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Die alte Frau Appeldorn

Die alte Frau Appeldorn lebte zurückgezogen und einsam in einem kleinen Dorf am Fuße des Netteberges. Bei Wind und Wetter ging sie jeden Tag zu dem einzigen Kiosk, holte sich eine Zeitung und einen frischen grünen Apfel. „An apple a day keeps the doctor away!“, murmelte sie jedes Mal vor sich hin – und diese alte Weisheit schien sich zu bewahrheiten. Frau Appeldorn war in ihrem ganzen Leben nicht einmal krank gewesen.

Lena war ein sehr wohlerzogenes Mädchen. Genau wie ihre Mutter war sie stets hilfsbereit und freundlich. Die Leute im Dorf schätzten und mochten sie.

Eines Tages traf Lenas Mutter im Kiosk auf die alte Frau Appeldorn, die jammerte, weil die Äpfel ausverkauft waren. „Ach, du liebe Zeit, was soll ich heute Abend bloß essen? Ohne meinen Apfel bin ich verloren!“, zeterte die alte Frau und war den Tränen nahe.

„Meine Tochter bringt Ihnen heute Abend ein paar Äpfel vorbei!“, beeilte sich Lenas Mutter zu sagen.

Frau Appeldorn lächelte dankbar.

Lena war gar nicht begeistert von der Idee, der alten Frau Appeldorn Äpfel vorbeizubringen. „Sie ist eine Hexe, Mama! Glaub mir doch! In das Haus gehe ich nicht freiwillig! Sie isst Katzen und schläft in einem Sarg!“, heulte das Mädchen.

„Das sind doch alles dumme Gerüchte! Du wirst zu ihr gehen und ihr die Äpfel bringen!“, schimpfte die Mutter und drückte ihrer Tochter den Korb mit den Äpfeln in die Hand. Widerwillig machte sich das Mädchen auf den Weg.

Lenas Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre kalten Hände zitterten wie Espenlaub, nachdem sie den Klingelknopf gedrückt hatte. Niemand kam. Gerade wollte sie gehen, da öffnete sich die alte Haustür mit einem Quietschen. „Bitteschön, Ihre Äpfel!“, flüsterte Lena und wollte schnell wieder gehen. Da hörte man plötzlich ein lautes Scheppern aus dem Inneren des Hauses.

Lena zuckte zusammen. Wer war das?

„Ach du liebe Zeit, mein Kater hat wahrscheinlich etwas umgeschmissen. Wie soll ich das je wieder auffegen?“, jammerte Frau Appeldorn und schlug verzweifelt ihre knochigen Hände vor das runzlige Gesicht.

„Soll ich Ihnen helfen?“, fragte Lena zögerlich und folgte der alten Frau in den dunklen Korridor, der irgendwie seltsam nach Fischkonserven roch. Da sahen sie auch schon die Bescherung: Der Kater hatte eine kostbare Vase umgeschmissen. Die längst verdorrten Blumen, die darin in fauligem Wasser vermutlich schon einige Jahre gestanden hatten, waren überall auf den Steinfliesen verstreut.

„I...ich kann das aufwischen!“, stotterte Lena, als hätte sie selbst den Schaden angerichtet. Doch Frau Appeldorn hatte sie gar nicht gehört, weil sie den Kater anschrie und mit dem Stock auf ihn einschlagen wollte.

Plötzlich fiel die Tür krachend ins Schloss. Aber der Kater hatte es zum Glück rechtzeitig geschafft und war nach draußen in die Nacht entflohen. Lena jedoch saß in der Falle wie eine hilflose Maus. „Ich fege die Scherben schnell weg“, wisperte sie angstvoll. Sie war nicht mehr in der Lage, laut und deutlich zu sprechen. Ihre Stimme schien verschwunden zu sein.

„Schnell, schnell – bei euch jungen Leuten muss immer alles schnell, schnell gehen. Wie heißt du eigentlich?“, fragte die Alte und sah Lena eindringlich an.

„Sie ist doch eine Hexe!“, dachte das Mädchen verzweifelt. „Wenn ich ihr meinen wahren Namen nenne, bin ich verloren!“ Deshalb antwortete sie hastig: „Ich bin Susanne!“ Sie wusste selbst nicht genau, warum sie einen falschen Namen genannt hatte. Kaum hatte sie ihn ausgesprochen, wusste sie, dass sie einen großen Fehler begangen hatte. Sie hatte eine Hexe belogen!

„So, so!“, murmelte Frau Appeldorn und kratzte sich am Kopf. „Die Susanne bist du also. Die Susanne!“ Frau Appeldorn starrte Lena für einige Sekunden lange an.

„Das ist der böse Blick!“, ging es dem Mädchen durch den Kopf. Lena hatte das unheimliche Gefühl, dass Frau Appeldorn ihre Gedanken lesen konnte und sie durchschaut hatte.

