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Interdependenz – das dynamische „misfit“

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Aber warum erkrankt eine bestimmte Person in einem spezifischen Arbeits- und/oder Lebensumfeld, während es einer anderen gelingt, wenn schon nicht wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser, so doch zumindest unbeschadet sich im selben Terrain zu bewegen?

Damit es mir möglich wurde, in diese Frage wirklich sinnvoll einzudringen, war es notwendig, mich von einem statischen Ursache-Wirkungsprinzip frei zu machen und mich auf das Wagnis einzulassen, Menschen und ihr spezielles Arbeitsund Lebensumfeld als ein jeweils individuelles dynamisches Ganzes, als ein interdependentes Feld sehen zu lernen.

Dass für die Entstehung von Burnout zwar grundsätzlich förderliche Aspekte von Seiten der Organisation und des Lebensumfelds wie auch von Seiten des Individuums selbst auszumachen sind, dies aber für das tatsächliche Auftreten von Burnout nicht entscheidend ist, war dabei eine wesentliche Erkenntnis. Die finale Weichenstellung erfolgt in einem absolut persönlichen Tanz zwischen dem Einzelnen und seinem Umfeld. Dies zu verstehen, war ein entscheidender Schritt für die Entwicklung einer Sicht auf Burnout, die in der Folge der tatsächlichen tieferen Bedeutung dieses Syndroms gerecht werden konnte. Letztendlich erwies sich das rückblickend auch als der Schlüssel zur Abkehr von einem Behandlungsansatz, der entweder die Organisation verteufelt oder aber auf der anderen Seite auf die Wunde des Burnout-Patienten ein Pflaster klebt, um ihn damit ruhigzustellen.

Die Begegnung mit Roswitha lehrte mich in diesem Punkt Wesentliches. Sie demonstrierte für mich diesen Balanceverlust, dieses ganz persönliche „misfit“ zwischen dem Individuum und seinen erlebten Anforderungen, in eindrucksvoller Weise und befreite mich so von der Altlast, weiterhin einseitig in der Arbeitswelt den Hauptschuldigen sehen zu müssen:

Roswitha kommt auf Anraten ihres Internisten zu mir zur Behandlung. Burnout ist seit langem ein Thema, das sie in ondulierender Form begleitet. Sie hat immer um den Rand herum oszilliert, wie sie es beschreibt, ein paar Monate Krankenstand mit ein paar Tagen Arbeit dazwischen, dann die Sommerferien, den Herbst irgendwie durchstehen, dann wieder Weihnachtsferien und eine Grippe. So ging das seit Jahren, aber die letzten Monate gestalteten sich zunehmend bedrängender – jetzt geht eigentlich nichts mehr. Wir vereinbaren gleich einen Termin für den mittleren Nachmittag, denn zu einem früheren Zeitpunkt des Tages ist es ihr derzeit nicht möglich, es pünktlich zu schaffen, da sie für alle Verrichtungen der Selbstorganisation bereits eine lange „Vorlaufzeit“ braucht.

Eine knappe Woche später sitzt mir eine abgekämpfte, unrastige Frau gegenüber, deren Verzweiflung auch für den ungeübtesten Beobachter greifbar wäre. Roswitha ist 48 Jahre alt, hat eine erwachsene, studierende Tochter, lebt mit Kurt, der Pädagoge ist, seit seiner Scheidung vor sechzehn Jahren in einer Lebensgemeinschaft und ist ebenfalls Pädagogin in einer Berufsschule. Die Schule hat sie ausgehöhlt, Schicht für Schicht aus ihr herausgekratzt, und jetzt ist nur mehr eine dünne Hülle von ihr da, entwirft sie ein Bild, das ihren Zustand illustrieren soll. In den Jahren davor ist es noch gegangen, doch die letzten Monate haben sie nun endgültig in die Knie gezwungen. Ich bitte sie, zu erzählen, und höre eine seltsam anmutende Geschichte, die eigentlich ein Anti-Burnout-Programm einer kooperativen, Burnout-präventiven Organisation sein könnte. Bis auf ein paar sehr persönliche Kleinigkeiten.

