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Neffe in Not

„Wollen wir uns am Nachmittag treffen?“, fragte Lena ihre Freundin Julia, während die beiden von der Schule heimgingen. „Wir könnten auf den Spielplatz gehen.“

„Gute Idee“, antwortete Julia. „Wie wäre es um halb zwei bei mir?“

Lena nickte zustimmend. „Passt mir gut. Mit den bisschen Hausaufgaben bin ich bis ... Schau doch, da vorne geht Frau Wilfing! Sollen wir sie fragen, ob wir ihr helfen können? Vielleicht bekommen wir dann wieder ein paar ihrer köstlichen Kekse.“

Den beiden Mädchen lief schon das Wasser im Munde zusammen. Frau Wilfing war die beste Mehlspeisenköchin, die sie kannten. Und ihre Kekse schmeckten unbeschreiblich gut. So beeilten sie sich, um Frau Wilfing einzuholen.

„Guten Tag“, grüßten sie freundlich. „Können wir Ihnen irgendwie helfen?“

Frau Wilfing schreckte aus ihren Gedanken hoch. „Was, was ... Ach, ihr seid es“, stammelte sie. „Ich weiß nicht, ich wollte ...“

Lena warf Julia einen besorgten Blick zu. So verwirrt kannten sie die alte Frau gar nicht. Ratlos gingen sie neben ihr her.

Doch nach ein paar Schritten blieb Frau Wilfing vor der Eingangstür zur Bank stehen, zog vergeblich am Türknauf und seufzte: „Auch das noch! Zugesperrt!“

„Aber alle Banken haben über Mittag geschlossen“, meinte Julia erstaunt.

„Ja, ja, mein Kind, du hast ja recht“, antwortete Frau Wilfing. „Aber ich brauche doch so dringend Geld. Jetzt muss ich mich am Nachmittag noch einmal auf den Weg machen. Du weißt doch, wie schwer mir das manchmal fällt. Und heute ist so ein Tag. Ach, diese Aufregung!“

Lena schüttelte verwirrt den Kopf. Dann nahm sie die alte Frau bei der Hand und führte sie wie ein kleines Kind zur nebenan liegenden Bushaltestelle. „Kommen Sie nur, Frau Wilfing. Wir setzen uns jetzt hierher und Sie ruhen sich ein bisschen aus. Vielleicht können Sie uns ja erzählen, was Sie so aufregt.“

Frau Wilfing setzte sich folgsam. Julia und Lena nahmen rechts und links von ihr Platz. So saßen die drei ein paar Minuten schweigend da. Endlich begann Frau Wilfing zu sprechen. „Es war vor ungefähr einer Stunde, da hat Thomas angerufen. Er ist in großen Schwierigkeiten, hat er gesagt, und braucht dringend Geld. Ich bin die Einzige, die ihm helfen kann. Heute Abend kommt ein Bekannter vorbei und holt das Geld ab. Zwanzigtausend Euro! So viel habe ich natürlich nicht zu Hause liegen. Also bin ich gleich losgegangen. Doch jetzt ist die Bank geschlossen. Vielleicht sollte ich hier warten, bis sie wieder aufsperrt. Was meint ihr?“

Lena schüttelte den Kopf. „Dazu ist es doch viel zu kalt. Sie zittern ja jetzt schon. Wer ist denn dieser Thomas?“

„Ja, warte einmal, so genau weiß ich das auch nicht“, antwortete Frau Wilfing mit unsicherer Stimme. „Er hat gesagt, dass er mein Neffe ist und in Italien lebt. Vielleicht ist er der Enkel von Dorothea.“

„Und wer ist Dorothea?“, wollte Julia wissen.

„Das ist meine Schwester.“ Frau Wilfings Stimme war plötzlich wieder fest. „Sie lebte in Tirol, ist aber vor drei Jahren gestorben. Sie hatte drei Kinder und mehrere Enkel. Kann schon sein, dass einer von ihnen in Italien lebt.“

Julia warf Lena einen ratlosen Blick zu. Lena antwortete mit einem Achselzucken. Keines der Mädchen wusste, was da zu tun war. Schließlich erhob sich Frau Wilfing und seufzte. „Ich gehe jetzt nach Hause. Ich muss mich ausruhen, damit ich am Nachmittag wiederkommen kann. Ach, diese Aufregung!“

Als Lena um halb zwei bei Julia läutete, wartete diese schon aufgeregt auf ihre Freundin. „Hast du mit deiner Oma über Frau Wilfing gesprochen?“, wollte sie sofort wissen.

„Ja, schon“, antwortete Lena verständnislos. „Warum fragst du?“ Doch Julia antwortete nicht, sondern fragte selbst weiter: „Und was hat sie dazu gesagt? Hat sie schon die Polizei angerufen?“

„Polizei?“, rief Lena erschrocken. „Warum sollte sie denn das tun? Oma hat sich nur gewundert, dass Frau Wilfing so viel Geld hat.“

„Grüß dich, Lena, ich bin sofort fertig. Julia, beeil dich, wir müssen gleich los!“ Das war die Stimme von Frau Breier, Julias Mutter.

