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DIE BAUERNFAMILIE

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„Schau mal, Schau!“, schrie der kleine Junge. Seine roten strubbeligen Haare hatten frostige Spitzen. „Da liegt jemand im Schnee!“

„Oh, ja …“, flüsterte der Mann neben ihm auf dem Kutschbock des Schlittens heiser. Auch an seinem Bart hatten sich Eiskristalle gebildet und er sprach nur mit Mühe, denn bei diesem Wetter drang bei jedem Wort die eiskalte Luft in das Körperinnere ein.

„Hoh!“, schrie der Mann und ließ seine Peitsche durch die kristallene Luft knallen.

„Hoh habe ich gesagt! Bleibt stehen!“, rief er noch einmal. In der Kälte dauerte alles etwas länger, so auch, bis die beiden vor den Schlitten gespannten Kaltblüter verstanden, was er wollte. Gerade hatten sie sich gemeinsam einen Weg zu bahnen versucht, um eine Schneise zu schaffen. Vater und Sohn, in dicke Pelze eingehüllt, stiegen von ihrem Gefährt. Der Mann mit dem dunklen Bart hob den Jungen vom Schlitten, denn dessen Beine reichten noch nicht bis zum Boden. Für einen kurzen Moment drohte der Mann das Gleichgewicht zu verlieren und wegzuschlittern, fing sich aber schnell wieder und setzte das Kind sicher auf dem gefrorenen Boden ab.

Die beiden Männer, der kleine und der große, stapften durch die weiße Wüste auf die leblose, eisverkrustete Gestalt zu, die da lag, am Wegesrand vor den krummen Fichten der Schonung.

„Oh Gott!“, sagte der Mann. „Jesus, Maria … hilf mir mal!“ Zu zweit hievten sie den halb erfrorenen Menschen durch den Schnee zurück bis zu ihrem Schlitten und hinauf. Der kleine Junge brach fast zusammen unter dem Gewicht des starren Körpers.

„Mein Gott, das ist ja eine Frau“, sagte nun sein Vater, als er sie näher betrachtete. „Sie muss ein Flüchtling sein! Was macht sie denn bei diesem Wetter hier? Ist die denn von allen guten Geistern verlassen?“

Sie fuhren zurück und brachten die Frau ins Haus.

Irene wusste nicht, wie sie es geschafft hatte. Wusste nicht, ob sie ein Feuer angezündet hatte oder nicht. Ob sie irgendwann geschlafen hatte oder nur gelaufen war – in der Dunkelheit des Waldes. Sie wusste nur, dass sie es über die Thaya geschafft hatte. Aber wie hatte sie den Weg gefunden?

Dass sie in Österreich sei, erzählten ihr auch Sepp, der Bauer, Egon, das kleine Kupferdach’l (= rothaarige Person) und Sepps Frau Maria. Sie waren alle sehr lieb zu ihr. Irene taute auf aus ihrer Eisesstarre und kam fast um vor Schmerzen, die ihr tausend kleine Nadelstiche versetzten, als sich die Blutgefäße erweiterten und ihr Blut wieder zu fließen begann. Sie fragte die Familie, nachdem sie mit heißem Tee und Glühwein hochgepäppelt worden war, ob sie wohl übernachten dürfe, diese eine Nacht. Für die Bauernfamilie war das selbstverständlich, und Irene durfte im Heuschober schlafen, denn es gab nicht sehr viel Platz.

Maria, die rundliche, braunhaarige Bäuerin mit ihren freundlichen, haselnussbraunen Augen gab Irene zu essen. Sie wusste nicht, ob sie schon einmal in ihrem Leben so etwas Herrliches gegessen hatte: dicke Scheiben saftiges, frischgebackenes Graubrot, dazu würzigen Schinken mit Speckrand und selbst geschlagene, rahmige Butter. In diesem Moment schien ihr das köstliche Essen der Lohn für ihren Mut, sich zu Fuß allein im Winter durch Schnee und Eis durch den Wald gewagt zu haben, den sie gar nicht kannte, ja, überhaupt nichts kannte.

„Wer bist du denn?“, fragte der kleine, rothaarige Egon sie. „Und wo sind deine Mutter, dein Vater?“

Bei dieser Frage stiegen ihr die Tränen in die Augen.

„So etwas fragt man nicht! Wo sollen sie denn schon sein?“, sagte Sepp und schlug seinem Sohn leicht gegen dessen strubbeligen, kupferroten Hinterkopf.

Die drei fragten sie nichts mehr. Sie saßen am Abend zusammen. Sepp, der Bauer, rauchte Pfeife; der Tabak verströmte sein Kräuteraroma.

Es war warm im Zimmer. Ein Holzofen brannte und Irene schaute in das Feuer, das knackend und knisternd Scheit um Scheit verzehrte. Es war über die Maßen beruhigend, Körper und Seele erwärmend, so ein Feuer, und vor allem die Gastfreundschaft, die die drei ihr gewährten. Zischend glomm ein dunkles Holzscheit auf und versprühte dabei orangerote Glut.

Maria saß dicht neben ihr. Sie schaute von ihrer Näharbeit auf und legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. Egon schlief, den Daumen im Mund, mit einer wollenen Decke zugedeckt, auf einer Bank in der Nähe des Kamins.

Es gab nur einen Raum, den sich die Familie teilte, er diente zugleich als Wohnzimmer und als Schlafraum. Hinter einem Vorhang befand sich das Familienbett.

In der Nacht schlief Irene im warmen Heu auf dem Heuboden im Stall. Unter sich hörte sie die Kühe leise wiederkäuen. Von ihren massigen Körpern dampfte die Wärme. Sie schlüpfte tief in ihr trockenes Bett aus Halmen und schaufelte so viel Heu über sich, wie es ging, ohne daran zu ersticken. Es roch würzig und ihr war warm, so wunderbar warm.

Am Tag darauf nahm sie den Bus. Es gab ihn, gleich hier, beim Haus des Bauern. Der Bus fuhr in Richtung Wien und sie hatte Geld, das in Tschechien und auch in Österreich noch Gültigkeit besaß: Reichsmark. Sie nahm es und fuhr nach Wien. Die Sonne ging auf. Dieses Mal sah sie aus dem Fenster, wie die Sonne den Schnee in eine zauberhafte Landschaft verwandelte.

Sie dachte zurück an ihre Flucht aus Reichenberg, mit der ihre Kindheit geendet hatte, und an Prag, wo sie und ihre Eltern Zuflucht vor den Nationalsozialisten gesucht hatten. Während sie noch aus dem Fenster des Busses schaute, verschwamm die Umgebung vor ihren Augen, und die Bilder der Vergangenheit zogen immer schneller an ihr vorüber …

Geschichte einer Tänzerin

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