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Barbaratag

Eva blickte aus dem Küchenfenster in das dichte Schneetreiben hinaus. Im Garten konnte man nicht mehr erkennen, wo ihre Mutter im Herbst die frischen Gemüsebeete angelegt hatte. Ein weicher, samtener Teppich hüllte alles zu. Die Obstbäume hatten schon lange ihre Blätter verloren, der Herbstwind hatte noch mit ihnen gespielt und sie in Kreisen zu Haufen zusammengeweht. Jetzt waren alle Äste und Zweige mit Schnee dicht beladen. Die Zaunpfähle trugen dicke Mützen. Bald würde der Wind sie mit sich nehmen. Da sah Eva ihren Großvater aus dem Haus gehen, eine Baumschere in der Hand. Er bahnte sich einen Pfad zum Kirschbaum.

Eva lief vom Fenster weg zur Garderobe und schlüpfte rasch in Mantel und Schuhe. Als sie die Haustür aufriss, rief sie: „Opa, was machst du denn draußen?“ Sie hatte Mühe, den großen Fußstapfen zu folgen, ohne in den Schnee zu fallen.

„Was ich da mache? Das siehst du doch! Ich schneide Barbarazweige ab. Heute ist doch der Barbaratag!“, erklärte Großvater.

„Aber warum machst du das genau heute?“, wollte Eva wissen.

„Das ist ein alter Brauch, der geht schon viele Jahrhunderte zurück. Die heilige Barbara starb am 4. Dezember 306, und am Weihnachtstag sollen auf ihrem Grab Blumen geblüht haben. Wenn wir die Zweige heute ins Wasser stellen und sie gut pflegen und warm halten, dann kann es sein, dass wir zu Weihnachten Kirschblüten im Haus haben. Und da das ein Glücksfall ist, überträgt man dieses Glück auf das kommende Jahr.“ Der Großvater reichte Eva einige Zweige, während seine Augen weitere passende auf dem Baum suchten. Er wollte solche wählen, die dem Baum im Frühling nicht fehlten. Eva betrachtete die Zweige. Ihr fiel auf, dass die Knospen schon ganz schön dick und rund waren, obwohl es doch noch kalt und Winter war. Jede Knospe war gut in eine braune Hülle eingepackt. „Wenn es warm wird, sind die Knospen sofort bereit zu wachsen, dicker zu werden und dann auszutreiben. Diesen Frühling täuschen wir den Zweigen in der warmen Wohnung vor.“

Eva bewunderte diese Knospen, die in – sie rechnete rasch nach – zwanzig Tagen Blüten und Blätter treiben sollten. Sie konnte sich das gar nicht vorstellen. „Opa, das sind nur zwanzig Tage! Das ist doch unmöglich!“

„Wart’s ab! Vielleicht erleben wir eine Überraschung!“ Opa hatte genug Zweige geschnitten. Jetzt steckte er die Baumschere in die Jackentasche und gab Eva die letzten Zweige. Ein beachtlicher Strauß war das geworden!

Als sie zurück zum Haus stapften, bemühte sich Opa, kleine Schritte zu machen, damit Eva im knietiefen Schnee leicht nachkommen konnte. Er guckte einmal zurück und musste lächeln. Eva trug die Kirschzweige so andächtig wie einen teuren Blumenstrauß samt Kristallvase. In der Küche legte Opa die Zweige eine Weile in das Abwaschbecken mit Wasser, dann erst steckte er sie in einen hohen Krug. Während er Wasser einfüllte, erklärte er: „Auf dem Kaminsims haben sie es warm. Und außerdem sehen wir jeden Tag, ob sich an den Knospen etwas verändert. Nun heißt es warten und geduldig sein. Wir Menschen sind häufig ungeduldig, aber die Natur lehrt uns die Geduld!“

Eva guckte die Zweige lange an. In ihren Gedanken hatten sie schon zu blühen begonnen.

Elisabeth Seiberl aus Bad Leonfelden in Österreich ist als Lehrerin an einer Hauptschule tätig. Sie hat bereits mehrfach in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht.

Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 1

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