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Martin

Es war einmal ein großer, alter, knorriger Apfelbaum. Er stand am Hang mit Blick auf eine Bucht. Der bewaldete und zum Teil sehr steile, zerklüftete Hang führte direkt ans Wasser. Vorne verengten sich die Felsen, dahinter, so weit das Auge reichte, der Ozean. Oben auf der grünen Ebene, einzeln der Baum. Daneben eine alte Holzbank. Steinalt war sie, schon viele Menschen hatten hier gesessen, den Sonnenuntergang und ganz selten den Sonnenaufgang genossen.

Ich besuchte ihn oft. Er war einer jener magischen Bäume. Sein Herzstück war Martin, ein knallroter Apfel, behütet im Inneren des Baumes. Er machte ihn lebendig, ihn denkend und fühlend wie einen Menschen. Martin kam nur noch selten heraus. Bei mir machte er eine Ausnahme. Er erzählte mir nämlich immer gern Geschichten und tollte dabei wie verrückt auf dem Baum herum. Wie ein übermütiger kleiner Hund mit dünnen Armen und Beinen und den tiefschwarzen Augen.

Martin hatte schon viel gesehen, Gutes und Schlechtes. Alt und weise war er. Aber auch noch voller Energie ... und trotzdem einsam. Früher, in jungen Jahren, als er noch in der Blüte gestanden hatte, da hatte der Baum viele Blätter, Blüten und Früchte getrieben. Seine Äpfel waren beliebt gewesen bei Jung und Alt. Knackig und süß waren sie gewesen. So mancher junger Bursche war gewagt in den Ästen herumgeklettert, um seine Liebste zu beeindrucken. Je weiter oben, desto mutiger der Bursche und umso höher die Chance, von seiner Liebsten beachtet zu werden. Martin erzählte mir von dem Lachen, den glücklichen Gesichtern.

Heute war der Baum kahl. Keine Früchte mehr, schon seit Jahren nicht. Die Blätter waren von Jahr zu Jahr weniger geworden. Traurig klang Martin nun.

„Große Dürren und regenreiche Jahre sind schuld“, vertraute er mir an.

Doch das Schlimmste war der Verlust seiner Freunde. „Sieh dich um“, sagte er. Die weite grüne Ebene – so leer. Als er ausgewachsen war, war alles voll mit Bäumen gewesen. Jenen magischen Bäumen mit einem lebendigen Apfel als Herzstück. Ein dichter Wald, bevölkert mit Tieren, die bei ihnen Schutz und Nahrung gesucht hatten. Als die Menschen die Sprache der Bäume verlernt hatten, hatten sie begonnen, die Bäume zu fällen. Die Tiere waren verschwunden.

Nur Martin hatten sie stehen lassen. So tolle Früchte, das wäre ja schade. Und als Schattenspender war er zu gebrauchen.

„Da kann ich dir Geschichten erzählen“, freute er sich. Lachend hüpfte er auf den Ästen herum. Sommer! Die schönsten Monate! Vieles war hier geschehen. Die vielen Paare, die er schon gesehen hatte. Manchen hatte er geholfen. Den einen oder anderen geärgert.

„Einer“, erzählte er lachend, „ein hochnäsiger Bursche. Er prahlte, er wäre der Beste und könnte den höchsten Apfel pflücken. Von ganz oben bei den dünnsten Ästen. Er kletterte unter der Ehrfurcht seiner Freunde und seiner Liebsten nach oben. Der Baum bewegte sich leicht im Wind. Der Bursche griff ins Leere und fiel herab. Das Gelächter war groß. Aber aufgeben war nicht drin. In seiner Eitelkeit verletzt, rief der Bursche: Wartet nur, euch werde ich es zeigen! Fürwahr, das tat er. Wieder und wieder kletterte er hinauf. Ich schüttelte ihn noch einige Male ab“, lachte Martin. Vergnügt hüpfte er auf seinem Ast herum. „Aber seine Lektion hatte der Bursche gelernt und so ließ ich ihn gewähren. Der Junge war stolz, als er den Apfel in seiner Hand hielt. Feierlich überreichte er ihn seiner Liebsten und erhielt zur Belohnung seines Mutes einen Kuss. Lachend und glücklich genossen sie noch den Sonnenuntergang, bevor sie verschwanden.“

„Eine schöne Geschichte“, sagte ich.

„Da habe ich noch mehr!“, zwinkerte mir Martin zu und schwang sich weiter in Richtung Baumkrone. „An einen jungen Burschen erinnere ich mich noch sehr gut. Er kam damals mit einem Mädchen. Beide sehr schüchtern. Sie saßen auf der Bank, ein kleiner Abstand zwischen sich. Sie genossen den Sonnenuntergang. Ein paar schüchterne Worte, Blicke nur. Ich hüpfte leise herab und schlich mich hinter sie. Vorsichtig führte ich ihre Hände zueinander. Als sie sich berührten, blickten sie sich an und lächelten. Der Bursche rückte vorsichtig näher an sie heran. Langsam näherten sich ihre Lippen. Dann der erste Kuss!“

Martin hüpfte zu mir herab. Er kletterte auf meine Schulter und machte es sich bequem. Nicht alle Geschichten, die er mir erzählte, gingen gut aus. Manche stritten sich auch. Trotz des wunderbaren Ausblicks. Aber so war das Leben. Es kam und ging wie die Jahreszeiten.