Ursprünglich hat Roswitha mit großer Freude die Gelegenheit ergriffen, vor zweiundzwanzig Jahren in die Berufsschullehrerlaufbahn einzutreten, statt den ungeliebten väterlichen Betrieb mit all den bestehenden Problemen mit den Angestellten, dem Pachtvertrag für die Betriebsstätte und den anspruchsvollen Kunden alleine weiterführen zu müssen. Ihr Vater hatte sie, die sich eigentlich für Kunst, Musik und Ballett interessierte und auch seit ihrer Kindheit im Ballett der Oper getanzt hatte, mit Ende der Schulpflicht und gegen ihren Protest in den entsprechenden Lehrberuf gesteckt, damit sie den florierenden Betrieb einmal weiterführen sollte. Schließlich war er sich und allen anderen der Fachgruppe dies als Innungsmeister schuldig. „Da kann das einzige Kind nicht blöd herumhupfen.“ Statt Ballettschuhen gab es fortan nur mehr Arbeitsschuhe mit dicker Profilsohle an Roswithas Füßen. Doch Roswithas Vater, der neben seiner Geschäftstüchtigkeit und der Geradlinigkeit seines Weltbilds, besonders unter Alkoholkonsum, auch häufige tyrannische, cholerische Attacken und einen damit verbundenen stark erhöhten Blutdruck zu bieten hatte, erlag vorzeitig einem Schlaganfall, sodass Roswitha ziemlich unvorbereitet den väterlichen Betrieb alleinverantwortlich übernehmen musste. Bisher hatte sie der Vater trotz ihrer bereits mit Bravour bestandenen Meisterprüfung auch vor allen Angestellten wie das letzte Lehrmädchen behandelt. Jetzt sollte sie plötzlich die Chefin für eine Truppe von dreißig Arbeitern sein, die lange Zeit unter einer autoritären Führung gelitten hatten. Dazu kam ihre Verpflichtung für ihre zweijährige Tochter, die zwischen Büro, Kundenbesuchen und Werkhalle aufwuchs. Der Kindesvater hatte sich rasch als ein unzuverlässiger und vorwiegend gegenüber anderen Frauen charmanter Typ erwiesen, dessen größte Kompetenz darin lag, Geld für seine diversen Unternehmungen aus der Betriebskasse zu entnehmen.

Das Angebot, in die Berufsschule zu wechseln, erschien Roswitha daher wie ein Geschenk des Himmels. Die Arbeitsstunden muteten läppisch an, im Vergleich zur Achtzig-Stunden-Woche, die sie gewöhnt war. Neun Wochen Urlaub im Sommer, Weihnachtsferien, Osterferien, Fenstertage – aus Roswithas bisherigem Blickwinkel weniger als ein Halbtagsjob. Auf das Unterrichten freute sie sich. Als Betriebsleiterin hatte sie immer ein besonderes Naheverhältnis zu den Lehrlingen gespürt, einen auffallend guten Draht zu ihnen gehabt, auf sie eingehen und so manchen Obstinaten davon überzeugen können, dass ein abgeschlossener Lehrberuf besser wäre, als ein Hilfsarbeiter-Dasein. Erstmals seit langem schien die Welt angenehm gefügt zu sein.

Ein paar Jahre später ergab sich an der Schule die Beziehung mit dem gleichaltrigen Kurt, der Roswitha wegen ihres Elans und Optimismus, mit dem sie das Schulleben beflügelte, als seine Traumfrau erkannte, nachdem er sich endlich von seiner schwer depressiven Frau gelöst hatte.

