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1. Kapitel

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„Jetzt hat er ihn aber mal richtig zusammengeschissen!“ Befriedigt ließ Rosi ihren Rucksack von der Schulter und vorsichtig auf den Boden gleiten, denn kein normaler Mensch feuert einen Rucksack, der Kameras im Wert von mehreren Tausend Euros enthält, so in die Ecke, als enthielte er abgegriffene Taschenkrimis, ausgeleierte Trainingshosen und abgegessene Bananenschalen. Das ist eher meine Art der Rucksackbehandlung.

„Wer hat wen angeschissen?“ Wenn es mir danach zumute ist, kann ich gleichzeitig reden und zur Begrüßung küssen.

Rosi allerdings auch: „Na, von Kerkbaum den Schmidtken!“

„Immer noch wegen der vermurksten Geschichte in dem Anthroposophenheim?“1

„Ja, auch. Von Kerkbaum sagte ihm, er habe mehr Vorurteile in seinem Kopf als zwanzig fundamental-katholische Lateinlehrerinnen und wenn er nur halb so viel Verstand hätte wie arrogante Ansichten, könnte er in Nullkommanichts einen Nobelpreis in Kriminologie erwerben!“

Sie warf sich auf ihr Sofa und ich sauste los, um zwei Gläser Saft aus ihrer Küche zu holen. Ich war anlässlich eines Vortrages über Gewaltprävention, den das örtliche Haus für geschlagene Frauen, der Kinderschutzbund und die Kripo organisiert hatten, in Rosis hübscher Kleinstadt zwischen Bergischem- und Sauerland zu Besuch. Der Ort mit seinen fachwerkreichen Häusern und den in unendlichen Grautönen gedeckten Schieferdächern wirkte heimelig. Eigentlich stamme ich ja aus Westeuropa, also aus der linksrheinischen Eifel, aber ein etwas mörderischer Selbstverteidigungskurs in einem gewerkschaftsnahen Tagungshaus Mitteleuropas, genauer gesagt in den unendlichen Wäldern des sauerländischen Mittelgebirges, hatte mich verschiedenster Mordanschläge auf meine werte Person ausgesetzt sowie andere, sehr sympathische Personen, wie zum Beispiel die Polizeifotografin Rosi Kramer, in Lebensgefahr gebracht. Letztendlich gelang mir die Lösung meines ersten Falles, und wie das Leben so spielt, fand ich mich, gewissermaßen als Lohn für alle meine dortigen guten Taten, anschließend in den Armen dieser wunderlieben, lockigen Fotografin wieder, in denen ich, metaphorisch gesprochen natürlich, bis heute zu liegen die Freude habe.2

„Danke -“ Sie nahm das Glas entgegen und zog mich auf das Sofa herunter. „Aber dieser Schmidtken sollte uns eigentlich egal sein. Erzähl, was hast du heute gemacht?“

„Nichts von Bedeutung, nur den gestrigen Vortrags- und Diskussionsabend ausgeschlafen.“

„Die drei Weizenbier?“

„Ja, die auch! Also, er ist degradiert, die Schulterklappen abgetrennt, die feine Lederjacke in Fetzen gerissen und Schmidtken damit das arrogante Lächeln vom Gesicht gewischt?“

„Nicht ganz – aber fast! Von Kerkbaum ist ein gütiger Vater in allen Lebenslagen, selbst solchen Kreaturen wie Schmidtken gegenüber.“

Vater – okay, über das gütig mochte man sich streiten, denn wir hatten ihn durchaus auch schon als etwas hinterhältig erlebt. Als Folge unseres ersten Falles im Sauerland hatte von Kerkbaum, Rosis und Schmidtkens gemeinsamer Vorgesetzter, eine seltsame Intrige eingefädelt, die uns alle drei – er nannte uns seitdem übrigens das Sauerland-Trio! – in eine anthroposophische Institution für Erwachsene mit geistiger Behinderung führte. Ein alter Freund von ihm war dort mächtig in Schwierigkeiten geraten. Schmidtken hatte sich vor Ort allerdings wahrlich nicht als der geniale Aufklärer erwiesen. Ohne das schnelle und mutige Eingreifen der so genannten `Behinderten` selbst läge ich nun wohl in der Familiengruft und ein irrer Schlächter liefe immer noch weiter frei in der Landschaft herum!

