Читать книгу Die Burnout Lüge - Martina Leibovici-Mühlberger - Страница 10
Wer einmal auf die schiefe Bahn kommt, wird immer schneller
ОглавлениеAllen Burnout-Patienten gemeinsam ist eine am Anfang gelebte Haltung von enormem Engagement, Begeisterungsfähigkeit und hoher Beteiligung. Irgendwann ist das die Eintrittspforte zum inneren Wunsch, unbedingt erfolgreich sein zu wollen, sich über äußeren Erfolg definieren zu müssen, eine fatale, wenn auch zumeist unbewusste Entscheidung, denn daraus resultiert ein sich immer weiter aufbauender Druck, ja man könnte es durchwegs auch Zwang zum Erfolg nennen, dem letztendlich für die Erreichung dieses Ziels nichts zu teuer ist, und sei es die Vernachlässigung eigener Bedürfnisse.
Michael hat schon als junger Arzt und natürlich unter dem Deckmantel der „Unersetzbarkeit für seine Patienten“ sowie gesellschaftlichem Schulterklopfen, seine Bedürfnisse grob hintanzustellen begonnen, Sonja hat sogar ihren Kinderwunsch verleugnet, um entsprechend zu „funktionieren“, und Markus wird einiges an Therapie brauchen, um von seiner Verbissenheit beim Erreichen gesteckter Ziele lassen zu können, ohne damit gleichzeitig das Gefühl zu entwickeln, seine Lebensberechtigung verwirkt zu haben.
Aber seien wir ehrlich, und spüren wir alle jeder für sich an diesem Punkt nach Resonanz in unserem Inneren. Wer von uns hat in dieser Welt, die viel darin investiert, uns glauben zu machen, dass materieller Erfolg mit Lebenserfolg gleichzusetzen ist, noch nie die Zähne zusammengebissen, persönliche Bedürfnisse nach Ruhe und Entspannung hintangestellt und seine Freunde und Familie nachgereiht, um der Aussicht auf beruflichen Erfolg näherzukommen? Gerade Menschen mit großer Leistungsbereitschaft und inhaltlicher Vision akzeptieren im Gegenzug für die Erreichung ihrer Ziele unter der Devise „ohne Fleiß kein Preis“ fast naturgesetzartig, dass eigene Bedürfnisse verdrängt und oft dramatische Selbstbeschränkung geübt werden muss. Es ist also ganz leicht und nahezu verführerisch, die ersten Schritte auf diesem Tanzparkett zu setzen, auf dem man sich dann später den Hals brechen wird. Und dann kommen zukünftige Burnout-Patienten an eine Weggabelung und nehmen von einer nahezu magischen Anziehung bedrängt, oft sehenden Auges, die falsche Abzweigung. Sie bemerken zwar, dass etwas ganz und gar nicht mehr stimmt, und die Vernunft sagt ihnen, dass sie zurückfahren müssten, aber sie drängen immer wieder eigene Bedürfnisse nach Ruhe und klarer Positionierung ihrer eigentlichen Lebensziele zurück, zugunsten der momentanen Anforderungen für das als unhinterfragbar erlebte, gerade aktuelle Ziel. Es beginnt sich eine Schere zwischen tatsächlicher Befindlichkeit und nach außen gezeigtem Optimismus aufzutun. Eine erste Idee von Überforderung blitzt auf, begleitet von existentiellen Bedrohungsgefühlen. Rückzug von der Umgebung und Heimlichkeiten beginnen in den Alltag Einzug zu halten. Das Gefühl, sich dopen zu müssen, um weitermachen zu können, begünstigt den Griff zu Aufputschmitteln, kleinen Glücklichmachern, Selbstmedikation und anderem Suchtmittelgebrauch.
In seiner Praxis war Michael der strahlende „Gott in Weiß“. Eine Fassade, die es ihm jahrelang mit einem entsprechenden Medikamentencocktail, größeren Mengen von Alkohol nach Dienstschluss und einer Sexsucht, die ihm, wie er es nannte, den „Lebenskick“ gab, aufrecht zu erhalten gelang. Emotional ist diese Phase von Desorientierung geprägt. Eine schleichende Umdeutung von Werten setzt ein. Das Druckgefühl steigt, Wichtiges kann von Unwichtigem oftmals nicht mehr unterschieden werden, der Zeitbegriff leidet. Gleichzeitig breitet sich ein großräumiger, die Gesamtheit der eigenen Existenz jeder kritischen Reflexion entziehender Verleugnungsprozess aus. Hinweise von nahestehenden Personen werden als Feindseligkeit erlebt. Der Tonfall des Gegenübers war nicht adäquat, die Wortwahl eine Beleidigung, der Ort, der Zeitpunkt falsch gewählt, lieblos und unsensibel. Immer passt irgendeine Kleinigkeit an der Form der Ansprache nicht, in die sich der Burnout-Kranke verbeißt, um so einer Auseinandersetzung mit dem gefährlichen weil kritischen, sein Tun hinterfragenden Inhalt aus dem Weg gehen zu können. Es kommt gleichsam zu einer selbstgewählten Einmauerung, die dem Betroffenen selbst jedoch uneinsichtig ist. Er fühlt sich von den anderen unverstanden, verlassen, ausgebeutet, was eine zynische Weltsicht zunehmend plausibler macht und damit die Einleitung des Rückzugs von eben diesen sowieso nur „missverstehenden“ oder „übelwollenden“ falschen Freunden oder lästigen Angehörigen als logische Konsequenz nach sich zieht. In dieser fast paranoid anmutenden Weltsicht können Unterstützung, Aufmerksamkeit oder Kontaktversuche der Umgebung nicht mehr angenommen werden. Die Tür fällt zu.