Vor fünf Jahren erlebt Roswitha dann erstmals einen seelischen Einbruch. Sie tritt verfrüht in die Menopause ein und hat massiv mit ihrem Selbstbild als Frau zu kämpfen. Das umso mehr, als Kurt gerade zu diesem Zeitpunkt einen Kinderwunsch äußert, der trotz massiver hormoneller Stimulation als letztendlich unerfüllbar akzeptiert werden muss. Roswitha, die gewohnt ist, sich mit eiserner Disziplin alles abzuverlangen und damit bisher immer erfolgreich war, erlebt sich als Versagende. Gleichzeitig steht das Paar unter enormem finanziellem Druck. Die Schulden für das sehr exklusive Eigenheim sind als ständige Mahnung präsent und Kurt muss seiner Ex-Frau, um seiner Kinder willen, finanziell stärker unter die Arme greifen, als dies die Alimentationsforderungen vorgesehen haben, da diese durch ihre Depression nun endgültig langfristig arbeitsunfähig ist.

Roswitha entwickelt die Überzeugung, funktionieren zu müssen. Alte Gefühle, nicht als eigenständiger Mensch gesehen und geliebt zu werden, sondern nur über die gegebene Leistung Wertschätzung erlangen zu können, tauchen nun sowohl in der Beziehung zu Kurt wie auch in ihrem beruflichen Umfeld auf. Durch ihr weit über ihre fachlichen Aufgaben hinausreichendes Engagement für die Schüler hat sie längst verschiedene Zusatzaufgaben übernommen. War sie früher durch ihre Position als Problemlöserin für die oft in schwierigen sozialen Verhältnissen lebenden Lehrlinge und dem damit im Lehrkörper verbundenen Ruf inspiriert, beginnt sie jetzt zunehmend Entfremdung, Gefühle von Ohnmacht und Sinnlosigkeit zu erleben. Dies erreicht nach einem gemeinsamen Heurigenbesuch des Lehrkörpers in feuchtfröhlicher Stimmung seinen Höhepunkt, als der gemeinsame Tenor der Kollegen unter großem Gaudium eine „Dienst nach Vorschrift“-Haltung und völliges Desinteresse an den auszubildenden Lehrlingen nahelegt.

Es war, als wäre es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, beschreibt sie die Situation. Sie habe sich völlig verraten gefühlt, wie ein lächerlicher Idiot in einem System, das seine Klienten schon lange abgeschrieben und aufgegeben hat. In den Folgemonaten beginnt Roswitha zunehmend vom Rest des Lehrkörpers abzurücken. Ihre Kollegen gehen ihr auf die Nerven, erscheinen ihr verschlagen, unehrlich. Es kommt zum Streit mit einem Kollegen, der allen Schülern, die dem Unterricht nicht folgen wollen, gestattet, sich mit ihren Handys in den hinteren Bankreihen zu beschäftigen. Es ist derselbe Kollege, der die Schularbeitsergebnisse gleichzeitig mit den Angaben ausgibt, um damit die Resultate zu verbessern. So manipuliert funktioniert das System nach außen reibungslos. Roswitha fühlt sich angesichts der duldenden Mitwisserschaft der anderen Kollegen immer mehr an den Rand gedrängt. Gleichzeitig erlebt sie ein Gefühl von Auszehrung und Sinnlosigkeit, wird unleidlich gegenüber ihren Schülern, fühlt sich auch von ihnen ausgenützt. Kurt legt ihr mehr Realismus nahe und rät ihr, sich besser abzugrenzen.

Dann treten morgens auf dem Weg zur Schule in der U-Bahn Angstgefühle auf, die sie immer öfter zwingen, ihren Weg zu unterbrechen. Kurz darauf bilden sich an Schultagen, morgens nach dem Aufwachen, in Minutenschnelle nervöse, juckende Ausschläge im Gesicht, am Hals und im Dekolleté-Bereich. Ein paar Wochen später beginnt Roswitha an hartnäckigen Durchfällen zu leiden und Kreislaufbeschwerden zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt sind die Schule, die Kollegen und die Schüler bereits ein rotes Tuch für sie. Roswitha hat eine zynische, resignative Weltsicht entwickelt, die sie unter Aufbringung größter Anstrengung vor allen zu verbergen trachtet. Alles ist ihr zu viel. Ihr Direktor, der mit Kurt und ihr befreundet ist, versucht sie aus dem Schussfeld zu bringen. Zuerst wird ihre Dienstverpflichtung auf ihren Wunsch hin auf drei Tage zusammengelegt, um ihr genügend Regenerationspausen zu ermöglichen. Von ihren Zusatztätigkeiten, einstmals mit Enthusiasmus übernommen, erfährt sie Entbindung. In einem nächsten Schritt, als sie das Unterrichten als schwer aushaltbare Belastung erlebt, kann sie die Funktion als Klassenvorstand zurücklegen, ihre Stundenbelastung von der Unterrichtstätigkeit zurückfahren und in einen administrativen Bereich verlagern.

