Читать книгу Die Krimizimmerei - Martina Meier - Страница 12
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Kleinholz
Konrad drehte seinen Fund in der Hand. In der Ostersonne blitzte es golden auf: der heilige Christophorus, ein übliches Motiv auf Schlüsselanhängern für Autoschlüssel aus Kunststoff, Glas oder Silber. Nur einen Mann kannte er, der prächtiges Gold bevorzugt hatte ...
Und dann dachte er an den stürmischen Februartag, an dem der alte Apfelbaum, den er zu Kleinholz machen sollte, gefallen war: Ein dumpfer Aufschlag, das Splittern trockener Äste und ein Laut wie ein keuchendes Stöhnen, als totes Wurzelwerk und gefrorene Erde mit Wucht aus dem Grund gerissen worden waren, hatten den atemholenden Sturm übertönt. Dann hatte der mit voller Wucht wieder eingesetzt, Gehör und Gesicht mit Brüllen und frostigem Weiß betäubt. Konrad hatte allein am Giebelfenster gestanden.
Die Grippe hatte damals fast jeden erwachsenen Einwohner des Dorfes in ihren Klauen gehabt. Wer nicht schon wie seine Eltern zu Bett gelegen hatte, schleppte sich, mit bösartigem Fieber geschlagen, mühselig durch den kalten Alltag. Eis und Schnee hatten die Straßen unpassierbar gemacht. Nach Tagen erst kam im Gefolge von Räumfahrzeugen wieder der Kleinbus mit Brot und Neuigkeiten. Konrad konnte wieder in die Odenwaldschule fahren, das heißt, der Großvater fuhr ihn hin und sofort wieder zurück. Der Winter dauerte im Odenwald lang und war hart wie der Wind und die knorrigen Bäume.
Seit jenem Februarsturm musste das von der dünnen Kette gerissene Goldstückchen unter dem inzwischen längst von Krone und Wurzelballen befreiten Baumstamm gelegen haben!
Winterfrost und Schnee, Frühlingsregen und Schlamm hatten dem Gold nichts anhaben können.
„Die Sonne bringt es an den Tag ...“ Konrad lächelte in Erinnerung an die Verse aus dem Schulbuch, obwohl es nichts anderes zu belächeln gab.
Jemand hatte dem Besitzer des Autos die Schlüssel aus der Hand gerissen, just in jener Stunde vor dem Sturm. Denn Konrad hatte den alten Nachbarn durch die frostklaren Scheiben noch mit dem vollständigen Schlüsselbund gesehen. Der weißhaarige Mann war gegangen, die Tür der Garage zu schließen. Er hatte sich aber auf halbem Weg umgedreht und war auf den uralten, nahezu abgestorbenen Apfelbaum zugeschritten, denn dort hatte unter der ausgreifenden, zu lang nicht ausgeholzten Krone jemand gestanden. Wer?
Konrad grübelte und grübelte: Grippeferien, Wintergewitter, Blitzeis, Schneesturm ... es war alles schon so lange her.
Der Nachbar war tot gefunden worden. Wo? Ein Unfall, so hatte der Arzt gesagt, der dann doch noch gekommen war. Aber die Polizei hatte viele Fragen im Dorf gestellt, wie Konrad in den nächsten Ferien erfahren hatte. Sein Großvater hatte ausweichend berichtet. Was genau? Wie viel Zeit war vergangen seitdem?
Konrad blickte durch die Zweige der nahebei stehenden jungen Apfelbäume. Goldglänzende Strahlen fielen durch Grün und Blüten, Frühlingssonne, Apfelblüten. Konrad konnte nicht aufhören zu grübeln, während er mit der Motorsäge seine Arbeit fortsetzte. Der Enkel und Erbe des toten Nachbarn hatte ihn heute gebeten, den Baum zu Brennholz zu zerkleinern: Ein bisschen Taschengeld könne ein Schüler ja immer gebrauchen. Konrad hätte gern den dicken Stamm im Gras liegen lassen. Doch es war nicht seines Vaters Obstwiese, die lag gleich nebenan. Hier gab es keine Zäune, jeder wusste, was ihm gehörte. Eigentlich war das Dorf eine stille, blühende Idylle, wenn nicht gerade eine Motorsäge kreischte. Und plötzlich erinnerte sich Konrad:
Als im Winter der Baum noch stand, hatte er durch das Fenster nicht wirklich die Bewegungen gesehen, die er sich eingebildet hatte: ein gewaltsames Entreißen des Autoschlüssels. Aber er hatte Worte gehört, die ihm jetzt wieder einfielen: „Was willst du denn noch damit? Lass endlich los ...“ Die Stimme war die eines jungen Mannes gewesen. Konrad hatte die Antwort nicht gehört, nur den Donner nach dem ersten Blitz des Wintergewitters, das den Schneesturm angekündigt hatte. Konrad stellte den Motor aus. Kleinholz kann warten! Zuerst war die Stille ohrenbetäubend. Dann jedoch hörte Konrad ein leises Sirren, den Wind in den Wipfeln, der schwieg im Odenwald nie.