„Schmidtken in die Produktion?“ Ich fuhr mit allen meinen Fingern durch Rosis stürmische Locken und vergaß den Orangensaft im Glas und den Eintopf im Ofen.

„So ungefähr. Von Kerkbaum hat ihm einen leichten Fall mit viel Lauferei zugeteilt. Diese Bande, die hier in der Gegend in letzter Zeit so viele Kioske überfallen und aufgebrochen hat, ist gestern Nacht weit über ihr sonstiges Maß hinausgeschossen: Die Kerle haben eine Kioskfrau erschlagen!“

„Oh!“

„Jana, wenn du dir überlegst, in welchem Alter Jugendliche heutzutage kriminell werden, Tankstellen ausrauben, Autos klauen und sogar Leute umbringen – es ist traurig!“

„Und wir Frauen halten derweil kluge Vorträge über Gewaltprävention!“

Es war eine ganze Vortragsserie zum Thema sexuelle Gewalt, die, auf Anregung verschiedener Frauen und durch Rosis berufliche Kontakte gefördert, in ihrem Ort stattfand. Vorige Woche hatte eine Juristin gesprochen, davor die Woche eine Psychologin zum Kindesmissbrauch, ich am gestrigen Abend über Deeskalationsmaßnahmen an Schulen, nächste Woche würde ich noch einmal vor einer Elterninitiative des hiesigen Gymnasiums sprechen. An dem Wochenende dazwischen gab ich einen Wen-Do-Grundkurs für zwölf Mädchen einer Hauptschule. Die Tage, an denen ich keine Pflichten hatte, verbrachte ich mit Spazieren gehen, für meine Liebste und mich russisch, chinesisch oder italienisch kochen, Schundromane lesen sowie allerlei gemeinsamen Aktivitäten.

„Als du heute früh deine Weißbiere ...“

„Na, nicht doch Rosi, die hochpolitischen Diskussionen!“

„Gut, gut! Also, als du das Alles noch ausgeschlafen hast, haben die Kollegen mich zum Fotografieren an den Kiosk geschickt. Schmidtken war bereits gestern Nacht vor Ort. Immerhin – pflichtbewusst ist er ja!“

„Wann ist denn der Überfall passiert?“

„Ach, irgendwann wohl zwischen zehn und zwölf Uhr – eher zwölf, gab der Pathologe kurz vor Feierabend noch durch. Die Frau hatte ihren Stand in der Nähe des Bahnhofes und hielt offen, bis der letzte Zug durch war.“

„Als wir bereits mit den Organisatorinnen in der Kneipe waren?“

„Ja. Das Schlimme ist...“, Rosi trank nachdenklich einen Schluck Saft und richtete ihre honigfarbenen Augen auf mich, „... ich kannte die Frau sogar ein wenig.“

Rosi stammt eigentlich vom Bodensee und hat einen sehr starken alemannischen Akzent, der immer dann besonders durchklingt, wenn sie betroffen ist oder sich sonst aufregt. „Und keiner hat etwas gesehen? Euer Bahnhof ist nach der Rushhour tatsächlich nicht mehr ein Abbild des brodelnden Lebens. Aber immerhin doch der Bahnhof einer mittleren Kleinstadt mit kulturellen Bedürfnissen in der nächsten Großstadt? Da kommen doch immer noch allerlei Nachtschwärmer und Theaterbesucher mit dem letzten Zug zurück?“

„Nein – kein Mensch!“ Sie schaute an mir vorbei in Richtung Fenster. „Bei all den anderen Überfällen hat fast immer irgendjemand irgendetwas gehört oder gesehen. Deshalb wissen wir ja auch, dass es sich sehr wahrscheinlich um eine Bande von Jugendlichen handelt.“

„Wenn du jemanden totgeschlagen hättest, würdest du auch nicht mehr lange dort herumstehen und allzu großen Lärm machen!“

„Eigentlich sind sie noch nie in dieser Weise tätlich geworden.“ Rosi runzelte die Stirn und legte sich den kühlen Glasrand an die Schläfe.

„Die anderen Kioskbesitzer waren doch immer schon zu Hause. Sie ist sicherlich die Einzige gewesen, die so spät abends noch geöffnet hatte. Damit haben die Kerle nicht gerechnet – Rums – Schlag...! Und ab klammheimlich, schnell und leise!“

„So ähnlich mag das wohl gelaufen sein. Wirklich übel! Sie war eine Nette. Liebäugelte übrigens auch mit der hiesigen Frauenszene. Ich habe sie hin und wieder auf Festen oder größeren Veranstaltungen gesehen. Sie hatte ein tolles Mundwerk, fast so wie du, mein Herz.“ Sie lächelte mich mit diesem Blick an, der mich auf der Stelle durch die Sofakissen hinschmelzen ließ.