In den letzten beiden Jahren umfasst Roswithas aktive Lehrbeauftragung noch vier Unterrichtsstunden. Das System hat in Gestalt des befreundeten, äußerst kooperativen Direktors für maximale Entlastung gesorgt. Trotzdem beginnt Roswitha das diesjährige Schuljahr nach den Sommerferien subjektiv erschöpfter, als sie sich noch vor dem Sommer gefühlt hat. Die unterschiedlichsten körperlichen Beschwerden, ein Hörsturz zwei Wochen nach Schulbeginn und nur mit schweren Schlafmitteln beherrschbare Schlafstörungen kennzeichnen die letzten Wochen vor unserem Termin…

Arbeitsüberlastung, Tempodruck, mangelnde Mitsprache in der Gestaltung des Arbeitsfelds, Mobbing, autoritäre Führungskultur, Verweigerung von Anerkennung – all das, was man unter anderem einem Burnout begünstigenden Arbeitsumfeld zuschreibt, konnte für Roswithas spezielle Situation nicht ins Feld geführt werden. Keiner dieser Faktoren kam hier als Auslöser in Betracht. Ganz im Gegenteil, Roswithas Führungsverantwortlicher, ihr Direktor, hatte vieles unternommen, um ihr den Verbleib auf ihrer Position und damit ihren Bezug sichern zu können, bis hin zu ausgeklügelten Plänen von offizieller Anwesenheit an unterrichtsfreien Tagen und Krankenständen für Tage mit Unterrichtsverpflichtung. Sie hatte nahezu selbstbestimmt in ihrer Zeitgestaltung und ohne Fertigstellungsdruck die von Verantwortung weitgehend entbundenen Administrationstätigkeiten, quasi als Schonung, übernehmen können und die inzwischen verhasste Klassenlehrertätigkeit bis auf ein minimales Segment zurücklegen dürfen. De facto war es ihr durch eine Bereitschaft zur Supplierung durch andere Kollegen und gezielte Krankenstände gelungen, im ersten Unterrichtssemester gerade einmal für vier Stunden ein Klassenzimmer zu betreten – und das mit voller Toleranz der Organisation.

Roswitha selbst wiederum konnte beim besten Willen unter Einrechnung ihrer Lebensgeschichte, die sie in ihren Details als äußerst belastbare Person auswies, nicht als ein leicht zur Überforderung neigender Mensch gesehen werden. Sie wies zwar jene Grundcharakteristiken auf, die Menschen für Burnout gefährdet erscheinen lassen – Ehrgeiz, Genauigkeit, hohe Identifikation mit der Organisation, stark prosoziale Einstellung, hohe Bereitschaft zu selbstkritischem Verhalten und eine gewisse Tendenz, ihren Selbstwert über die von ihr erbrachte Leistung zu definieren – doch liegen weitaus belastendere Perioden ihres Lebens bereits hinter ihr, womit der völlige Zusammenbruch in dieser Lebensphase zunächst unnachvollziehbar anmutet.