Doch der Rückzug ist nicht die Lösung, sondern letztendlich die unwissentliche, jedoch in ihrer Folge einem grausamen Räderwerk gleichende Entscheidung, den eigenen Kopf auf der Guillotine zu platzieren. Denn mit dem Verlust eines äußeren sozialen Korrektivs und emotionalen Stützsystems befindet sich der Burnout-Patient in seiner Isolation in der zermahlenden Mechanik einer Abwärtsspirale. Nicht umsonst gehen in dieser Phase des Geschehens Beziehungen und Ehen endgültig in die Brüche. Michael singt das strophenreiche Lied der Scheidungen von seinen ihn ausbeutenden Frauen. Margret fühlt sich von ihrem Mann unverstanden und allein gelassen. Sonja verzeiht Bernhard seinen „Betrug“ rund um den Kinderwunsch nicht.
Was dann kommt, scheint schon auf fixen Schienen zu laufen. Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Orientierungslosigkeit nehmen überhand. Das Gefühl, von allen unverstanden zu sein, allen Menschen, die einem irgendwann nahe standen, entfremdet zu sein, sich wie hinter einer Glaswand zu fühlen, etabliert sich als Grundemotion und gräbt letztendlich auch das Selbstgefühl, die Wahrnehmung des eigenen Selbst ab. Die Depersonalisierung erreicht ihren Höhepunkt, wenn der betreffende Mensch sich selbst als Fremder gegenübersteht. Desillusionierung und emotionale Verflachung sind vorherrschend. Eine tiefe Selbstverneinung, die sich bis zur Vernachlässigung der eigenen Hygiene erstreckt, tritt auf.
Ohne die Führung und Insistenz von Anka wäre Michael vor unserem Termin, den er auch nur an ihrer Hand wahrzunehmen vermochte, sicher nicht in die Dusche gestiegen.
Der letzte Akt des Dramas wird von einem fast unerträglichen Gefühl der inneren Leere beherrscht. Um diesen Zustand der Nutzlosigkeit und Aufzehrung noch halbwegs auszuhalten, sind Drogen, Alkohol und Aufputschmittel ständige Begleiter der Tagesorganisation. An diesem Punkt wird einem einfach alles egal. Die Verzweiflung und die Erschöpfung haben das Ruder vollends übernommen und sind oft die einzigen wahrnehmbaren Gefühle. Initiative und Motivation sind am Nullpunkt angekommen, die Depression ist manifest geworden. Ein starkes Symptom ist hier der Wunsch nach Dauerschlaf. Suizidgedanken tauchen auf. Häufig bricht hier auch das Immunsystem zusammen, Infektanfälligkeit und ein vielgestaltiger Katalog körperlicher Beschwerden treten auf. Der Mensch im Vollbild und Endstadium des Burnout hat sich längst in „seiner Höhle“, „seinem Verschlag“ eingeigelt und seinem Schicksal, einer fortlaufenden Auslöschung seiner selbst, ergeben. Er brennt im wahrsten Sinne des Begriffs aus, bis keine Energie mehr in allen seinen Systemen ist, die parallel zu diesem Prozess, wie in einem Shutdown, zunehmend heruntergefahren werden.
Burnout ist so gesehen eine wirklich tödliche Erkrankung.
Sie trägt die Potenz in sich, in unterschiedlichster Form Lebendigkeit zu terminieren, bis hin zum physischen Tod des Organismus. Der schleichenden Entmenschung und Entkulturalisierung folgt der langsame physische Arrosionsprozess, oft durch Suchtmittel unterstützt, bisweilen ein langsames Dahinvegetieren auf einer niedrigen Organisationsstufe von Lebendigkeit und Lebensgestaltungsmöglichkeit, manchmal auch, angesichts einer erlebten Unaushaltbarkeit dieser Lebenssituation, eine aktive Selbsttötung.
Burnout ist eine Regulationskrankheit des gesamten Menschen, eine Erkrankung, die wie keine andere die Verwobenheit von körperlichen, mentalen und seelischen Prozessen vor Augen führt und nur durch einen holistischen, also ganzheitlichen Ansatz verstanden werden kann. Burnout ist aber noch viel mehr. Jeder Burnout-Patient ist eine eindringliche Warnung vor einer drohenden gesellschaftlichen Gesamtkatastrophe. Diese Botschaft zu deuten, würde mich allerdings noch einige Zeit kosten…