„Großvater, erinnerst du dich?“ Konrad musste reden. Er wurde mit der Stille und den Gedanken nicht allein fertig. Der Großvater hörte zu. Er teilte nüchtern sein Wissen mit. Die knappen Fakten passten zu Konrads Befürchtungen. Der Nachbar war tot aufgefunden worden. Ein Sturz! In der Kopfwunde waren andere Holzfasern gefunden worden, als der weiß bestäubte, blutbespritzte Kleinholzstapel im Schuppen hergegeben hatte. Der Sturm hatte die Tür ein paarmal gegen die Wand krachen lassen, ehe massige Schneeverwehungen sie zugeschoben hatten.
„Draußen tobte eine kalte Hölle. In der Hölle ist keine Stille!“ Großvaters Hand lag beruhigend auf Konrads rechter Schulter. Sie erhoben sich beide von dem halb zersägten Stamm. Konrad zeigte sodann den Blickwinkel aus seinem Fenster im ersten Stock. Er hätte unmöglich die Gestalt erkennen können, die die zornigen Worte ausgestoßen hatte, höchstens den Schatten unter den kahlen Zweigen. Konrad hatte etwas hinzufantasiert.
„Du bist kein guter Zeuge“, sagte der Großvater. Er erklärte, dass die Polizei Zeugen gesucht hätte, Fremdeinwirkung vorausgesetzt hätte. Es gab nach drei Tagen kaum verwertbare Spuren unter dem Schnee, keine Fußspuren, keine Schleifspuren. Er selbst habe den Nachbarn hinter der halb offenen Schuppentür vermutet, nachdem er vergeblich an Haus- und Garagentür gerüttelt hätte. Nur seine, Großvaters, Schritte überm Schnee hatte die Polizei gefunden, die er selbst nach dem Arzt sofort benachrichtigt habe.
„Wer hat die Garagentür geschlossen? Wer hat den Enkel gerufen?“ Konrad musste sich damit zufriedengeben, dass die Polizei Fragen gestellt, jedoch wenig Auskunft gegeben hatte. Großvater schwieg still.
Konrad versuchte, sich die zornige Stimme in Erinnerung zu rufen. Er wurde durch Motorengeräusche gestört. Der Enkel des Toten steuerte dessen Auto langsam in die Einfahrt. Die Tür klappte leise zu. Klirrend fiel der Schlüsselbund auf den Kies. Konrad sah genau hin: nichts, kein Rest vom Goldkettchen! Die ärgerliche Stimme des jungen Mannes schrillte: „Du Drückeberger, Kleinholz habe ich gesagt, nicht Klötze!“
Als der Großvater ihn fragend ansah, hob Konrad zweifelnd Augenbrauen und Schultern. „Ich bin kein guter Zeuge!“
Konrad war zumute, als würde er die ländliche Stille und die Idylle selbst zerschlagen, als er die Axt schwang, um endgültig Kleinholz aus dem alten Apfelbaum zu machen. Er hatte sein Vertrauen, seine Gewissheit und Sicherheit stückweise verloren. Vielleicht hatte es in seinem stillen Winkel Totschlag oder Mord gegeben? Großvater hatte von Streit, Feigheit und unterlassener Hilfeleistung gesprochen. Die Ungewissheit machte für Konrad den jungen Nachbarn auf einmal fremd. Unsicher hatte er den Großvater gefragt, was er tun könne.
„Nichts“, hatte der Großvater traurig gesagt, „damit müssen wir leben, ich und du auch!“
Der Berg gespaltene Scheite wuchs und Konrads Zorn nahm ab. Das sollte ihm nie wieder passieren. Er würde in Zukunft aufmerksamer sein. Schließlich schulterte er seine Axt und ließ den Haufen Kleinholz liegen. Von Stapeln war ja nicht die Rede gewesen und auf das Geld konnte er auch verzichten! Konrad wusste einfach nicht, wie er mit dem Mann umgehen sollte, den er des Mordes verdächtigte, vielleicht zu Unrecht verdächtigte.
Xenia D. Cosmann, ist in Berlin-Spandau geboren, hat in Berlin und München gelebt, dort Geschichte und Philosophie studiert und in Museen, Bibliotheken oder Archiven gearbeitet. Sie schreibt Lyrik, Kurzprosa und Romane. Ihre Arbeiten richten sich häufig an Kinder und „an das Kind in der Frau“.