Roswitha stellte mein bisheriges Verständnis der Entstehung von Burnout auf einen ernst zu nehmenden Prüfstand und forderte von mir, über oberflächliche oder einseitige Modelle hinauszuwachsen, um einen sinnvollen Behandlungsplan erstellen zu können. Denn hier auf eine Arbeitskarenz zu drängen, konnte wohl kaum den Stein der Weisen bedeuten. Roswithas Lebensaushöhlung lag, wie letztendlich bei allen Opfern des Burnout-Syndroms, viel tiefer, hatte jedoch in der Sequenz des Berufsfelds eine passende Widerspiegelung gefunden. Die ursprüngliche Sinnbefüllung ihrer beruflichen Tätigkeit war ihr verloren gegangen. Ein System, das, wie ihr schien, sich unter allgemeinem Konsens von seiner eigentlichen Berufung resignierend abgewandt hatte und Jugendliche nur mehr durchschleuste oder für ein paar Jahre parkte, ohne ihnen tatsächliche Entwicklung zu ermöglichen, drängte sie in die Vereinsamung. Gerade als Mensch mit hoher Identifikation mit ihrem Aufgabenbereich und stark prosozialer Gesinnung erwies sich dies für sie als der berühmte „letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, als unaushaltbar und als Auslöser für den Sinnzusammenbruch.

In der Aufarbeitung von Roswithas Burnout eröffnete sich der zu Grunde liegende tiefere Prozess, die stufenweise, im Untergrund seiner Seele verlaufende Lebensentfremdung eines Menschen, der sich einen sensiblen, gemeinschaftsorientierten und grundsätzlich liebesfähigen Persönlichkeitskern bewahrt hatte. Trotz einer harten, Gehorsam verlangenden Sozialisierung im Elternhaus war Roswitha lange höchst lebendig geblieben. Nun aber scheiterte sie. „Es trifft eigentlich die Besten“, schoss es mir während der Arbeit mit ihr immer wieder durch den Kopf.

Doch ich wusste das noch nicht zu deuten, vermochte zu diesem Zeitpunkt die Paradoxie, die sich darin verbarg, noch nicht zu erkennen. Gerade jene, die eigentlich mit besonderem Einsatz und Gehorsam, mit besonderer Aufopferung ihre Aufgaben erfüllten und damit dem Leitbild der Gesellschaft dank eines stark installierten Über-Ichs auch besonders gut entsprachen, wurden Opfer eines Burnout-Syndroms. Obwohl doch gerade sie dem gesellschaftlichen Konsens entsprechend die Einlösung ihres Glücksanspruchs erreichen hätten sollen, statt in Sinnlosigkeit und Aushöhlung zu versinken.

Als eindeutig unhaltbar stellte sich mir jedoch schon damals die Beschuldigung der „bösen Arbeitswelt“ als Verursacher des Ausbrennens dar. Die Arbeitswelt ist lediglich der hauptsächliche und sichtbarste Austragungsort des persönlichen Sinnverlusts und Entfremdungskonflikts des Einzelnen. Diese Erkenntnis spiegelt meine Erfahrungen in beiden Arbeitsfeldern, sowohl als Behandlerin von Burnout-Betroffenen wie auch als Beraterin in der Organisationsentwicklung von Unternehmen wider. Dass Burnout und damit die Entfremdung vom privaten Lebensumfeld, die Automatenhaftigkeit, mit der oft schon jahrelang nicht aus einer inneren Überzeugungskultur vorgegebene Zielsetzungen verfolgt werden, verläuft lediglich unsichtbarer, dem öffentlichen Blick entzogener. Der „Leistungseinbruch“, der zunehmende Mangel an Identifikation, der zumeist mit Konsum und Betäubung in Schach gehalten wird, bleibt gleichsam privates Drama. Im Berufsfeld, am Arbeitsplatz jedoch, wo zumeist viel eindeutiger nach dem Kriterium der Leistung beurteilt wird, nimmt die bestehende Dissonanz einen hässlichen, weithin hörbaren Klang an.

Über diese Unhaltbarkeit der Verurteilung der Arbeitswelt war ich bereits 2002 in Rumänien erstmalig gestolpert, hatte mich damals gewundert, aber die Enden der Fäden noch nicht zusammenzuknüpfen vermocht. Das junge, gerade einer der unmenschlichsten Diktaturen entwachsene Land hatte sich nach einem guten Jahrzehnt als Demokratie glaubwürdig und gleichzeitig geschmeidig für den begehrlichen globalen Wanderzirkus der Fertigungsindustrie erwiesen und lockte mit Sonderkonditionen, kurzen Transportwegen an die EU-Grenzen und Billiglohnarbeitskräften. Ein Eldorado für alle, die handarbeitsintensive Produktion, von der Hirschhornknopfschnitzerei, über die Hemdennäherei oder Kabelbaumherstellung bis hin zur Lederlenkradnäherei, mit niedrigen Personalkosten verbinden wollten.