„Aber wir wollen doch auf den Spielplatz gehen“, protestierte Lena.

„Das geht jetzt nicht!“, rief Julia begeistert. „Wir müssen zur Polizei! Und vorher fahren wir noch zu Frau Wilfing! Du kommst doch mit?“ Lena nickte verwirrt.

Vorsichtig öffnete Frau Wilfing die Wohnungstür. „Julia, Lena, was wollt ihr denn hier? Ihr wisst doch, dass ich heute für euch keine Zeit habe.“

Schnell schlüpfte Julia in die Wohnung. „Ja, das wissen wir“, erklärte sie selbstsicher. „Deshalb sind wir auch hier. Meine Mutter möchte Ihnen gerne etwas sagen. Und wenn Sie nachher wollen, bringt meine Mutter Sie mit dem Auto zur Bank.“

„Das würden Sie wirklich machen?“, wandte sich Frau Wilfing an Frau Breier. „Sie müssen wissen, es ist wirklich sehr dringend und ich habe mir schon die ganze Zeit Sorgen gemacht, wie ...“

„Dürfen wir hineinkommen?“, unterbrach Frau Breier den Redefluss. „Es ist wirklich wichtig, was ich Ihnen sagen möchte.“

Frau Wilfing trat zur Seite und dirigierte ihren Besuch ins Wohnzimmer. Sie setzte sich sogleich erschöpft aufs Sofa und die Gäste nahmen ebenfalls Platz.

„Frau Wilfing“, fing Julias Mutter das Gespräch an. „Meine Tochter hat mir erzählt, dass ein gewisser Thomas Geld von Ihnen verlangt hat. Haben Sie schon einmal etwas vom Neffen-Trick gehört?“

„Neffen-Trick, nie gehört“, murmelte Frau Wilfing. „Was hat das mit mir zu tun?“

„Sehr viel sogar. Ich bin mir sicher, dass sie ein Opfer dieses Tricks sind“, antwortete Frau Breier und zog einen Zeitungsausschnitt aus ihrer Handtasche. „Sehen Sie, das war letzte Woche in der Zeitung. Die Polizei warnt vor allem ältere Menschen vor Betrügern. Diese nehmen telefonisch Kontakt auf und stellen sich als Neffe vor. Sie erzählen, dass sie im Ausland leben und dringend Geld benötigen. Und dass sie einen Bekannten schicken werden, der das Geld in Empfang nehmen soll.“

„Ja, genauso war es bei mir“, rief Frau Wilfing aufgeregt. Dann erfasste sie plötzlich die ganze Bedeutung des vorher Gesagten und hauchte: „Sie meinen, dass Thomas gar nicht mein Neffe ist? Dass mir das Geld gestohlen werden soll?“

Julias Mutter nickte. „Wissen Sie ganz sicher, dass Sie einen Neffen Thomas haben?“

„Nein, aber es könnte doch sein. Ich bin alt, da kann ich mich nicht mehr an alles erinnern.“ In Frau Wilfings Stimme schwang Verzweiflung. „Außerdem wusste der Anrufer, dass ich alt bin, dass ich Neffen habe. Woher wusste er das?“

„Auch das steht in dem Zeitungsartikel“, mischte sich Julia ins Gespräch. „Die Betrüger suchen im Telefonbuch nach Personen mit altmodischen Vornamen. Wie heißen denn Sie mit Vornamen?“

„Aurelia“, antwortete Frau Wilfing und stimmte zaghaft in das Gelächter der Mädchen ein. Doch sie wurde schnell wieder ernst. „Was machen wir jetzt?“, wollte sie wissen.

„Wir fahren zur nächsten Polizeidienststelle“, erklärte Frau Breier bestimmt.

Frau Wilfing war noch nicht ganz überzeugt. „Und wenn es doch mein Neffe ist?“

„Dann wird er das Geld morgen auch noch nehmen!“, rief Lena übermütig.

Am nächsten Tag durfte Julia in der ersten Unterrichtsstunde aus der Tageszeitung vorlesen: „Dank des beherzten Eingreifens zweier Mädchen konnte ein Trickbetrüger verhaftet werden.“

„Aber das stimmt doch gar nicht“, flüsterte Lena ihrer Freundin zu. „Wir haben doch gar nichts gemacht.“

„Ist doch egal“, flüsterte Julia zurück. „Hauptsache ist, dass Mama auch zum Dankesessen bei Frau Wilfing eingeladen ist.“

Sissy Schrei, wurde 1967 in Wien geboren und wuchs in Klosterneuburg auf, wo sie auch die Volksschule und das Gymnasium besuchte. Nach der Matura studierte sie in Wien Mathematik und Physik auf Lehramt. Sissy Schrei lebt zurzeit in Maria Lanzendorf. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und ist im Lehrberuf tätig. Neben dem Schreiben gehören zu ihren Hobbys Lesen und die Beschäftigung mit Geschichte.

Die Krimizimmerei

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