Glück und auf dem Pfad war der Schnee zu einer festen Decke niedergetreten. Manchmal waren hier auch Fahrzeuge entlanggekommen und hatten die Schneedecke geebnet.

Der Mond schien auf den Weg, Wolken und Sterne spielten abwechselnd Wetterleuchten und sie fühlte sich seltsam leicht. Sie wusste noch, dass sie irgendwo die zugefrorene Thaya passiert haben musste … und dann sank sie nieder. Sie fiel leicht wie eine frisch gefallene Schneeflocke.

Geschichte einer Tänzerin

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