„Aber bitte!“

„Betonte die Worte wie du: ‚Fisternöllschen’ zum Beispiel.“

Rosi ist hinreißend, insbesondere, wenn sie versucht, meinen flotten, mit allen Abwässern des Altvaters Rhein gewaschenen Tonfall nachzuahmen! Während wir Rheinländerinnen meistens unser Leben lang unfähig sind, das CH und das SCH auseinander zu halten – wir essen und betreten Kirschen gleichermaßen – sind die Bewohnerinnen der voralpinen Seen auch nicht im Entferntesten in der Lage, das SCH zu artikulieren, nicht einmal ein sauberes CH, welches andere Leuten unter die Zungenspitze legen. Alles bleibt ihnen regelmäßig im Halse stecken – und ‚Fisternöllschen’ auf jeden Fall.

Rosi Kramer, deren hoch privilegierte Geliebte ich zu meinem Glück bin, so dass sich anstrengende Aktivitäten wie Seitensprünge oder Zweitbeziehungen angenehmerweise erübrigen, runzelte nachdenklich die Stirn. Sie ließ den Saft in ihrem Glas schaukeln und rückte ein wenig aus meiner liebenden Umarmung heraus. Das macht sie immer so, wenn sie über etwas nachdenkt. Irgendwann hat es dann den Anschein, als stelle sie ihre Augen auf Fernsicht ein. Aber eine Fernsicht, die durch innere Landschaften streift, hunderte von Archivschubladen im Kopf aufreißt und tausende von Kontaktabzügen vor der Erinnerung vorbei ziehen lässt.

Rosi Kramer, die Polizeifotografin, hat mehr als ein visuelles Gedächtnis, denn so simpel als ‚Gedächtnis’ lässt sich ihre Fähigkeit nicht mehr beschreiben, die sämtliche, aber auch sämtliche je von ihr gemachten Fotografien eines fast fünfzigjährigen Fotografinnenlebens auf Abruf im Kopf bereit hält.

Ein Wunder, nicht nur für solch kuckfaule Personen wie mich!

Schauen, kucken, beobachten, betrachten und ähnliche Tätigkeiten finde ich ungeheuer anstrengend. In Museen, selbst in naturwissenschaftlichen, die eher meinen Interessen entsprechen, überfällt mich meist gleich bei der Eingangstüre ein unwiderstehlicher Gähnzwang.

Ich bin kaum weit- und ebenso wenig kurzsichtig, aber viele blaue Flecken und ein Fahrstundensoll von annähernd dreißig Stunden haben mich gelehrt, dass ich eigentlich die Welt eher flach wahrnehme, wie einen Kinofilm, weshalb ich auch gerne ins Kino gehe. Da zappelt diese flache Welt und ich kann ihre Tiefenschärfe bemerken, denn das ist ja der Sinn dieser bunten beweglichen Illusion.

Möglicherweise ist das alte Echsenstammhirn ein bisschen überproportional bei mir entwickelt: Stille Dinge entgleiten mir rasch: Statuen, Tapetenmuster und Keramikornamente. Ich liebe das, was sich bewegt: Im Wind wehende Bäume, das vor- und zurück schwappende Meer, tanzende Frauen und springende Hunde, und bewege mich deshalb selber auch sehr viel. Zum Leidwesen der Menschen in meiner Umgebung, die diese Zappelei eines stämmigen Kämpferinnenkörpers vor ihren Nasen erdulden müssen.

Die Art, wie ich als Kind mühseligst das Schreiben erlernte, muss meine Erziehungsberechtigten sehr erschrocken haben. Nur die Tatsache, dass ich in rasanten zwei Wochen oder gar Tagen lesen lernte, beruhigte sie einigermaßen in ihren Befürchtungen, etwas lern-, leistungs- oder gar geistig Behindertes in die Welt gesetzt zu haben. Aber Lesen hat eben etwas mit den Ohren zu tun: Natürlich kann jedes halbwegs aufgeweckte Kind einen Text, der schon dreimal von anderen MitschülerInnen vorgestottert wurde, dann auswendig herunterbeten! Da braucht`s echt keine Buchstaben mehr.

