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EIN TRAUM

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Da ist er ja, der Kasper. Er hängt zwischen den anderen Puppen und bewegt sich nicht. Sein Gesicht mit den roten Wangen und der langen gebogenen Nase schaut sie seltsam gläsern an. „Kasper!“, ruft sie. „Kasper, hast du meine Mutter gesehen?“

Der Kasper mit seiner langen roten Mütze mit den Schellen ist nicht allein. Neben ihm befindet sich eine Prinzessin mit strohgelbem Haar, blauen Augen und noch röteren Wangen, als der Kasper sie hat. Vielleicht ist die Prinzessin errötet wegen des Kaspers Ignoranz?

„Kasper, Kasper! Warum sagst du denn nichts?“, ruft Irene.

Aber er will ihr einfach nicht zuhören, ihr nicht helfen – sonst hat er sich doch immer um alles gekümmert! Das Krokodil und der Wachtmeister sind auch da. Aber allesamt leblos in ihrem Gestell.

Jetzt wird es ihr zu blöd. „Mutter!“, schreit sie. „Mutter!“ Und rennt los. An einer Ecke dudelt ein riesiger Leierkasten. Ein großer Mann dreht die Kurbel und sieht unheimlich aus mit seinem langen Schnauzbart. Auch er sieht sie – wie der Kasper – aus gläsernen Augen an und droht ihr mit dem Zeigefinger seiner freien Hand, mit der anderen betätigt er die Kurbel.

Und dann bleibt Irene stehen: Wie gebannt schaut sie auf die weißen Pferde. Weiße, hölzerne Pferde, jedes mit einem Federbusch auf dem hoch erhobenen Kopf. Sie drehen sich mit Musik in einem bunten Karussell. Sie fliegen und fliegen und sie will mit. Alles ist vergessen, ihre Mutter, der Kasper und auch der alte Leierkastenmann. Sie will tanzen. Tanzen mit den Pferden, entschwinden mit der Musik.

Da ist sie ja! Auf der anderen Seite, zwischen den Pferdchen kann Irene die Mutter sehen. „Mutter! Mutter!“, ruft sie. Und jetzt entdeckt diese auch sie: „Da bist du ja endlich!“

Weiter geht’s zum Kettenkarussell. Das ist noch besser als die lahmen Pferde. Hier kann man wirklich fliegen! Und es glitzert über und über in allen Farben. Die Leute kreischen, quietschen und lachen hoch da oben. Kaum verschwinden sie, sind sie auch schon wieder zu sehen. Irenes Blick klebt an ihren Gesichtern, ihren wehenden Haaren. Ihre Mutter zieht sie fort. Weg von den fliegenden Pferden, ach, von den fliegenden, sich drehenden Menschen.

Es gibt noch einen süßen, roten Apfel, mit Zucker überzogen. Zu Hause beim Abendessen nimmt der Vater Irene auf den Schoß und sie erzählt ihm von diesem herrlichen Tag auf dem Reichenberger Jahrmarkt. Nur von dem unheimlichen Mann mit dem Leierkasten und von dem stummen Kasper und seinen Kumpanen, die sie allesamt im Stich gelassen haben, erzählt sie ihm nichts!

Mutter und Irene kommen am Reichenberger Theater vorüber. Wie gebannt bleibt Irene stehen. Die Mutter will sie mit sich ziehen, sie kennt schon, was sich nun abspielen wird. Aus dem Untergeschoss des schönen alten Baus dringt Musik. Irene will und muss hinsehen. Durch die Fenster kann sie sehen, wie in einem Saal junge Mädchen umherschweben. Dann wieder üben sie an einer Stange Ballettstellungen. Die strenge Stimme der Lehrerin ist zu hören: „Alle jetzt bitte Passé … Plié … jetzt bitte Tendu!“

„Mutter, dort will ich auch hin, sieh doch mal!“, bettelt sie. Mutter schaut sie an und sagt nichts.

Vater bringt sie zum Kindergarten. Das tut er immer.

„Vater, ich möchte zum Ballettunterricht“, sagt sie.

„Bist du dir sicher?“, fragt er.

Im Garten ihres Hauses in Reichenberg. Über ihr der unendliche Himmel. Sie streckt sich. Ihre bloßen Zehen berühren das grüne Gras. Es kitzelt. Während sie Kopf und Rücken gerade hält, ganz gerade, geht sie langsam in die Grätsche – langsam, ganz langsam überwindet sie den Schmerz. Als sie unten ankommt, riskiert sie einen Blick in den Himmel. Sie hat es geschafft. Sie hat den Spagat geschafft! Sie spürt den Bodenkontakt körperlich auf völlig neue Weise, so ganz auf der Erde angekommen.

Das Blau des Himmels über ihr, das Grün des Grases unter ihr – und sie mittendrin beherrscht ihren Körper. Graziös bewegt sie ihre Arme auf und ab. In ihr eine Freude, ein Lachen. Der Schmerz lässt langsam nach. Und jetzt darf sie zum Ballett gehen. Sie bekommt ihr erstes Paar Ballettschuhe und tanzt Spitze, an der Stange mit den anderen und auf dem Parkett.

„Wollen wir im Haus spielen?“, fragt Irene ihre Freundin. Am Himmel steht eine dunkle Wolke. Sie laufen über das kurz gemähte Gras, vorbei an den bunten Blumenbeeten, in das kühle, große Haus. Das Wohnzimmer befindet sich im Erdgeschoss und schließt an eine kleine Vorhalle an, die sie passieren. Der Wohnraum ist groß, freundlich und der Fußboden mit Parkett ausgelegt, die Möblierung alt und edel. Es gibt Teewagen, gepolsterte Stühle, mehrere Tischchen. In einer Ecke steht ein Grammophon. Irene läuft darauf zu und hebt den Arm des Apparates an, um ihn auf die Schellackplatte zu setzen. Es ertönt der „Zigeunerbaron“.

Sie schweben durch den Raum. Die Freundin immer Irene hinterher. Irene hat im Ballettunterricht Pirouetten und Tanzfiguren gelernt, die sie ihr vortanzt.

Irene schaut vom Bett aus in den nächtlichen Himmel, vor dem die Zweige einer mächtigen Tanne leicht im Wind schaukeln. Der Mond hängt sachte irgendwo dazwischen und verströmt sein beruhigendes Gelb. Sie wundert sich: Wo sind Mama und Papa? Sie steht auf, läuft zur Zimmertür, stößt sie auf und tappt auf den dunklen, kühlen Gang hinaus. Sie ist barfuß. Der Steinboden ist kalt, ihre Fußsohlen erreichen den weichen Läufer, der sich am Tage wieder als prächtiger Orientteppich zu erkennen geben wird. Sie kommt im Badezimmer an. Verwirrt steht sie da. Ein Bächlein rinnt ihr linkes Bein entlang und bildet, unten angekommen, einen kleinen Teich. Sie rennt zurück in ihr Zimmer, kriecht schnell in ihr Bett und zieht sich die Decke über den Kopf.

In dem großen Haus ist es still und friedlich. Irene liegt in ihrem Bett in ihrem Zimmer im Erdgeschoss und starrt an die Decke. Wenn sie zur Seite aus dem Fenster schaut, schaukeln die Zweige der alten Tanne knarzend im Wind.

Irene dreht sich, im Auto auf der Rückbank sitzend, um. Das Haus wird kleiner und kleiner, als sie die lange gerade Straße hinunterfahren. Die große alte Tanne ist aus dem Blickfeld verschwunden. Sie werden nicht mehr hierher zurückkehren.

Geschichte einer Tänzerin

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