„Susanne, würde es dir etwas ausmachen, mir aus dem Keller eine Apfelsine zu holen?“

Lena zuckte zusammen. Auch das noch! Jetzt musste sie in den Hexenkeller, aus dem sie wahrscheinlich nie mehr lebend herauskommen würde. Aber sie hatte keine andere Wahl.

Lena nickte und Frau Appeldorn öffnete langsam und mit lautem Quietschen eine scheinbar uralte Tür. Eine winzige Glühbirne baumelte vereinsamt an einem lockeren Kabel von der Decke. Die ehemals weißen Stufen der scheinbar endlosen Kellertreppe waren mit grünem Moos überzogen und auf der zweiten Stufe saß ein Feuersalamander, der Lena mit großen Augen ansah.

„Die Apfelsinen liegen hinten im Keller in einer großen Kiste!“, rief Frau Appeldorn Lena hinterher. Doch Lena hörte die Anweisung kaum noch. Vorsichtig stieg sie über den Salamander hinweg und hielt sich an dem klapprigen Treppengeländer fest. Fast wäre sie ausgerutscht, denn die Stufen waren sehr glatt.

Es war eisig kalt in dem Gemäuer, Spinnenweben hingen an den Wänden und irgendwo knarrte etwas. Ein Sargdeckel? War außer ihr noch jemand in dieser Gruft? „Wo ist bloß die Apfelsinenkiste?“, fragte sich Lena verzweifelt. Sie fühlte sich inzwischen wie in einem Horrorfilm.

Plötzlich klingelte das Telefon schrill und eindringlich.

„Ich komme schon! Ich komme ja schon!“, rief Frau Appeldorn ärgerlich und schlurfte, so schnell sie ihre alten Füße trugen, ins Wohnzimmer.

Da schmiss sich Lena mit aller Wucht gegen die schwere Kellertür. Unerwartet gab diese nach und Lena landete im Hausflur. Sie atmete erleichtert auf und hörte, wie Frau Appeldorn „Hallo, wer zum Teufel ist das?“ in den Hörer krächzte. Doch plötzlich wurde ihre Stimme ganz weich und sanft. „Oh, das ist aber schön!“

Schließlich war das Telefongespräch zu Ende. Frau Appeldorn hatte Tränen in den Augen und sagte: „Meine Enkelin Nicole kommt morgen für eine Woche zu Besuch. Sie ist so alt wie du!“ Lena wunderte sich, wie nett die Alte plötzlich war und Frau Appeldorn fragte dann ganz unvermittelt: „Kannst du mir helfen, das Bett für Nicole zu beziehen?“

Lena nickte stumm und folgte der Frau in das Schlafzimmer. Hier standen keine Särge, sondern ganz normale Betten.

Frau Appeldorn erzählte überglücklich von ihrer Enkelin, die sie schon ewig nicht mehr gesehen hatte.

Auch Lena fing an zu lächeln. „Frau Appeldorn, Sie sind ja plötzlich so anders!“, stellte sie fest.

Frau Appeldorn setzte sich auf die Bettkante, um zu verschnaufen. Sie nahm das Kopftuch ab, weil ihr durch das Bettenbeziehen ganz heiß geworden war. Ihre grauen langen Haare fielen ihr in sanften Wellen auf die Schultern. „Wenn du möchtest, kannst du morgen gern vorbeikommen und mit Nicole spielen. Sie würde sich sehr freuen!“, schlug die alte Frau vor.

Lena nickte. „Klar, ich komme!“, sagte sie und zögerte dann kurz, bevor sie hinzufügte: „Es gibt da aber noch etwas, das ich Ihnen beichten muss ...“

Frau Appeldorn war neugierig geworden. „Was ist es, Kindchen?“, fragte sie sanft.

„Ich heiße gar eigentlich nicht Susanne! Ich bin Lena!“, brachte das Mädchen hervor und wurde im ganzen Gesicht puterrot.

„Ich muss dir auch etwas beichten“, sagte Frau Appeldorn mit einem Lächeln auf den Lippen.

Lena sah sie fragend und ein wenig verunsichert an. Was kam jetzt noch?

„Ich habe gar keine Apfelsinenkiste im Keller“, gestand Frau Appeldorn schmunzelnd.

Plötzlich mussten sie beide lachen. Frau Appeldorn und Lena. Sie lachten, bis ihnen die Tränen in die Augen stiegen und sie Bauchschmerzen bekamen. Dann gingen sie zurück ins Wohnzimmer und teilten sich einen Apfel.

Dörte Müller (*1967) schreibt Kurzgeschichten, die bereits in zahlreichen Anthologien veröffentlicht worden sind. Sie unterrichtet Deutsch und Kunst in den Niederlanden und hat zwei Kinder. Am liebsten verbringt sie ihre Ferien mit ihrer Familie irgendwo am Meer.

Auf den Kern gebracht

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