Wir betreuten damals eine Produktionsstätte im Westbanat zur Personalentwicklung ihres neuen lokalen Management Staff. Lauter junge, enthusiastische Menschen mit teilweise fantastischen Abschlüssen, soweit sie in Rumänien zu kriegen waren, ausgerüstet mit der totalen Beseelung einer Aufbruchsstimmung. Für sich und ihr Land wollten sie den großen Wohlstand erarbeiten, Arbeitseinsatz ad infinitum inklusive. Goldgräberstimmung, ein tägliches Teamgefühl, wie man es hierzulande nicht einmal während des gruppendynamisch verordneten Fallschirmtandemspringens für Führungskräfte für die kurze Zeit in der Luft zusammenbringt. Es gab jede Menge Müdigkeit, wenn es wieder einmal galt, tagelang durchzuarbeiten, um ein fehlerhaftes Layout unter Hochdruck zu korrigieren oder den Fehler in einer abgestürzten, den Flow blockierenden Computeranlage zu beheben. Aber Burnout war ganz sicher bei niemandem in Sicht.

Soweit zum Management. Aber auch der Rundblick im noch wesentlich härteren „production floor“, der Produktionshalle, warf jede gestandene Burnout-Theorie über den Haufen. Da saßen pro Schicht rund 800 Frauen und Männer auf harten, wackeligen Dreibeinhockern und ummantelten im Schlachthauslicht der über ihnen schwebenden Neonbalken Lederlenkräder für Nobelkarossen, in denen sie sicher nie sitzen würden. Und dies unter enormem Zeit- und Qualitätsdruck, in einem Organisationssystem, das ihnen keinerlei Mitsprache, nicht einmal bei der Wahl ihrer Schicht ließ. Sie arbeiteten in einem Unternehmen, das über sein Prämiensystem stark konkurrenzfördernd war, äußerst sparsam mit Wertschätzung und Anerkennung umging, eine für den einzelnen Arbeiter intransparente Ablaufstruktur vermittelte und keinen Wert auf Teambildung oder Kooperation legte. Ein System, das auch damit zufrieden gewesen wäre, wenn hier anstatt Menschen minuziös werkende Maschinenhände im Einsatz gewesen wären. Arbeitsschutzmaßnahmen waren in dem neuen Staat, der damals noch nicht zur EU gehörte, zwar grundsätzlich verabschiedet worden, doch nach vierzig Jahren autokratischem Ceausescu-Regime waren die Implementierung schleppend und die Kontrollen geschmeidig abzubiegen. Also saß man dort im Winter bei knackigen zwölf Grad mit klammen Fingern und im Hochsommer bei tropischen vierzig Grad, umgeben von den frei flottierenden, verbotenen Klebstoffdämpfen in der dünnen, auf die grüne Wiese gegossenen Werkhalle mit ihrem Zementboden und nähte, was das Zeug hielt.

Noch dazu waren die Schichten umrahmt von langen Anfahrtswegen. Die zugigen Werkbusse sammelten die Belegschaft oft schon zweieinhalb Stunden vor Schichtbeginn in den umgebenden Ortschaften auf, um rechtzeitigen Schichtbeginn mit gewaschenen Händen als Werkinteresse zu gewährleisten. Es ist selbstredend, dass es sich hierbei um die Privatzeit der Mitarbeiter handelte, der An- und Abtransport als eine Sozialleistung des Unternehmens gesehen wurde. Daheim gab es dann zumeist Kinder und irgendeinen alten Verwandten zu betreuen und das diverse Kleinvieh und den Garten, Überlebensbasis jedes damaligen Rumänen, zu bewirtschaften.