„Komm, lass uns noch etwas klettern!“, rief Martin und war auch schon auf den Baum gehüpft.

Ich lachte und kletterte hinterher. Ich schwang mich am untersten Ast hinauf. Glücklich ließ ich dann für eine Weile die Beine baumeln.

„Was macht ein so hübsches Mädchen wie du da oben auf dem Baum?“ Die Stimme ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Martin hielt still. Er kannte den jungen Mann. Er war oft hier. Ein ebenso ruhiger Mensch wie Anna.

Ich sprang herab. „Ron, was machst du hier?“

Ron lächelte mich an. „Ich wollte einen besonderen Menschen an einem besonderen Ort treffen.“

Martin hüpfte derweil leise in den Ästen herum, ohne dass wir es bemerkten.

„Komm, setzen wir uns hin.“ Ron ließ sich auf die Bank fallen und guckte mich an. Schüchtern setzte ich mich zu ihm. Ich hatte ihn schon oft gesehen und er gefiel mir sehr. Auch Martin wusste das. Er hing im Ast über mir. Er passte auf mich auf.

Ron legte den Arm um mich. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Martin lächelte. Ron passte einfach zu Anna. Jetzt musste er sie nur noch dazu bringen, einander zu küssen. Martin hüpfte herab.

Ich atmete solange Rons Geruch ein. Er roch so gut ...

Er beugte sich vor. „Weißt du, Anna, du bist etwas Besonderes und ich mag dich. Das wollte ich dir schon lange sagen.“

Ich lächelte und schaute ihm in die dunkelgrünen Augen. Er beugte sich zu mir. Ich hatte ein wenig Angst. Aus dem Augenwinkel nahm ich Martin wahr. Er nickte und grinste über beide Ohren. Ich schaute in Rons Augen und lächelte. Dann küsste er mich.

All meine Sehnsucht nach ihm, die heimlichen Blicke. Wie oft hatte ich mir das gewünscht? Er wollte mich gar nicht mehr loslassen.

„Du bist mein Mädchen“, sagte er und gab mir einen Kuss auf die Stirn. So glücklich war ich schon lange nicht mehr gewesen.

Martin hüpfte wieder auf die Äste hoch. Ich hatte ihm schon von Ron erzählt. Dass er meine Gefühle erwidern könnte, wäre mir im Traum nicht eingefallen. Er war der Typ Mädchenschwarm, den alle anbeteten und der im Normalfall die Schüchternen wie mich übersah. Martin lächelte. Er freute sich für Anna. Ein so nettes Mädchen hatte das verdient.

Es war spät geworden. Auch uns gefiel der Sonnenuntergang. Und mir besonders Martins lebendige Erzählweise. Die Stille. Der sanft wehende Wind. Es war wunderschön hier. Ein Platz des Friedens, des glücklichen Seins. Hier war ich gern, hörte Martins Geschichten, genoss den Augenblick mit Ron.

Ich war einer der wenigen Menschen, der die uralte Sprache der Bäume beherrschte. Das war toll. So viele Geschichten konnten sie erzählen. Man konnte viel von ihnen lernen, man musste ihnen nur genau zuhören und die richtigen Schlüsse aus ihren Erzählungen ziehen.

Es wurde dunkel. Wir mussten gehen. Ron nahm meine Hand. Ein letzter Blick zurück. Ich entdeckte Martin auf einem Ast.

„Ich komme wieder“, versprach ich ihm in Gedanken.

Martin hüpfte vergnügt auf und ab, als hätte er mich verstanden. Wehmütig wandte ich mich ab. Die Sonne war fast verschwunden. Martin schaute uns nach und verschwand dann im Inneren des Baumes. Ein letztes Knarzen, dann war es ruhig. Nun stand der Baum starr und still. Wie ein ganz normaler Baum.

Langsam und glücklich machten Ron und ich uns auf den Heimweg.

Ann-Katrin Zellner ist 20 Jahre alt. Sie wohnt in Nürtingen und ihre erste Veröffentlichung war 2011 in der Krimizimmerei von Papierfresserchens MTM-Verlag. Trotz Ausbildung, Nebenjob und eigenem Haushalt findet sie noch Zeit zum Schreiben, meist Gedichte oder Kurzgeschichten. Angefangen hat sie damit 2008. Ansonsten spielt sie Akkordeon, liest gerne Krimis und Thriller, hört Musik und unternimmt etwas mit ihrem Freund oder ihrer Familie.

Auf den Kern gebracht

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