Читать книгу Iss oder stirb (nicht)! - Martina Salomon - Страница 5
Kleine Typologie des urbanen Essensneurotikers
ОглавлениеEin echter Bobo (bourgeoiser Bohemien) fährt neuerdings Rad statt Porsche, aß bis vor Kurzem nur Eier von der Biobäuerin (Geheimtipp!), hat aber nun vorübergehend auf vegan, also Tierprodukte-frei, umgestellt und hält Gentechnik für Teufelswerk – ohne freilich an ein höheres Wesen zu glauben. In seiner Luxusküche (mit Weinkühlschrank) bekocht er Freundesrunden, unter der Woche bleibt der Herd aber kalt. Als Kreativer kommt er ja erst spätabends heim. Er ist vom „Ende des Wachstums“ überzeugt, pilgert gelegentlich zu einer Energetikerin und beschäftigt sich hingebungsvoll mit seinen diversen Unverträglichkeiten. Gemeinsames Erkennungszeichen der weiblichen Spezies: Wasserflasche immer in Griffweite, als wäre man auf einer dauerhaften Wüstentour.
Praktischerweise lassen sich die Ticks der Essensbetulichen immer leichter ausleben. Man trifft die gleichgesinnte, saturierte Oberschicht, die gern ein bisschen mehr fürs Essen ausgibt, im Veggie-Restaurant. Sogar einen Allergiker-Supermarkt und ein Allergiker-Café gibt’s mittlerweile in Wien. Anders als bei Bertolt Brecht in der „Dreigroschenoper“ kommt jetzt die Moral vor dem Fressen. Essen wird zur Weltanschauung. Man darf sich über andere erhaben fühlen, die mit ihrem Körper – ach was: mit der ganzen Welt! – weniger achtsam umgehen.
Wer sich über dieses Lebensgefühl milde lustig macht, kann nur ein neoliberaler Industrieknecht sein, oder? Denn beim (gesunden) Essen hört sich in Österreich der Spaß auf. Hier herrscht heiliger Ernst! Und eine unglaublich gute Verdienstchance für die Lebensmittelindustrie. Denn eine überängstliche Gesellschaft, bedacht auf das eigene Wohlergehen, lässt sich einreden, dass wir uns durch Lebensmittel schleichend vergiften.
Ist das Essen so ungesund wie noch nie? Unsinn, genau das Gegenteil ist der Fall! Noch nie in der Geschichte war es so einfach, sich gesund und sicher zu ernähren.