Es ist Teil meines Berufs, mich äußerst intensiv in Menschen hineinzuversetzen, einen Weg zu finden, um mit Menschen in unmittelbaren, ungefilterten Austausch treten zu können. Burnout traf ich in der stinkenden Halle, in die ich nur aus Solidarität und nicht aus Überzeugung ohne Schutzmaske ging, nie an. Nicht einmal Unzufriedenheit. Die Menschen fanden sich eingebettet in ein Sinnsystem, verbunden in einem engen familiären Zugehörigkeitsgefühl, das durchwegs von wechselseitigen, respektierten und damals nach dem Sturz des Regimes noch als naturgegeben erlebten Abhängigkeiten geprägt war. Darüber hinaus funktionierte zum damaligen Zeitpunkt die Struktur nachbarschaftlicher Zugehörigkeit und Hilfe noch mit großer Zuverlässigkeit. Hatte jemand für sein Kind keine Beaufsichtigung, so fand sich mit großer Sicherheit in der Nachbarschaft eine Unterbringungsmöglichkeit. Natürlich gab es auch Rivalitäten, Eifersucht, Neid und das ganze Spektrum menschlicher Befindlichkeitsstörungen in den Dörfern. Doch der Grundkodex von Verbindlichkeit und das Bewusstsein, aufeinander wechselseitig angewiesen zu sein, das Wissen, dass Gebender und Nehmender bedingt durch den Lebensstrom und seine Anforderungen nur zu leicht Platz tauschen können und daher der Mensch in jeder dieser Positionen mit Respekt zu behandeln ist, war im Untergrund des dörflichen Selbstverständnisses noch vorhanden. Nirgends, seit meiner Kindheit an der Hand meiner Mutter beim „Bassena-Tratsch“, habe ich in Europa so viele spontane, ungezwungene Unterhaltungen mit angehört oder Nachbarn, die in der Abendsonne gemeinsam auf der Bank sitzen, beobachten können. Oder so viel Selbstverständlichkeit einer gemeinsamen Festkultur, bei der jeder das Seine beiträgt, und sei es einen Strauß selbstgepflückter Wiesenblumen. Diese Menschen hatten damals eine Vision eines besseren Lebens, das sie bauen wollten, das Werk war ein Symbol dafür, ebenso wie alles, was sie dort erlebten.

Ich habe diese Dörfer ein paar Jahre später noch einmal besucht, zu einem Zeitpunkt, als auf den noch immer schiefen, schlecht gedeckten niedrigen Häuserdächern bereits ein Antennenwald für die SAT-TV Anlagen montiert war, als Trostpflaster für die zurückgebliebenen Alten. Da saß kaum noch einer draußen auf der Bank mit seinem Nachbarn, wenn drinnen die bunte Welt von Konsum und Soaps flimmerte. Da habe ich dann auch Burnout gefunden, viele Menschen, die leise aufgegeben hatten, zerrieben waren, nicht von der Arbeitswelt, sondern weil die Vision verkauft worden war.

In der Beobachtung der Veränderung dieses sozialen Kollektivs wurde mir deutlich vor Augen geführt, dass nicht das Arbeits- und Lebensumfeld für sich genommen Ursachen eines Ausbrennens sind, wie auch nicht in der Persönlichkeit des einzelnen Menschen die wirkliche Grundlage zu finden ist. Sondern es handelt sich um ein dynamisches „misfit“ zwischen Arbeits- und Lebensumfeld einer bestimmten Person einerseits und ihren Anlagen, Kompetenzen, Möglichkeiten, Strategien, Überzeugungen und Werten andererseits.

Es handelt sich also um eine Art Passungsfehler zwischen Individuum und Umwelt, ein Auseinanderklaffen zwischen dem was das System braucht und zu geben im Stande ist und dem, was das betroffene Individuum braucht und zu geben im Stande ist. Diese Feststellung enthält sich grundsätzlich noch jeder Bewertung. Beide Bereiche können begünstigende Faktoren aufweisen, doch ihnen die „Schuld“ zuzuschieben, wäre viel zu kurz gegriffen. Und doch löst gerade das Thema Schuld einen heiß umkämpften Grabenkrieg aus.

Die Burnout Lüge

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