Was in einiger Entfernung platt ist und nur durch die Beweglichkeit der flitzenden und flatternden Kinobilder Tiefenschärfe aufweist, diese seltsame Welt, genannt Erde des ausgehenden 20. Jahrhunderts, erhält in der Nähe ihr Profil durch eine Wahrnehmung, die der anthroposophische Teil meiner Familie „Bewegungssinn“ nennt und die mir in meinem Beruf als Lehrerin für Selbstverteidigung und Selbstbehauptung sehr zustatten kommt: Ich spüre sehr gut, was sich wo in Bezug auf meinen Körper bewegt, parke Güllefässer oder Wohnmobile rein nach dem Gefühl für die Abstände ein und versuche Frauen, Mädchen und Menschen mit Behinderungen aller Art wenigstens eine Ahnung dieses Gefühls für Grenzen und grenzüberschreitende Körper, die meistens dem anderen Geschlecht gehören, zu vermitteln, oder Orientierungshilfen in dunklen Straßen und gefährlichen Wohnzimmern.

„Irgendetwas war anders als bei den Überfällen davor.“

„Wie – anders?“ Ich schrak aus meinen Selbstbetrachtungen hoch.

„Ich krieg es nicht zusammen.“

Rosi legte den Kopf schief und schaute zum Fenster hinüber, was aber, wie ich wusste, eine Illusion war, denn sie kramte eigentlich eher irgendwo schräg in ihrer Erinnerung herum.

„Der Eindruck, weißt du, der Gesamteindruck ...“

„Ja?“

Man sagt mir nach, dass ich sehr helle, blaue Augen habe und deshalb glaubt kein Mensch, dass es eigentlich meine Ohren sind, auf die man sein Misstrauen richten sollte. Aber Segelohren sind nun mal kein solch schönes Kompliment wie keltenblaue Augen, auch wenn sie das Niesen eines Regenwurmes an einem herbstlichen Nebeltag hören.

„Ich würde gerne die verschiedenen Fotoserien von den Überfällen noch einmal vergleichen.“

„Na, dann schaust du halt gleich morgen früh mal nach?“

„Weißt du, Jane, die Ermordete hat sich auch sonst für die Menschen interessiert: Häufig standen Leute stundenlang an ihrem Kiosk herum, ohne dass sie eine Zeitung kauften!“

„Mit anderen Worten, sie ist es dir wert, gleich jetzt noch einmal die Fotos im Labor anzuschauen?“

„Genau!“ Rosi holte ihren Blick in unsere Gegenwart zurück. „Woher weißt du das?“

„Für Leute, die dir nicht wichtig sind, bist du selten bereit, freiwillige Überstunden abzudienen.“

„Wir kucken nur schnell im Fotoarchiv nach. Wir wollten doch eh` noch einen Kleinen ziehen gehen, da kommen wir fast am Rathaus vorbei.“

„Einenziehengehen“ heißt auf Alemannisch ein Bier trinken.

„Außerdem“, Rosi war schon aufgestanden, „ist heute Abend Frauenbeiz!“

Auf Hochdeutsch: „Frauenkneipe“, eine nette Sitte, die viele alternative oder links angehauchte Kneipen in der deutschen Provinz eingeführt haben: Ein Abend, an dem nur Frauen in die Kneipe dürfen. Reine Frauenkneipen halten sich bei uns nur in den Millionenstädten und auch da nur mit Ach und Krach oder Hängen und Würgen.

„Was ist mit dem Abendessen?“

Als hätten die sich miteinander verbündet, fingen unsere Mägen nun unisono an zu protestieren, zu knurren wie ein Haufen Löwenbabies. Also gab es zuerst noch den Eintopf mit Weißbrot und Quarkhäufchen drauf. Solche Feinheiten gehören zu meinem unbewussten slawischen Erbe.

Dann machten wir uns Hand in Hand durch einen leichten bergischen Nieselregen auf in Richtung Rathaus, in dem die Institutionen der Kriminalpolizei untergebracht sind.

1 siehe meinen Kriminalroman: „Herz aus Stein.“

2 siehe den Krimi unter dem Pseudonym Magliane Samasow: „In Teufels Küche.“ Elsdorf, 1999 kbv-Verlag

Der Kamin

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