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Richtige und problematische
Diagnosen

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Früher kam kaum jemand auf die Idee, eine Nahrungsmittelallergie zu diagnostizieren. Die Betroffenen, die es natürlich gab und weiterhin gibt, hatten bis zu ihrem richtigen Befund oft einen langen Leidensweg hinter sich. Doch jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung aus: So klagte Kollegin L. bei ihrem Hausarzt über ständige Bauchschmerzen. Man riet ihr ohne Umschweife, auf bestimmte Lebensmittel zu verzichten, weil es sich vielleicht um eine Nahrungsmittelunverträglichkeit handle. Doch die Schmerzen blieben, und die ohnehin dünne Frau nahm weiter so stark ab, dass sogar Magersucht diagnostiziert wurde. Erst nach einem Jahr erkannte man die eher banale Ursache: ein Magengeschwür. Eine Krankheit, die irgendwie aus der Mode gekommen ist, während derzeit jeder, der auf sich hält, auf irgendein Lebensmittel verzichten muss oder zumindest ausprobiert, ob es ihm (meist ihr – Nahrungsphobiker sind eher weiblichen Geschlechts) dann besser geht.

Ein neues Allheilmittel ist da! So riet eine Promi-Schönheitsmedizinerin in der Arztsprechstunde einer Boulevardzeitung gegen Schweißfüße doch glatt: „Probieren Sie, ein Jahr lang Gluten wegzulassen.“ Gluten, das sind überhaupt ganz spezielle Bösewichte im Essen, dabei sind die sogenannten Klebereiweiße dafür verantwortlich, dass unsere Brote und Backwaren so schön aufgehen, locker und flaumig werden. Ausgerechnet die Gesundheitsapostel nehmen übrigens recht viel davon auf, weil sie auch als Füllmittel für Light-Produkte und als Fleischersatz (Seitan) verwendet werden.

Bei rund einem Prozent der Bevölkerung können diese Proteine aber tatsächlich zu einer entzündlichen Erkrankung der Darmschleimhaut führen, was sehr selten tödlich verlaufen kann. Menschen mit Zöliakie sind wirklich krank, müssen auf Gluten verzichten. Bei allen anderen nützt ein Konsum glutenfreier Produkte nur denen, die sie erzeugen. Der Handel freut sich über jährliche Umsatzzuwächse im zweistelligen Prozentbereich. Gern werden dabei auch Waren als glutenfrei (oder auch laktosefrei) ausgeschildert, die ohnehin nicht im Verdacht stehen, selbiges zu beinhalten.

Essen wird unnötig pathologisiert. Hier ist ein Bedrohungsszenario entstanden, das immer häufiger das logische Denken ausschaltet. Wer gern größere Mengen an steirischen Käferbohnen mit Kernöl verdrückt und dann an Blähungen leidet, sucht mittlerweile eher einen Arzt auf, statt sich zusammenzureimen, dass das eine mit dem anderen zu tun haben könnte. Der „Morbus Google“ (samt Selbstdiagnose) grassiert: Im Internet finden sich die bizarrsten Theorien plus dubiose Heilmittel – und jede Menge Promis als Role Models, die durch gluten-/laktose-/fruktosefreie Ernährung jetzt quasi erleuchtet sind. Natürlich spielt auch der Nocebo-Effekt eine Rolle: Wenn ganz normale Inhaltsstoffe lange genug dämonisiert werden, fühlen wir uns schlecht, wenn wir sie einnehmen. Umgekehrt geht es uns – Placebo-Effekt – gleich besser, wenn wir auf sie verzichten.

Haben wir eigentlich sonst noch Sorgen? Oder gar eine „nationale Essstörung“?

Ein Boom, der den tatsächlich Leidenden durchaus auf den Kopf fallen kann, weil man sie nicht mehr ernst nimmt, vielleicht sogar als hysterisch belächelt. Apropos Hysterie: Sie ist gerade nicht en vogue, aber wie manche Krankheiten geblieben, nur unter neuen Bezeichnungen: Litt man um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert an Neurasthenie (bei den k. u. k. Beamten sehr beliebt und als Lehrerkrankheit verspottet), hieß das bei Frauen Hysterie, dann Depression und neuerdings Burnout, wozu sich auch Männer bekennen dürfen, ohne gesellschaftliche Ächtung fürchten zu müssen.

Haben Gläubige früher aus religiösen Gründen gefastet (oder entsprechende Gebote durch großzügige Interpretation umgangen), muss man nun eine allfällige Übersäuerung bekämpfen, Schlacken abbauen und den Körper entgiften. Viele Menschen führen damit völlig unnötig das Leben von Kranken. Das passt gut zur neuen Innerlichkeit. „Bewusstes“ Essen ist die neue Religion einer areligiösen Gesellschaft.

Iss oder stirb (nicht)!

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