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2. Kapitel

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Unter der Türe mit der Aufschrift „Fotolabor und Archiv“ drang Licht hervor, als wir im Rückgebäude des von Fachwerk durchzogenen Rathauses den langen Gang des Kommissariats entlanggingen.

Rosi stieß, ohne anzuklopfen, die Türe ihrer Arbeitsräume auf. „Wer ist denn da? Um diese Zeit?“ Schmidtken schaute von einem großen Leuchttisch, der quer hinten im Raum unter einer Fensterfront stand, hoch.

Das Licht warf von unten merkwürdige Schatten über seine wohlgepflegte Gestalt und gab seinem Gesicht tatsächlich den Anschein eines zutiefst beleidigten Adlermännchens. Oder sollte von Kerkbaums Standpauke tatsächlich Wirkung gezeigt haben?

„Was machst du hier um diese Zeit?“ Rosi trat an den Leuchttisch. Dadurch wurde der Blick frei auf meine bescheiden hinter ihr drein stolpernde, füllige Gestalt.

„Oh! Nicht Sie auch schon wieder!“ Schmidtken ließ ein paar Bögen auf den Tisch gleiten und griff sich an die Stirne. Rosi lachte mir über die Schulter zurück zu.

„Dein Name fiel für seinen Geschmack ein bisschen zu häufig heute aus Kerkbaums wütendem Mund! Ja – sie auch!“, wandte sie sich wieder an ihren unglücklichen Kollegen. „Und was machst du hier in meinen Räumen?“ Sie trat energisch vor und fasste nach den Fotografien, die auf den hellen Tisch gefallen waren.

„Diese Zeitungsfraugeschichte ...“

„Du auch?“ Sie sah Schmidtken fragend an.

„Es ließ mir keine Ruhe! Irgendetwas stimmte nicht an diesen Bildern!“

„An dem, was sie abbilden!“, führte ich ihn vorsichtig auf die Pfade ordentlicher Formulierungen zurück und Rosi brummte zustimmend. Er aber verdrehte schon wieder ungeduldig die Augen.

„Ich weiß es auch nicht, was es ist, das Ganze wirkt irgendwie anders als die letzten Male!“

Rosi beugte sich über die Fotografien und legte sie nebeneinander auf den Tisch. Man konnte heraus gerissene Schubladen erkennen, abgestürzte Zigarettenstangen, zerfledderte Zeitungen.

„Hol` doch einmal ein paar Vergleichsfotos von den anderen Einbrüchen!“ Rosi wies auf einen der Karteischränke mit den großen Hängeschubladen und fügte hinzu: „Dritte Schublade, vierter, siebter und zehnter Hänger.“

Schmidtken bewegte sich gehorsam in den dunklen Hintergrund hinein, ich hörte ihn Schubladen herausziehen und die Hänger klapperten wie altjüngferliche Stricknadeln. Er brachte die Fotografien an den Tisch zurück.

Rosi ordnete die anderen Gruppen in drei parallelen Reihen darüber an und lehnte sich stirnrunzelnd über den Tisch.

„Lasst uns das einmal nach Themen geordnet von oben nach unten aufreihen: Alle Bilder mit aufgebrochener Kasse links, dann vielleicht die Zigarettenstangen oder was von ihnen übrig ist und dann...“ Sie stockte und Schmidtkens Finger blieben in der untersten Reihe links stehen. Auch ich sah, was es gar nicht zu sehen gab: Kein Foto mit aufgebrochener Kasse, statt dessen eine kaum vorgezogene Schublade, in der wir eine wohl verschlossene Stahlkassette erkennen konnten. Rosi schaute Schmidtken fragend an und der nickte bestätigend.

„Das Geld war unangetastet noch da. Die Tote ist ja über diese Schublade gebeugt vornüber gefallen. Anscheinend war es ihnen unheimlich, unter ihr nach der Kasse zu stöbern.“

„Sehr seltsame Rücksichtsnahme!“ Rosi schüttelte verwundert den Kopf. „Dann haben die ja kaum etwas erbeutet?“

Schmidtken nickte. „Die Zigarettenstangen und Zigarrenkisten waren auch alle noch da.“ Er deutete auf die Reihe mit den Zigarettenstangen aus den verschiedenen anderen Überfällen: „Kiosk Oberbergenbach: Zerfetztes Papier, fünf aufgerissene Kartons, zurück bleiben drei heraus gepurzelte Malboroughpäckchen und sieben Galloisstangen.“

„Die raucht hier oben auch kein Schwein!“, murmelte Rosi. „Wären gar nicht rasch an den Mann zu bringen.“

„Kiosk Familie Meier in der Weimarerstraße: Die führten gleich gar keine Gallois, aber eine Menge leichter Marken, da ist nämlich ein Gymnasium in der Nähe. Alle Stangen weg, die ausgepackten Päckchen nur teilweise aus den Regalen gerissen. Sah nach einer überstürzten Flucht aus, nicht mal richtig Zeit haben die sich gelassen, noch ein, zwei in die eigenen Hosentaschen für den Eigenverbrauch zu stopfen. Hier wurden die Ganoven übrigens das erste Mal auch beobachtet!“

Er atmete aus und ich wagte mich einzumischen: „Meinen Sie, Gymnasiasten stecken dahinter?“

Er zog seine Luft schnaufend wieder ein und warf mir einen Blick zu, als hätte ich ihn gefragt, ob grüngelbe Marsmännchen an den Überfällen beteiligt gewesen seien. „Gymnasiasten?“

Undenkbar anscheinend für Schmidtkens reine Waldorfschülermentalität! Wir etwas allgemeiner beschulten Frauen aus den Niederungen staatlicher Institutionen grinsten uns über die Fotos hinweg an.

„Die Zeitschriften!“ Rosis Finger deutete auf die dritte Vergleichsreihe und wieder neigten wir alle drei unsere Köpfe über den Tisch. Friedenspapa von Kerkbaum hätte die helle Freude an seinem „Sauerland Trio“ gehabt. Seit einer Viertelstunde wieder traut streitend vereint!

„Wieso sind die hier überhaupt herausgerissen? Die sind doch für einen Überfall gar nichts wert?“ Ich deutete auf die durcheinander geworfenen Magazine, Tageszeitungen und Fernsehzeitschriften des Bahnhofkiosks.

„Ist auch sonst nie der Fall. Hier, der Kiosk in der Neubausiedlung: Alle Zeitungen noch an ihrem Platz, Meiers auch, Oberbergenbach auch.“

„Und ich erinnere mich gut“, Rosi schaute in ihre imaginäre Ferne, “dass es bei den vier anderen Fällen ebenso war.“

„Dann hättet ihr also am Bahnhof ein ganz und gar untypisches Bild: Kein Geld geraubt, Zigaretten nur so pro forma herausgerissen, aber liegen gelassen, Zeitungen dagegen herumgefleddert?“

„Und die tote Frau nicht zu vergessen, Frau Mertens, die Pächterin des Kiosks.“

„Vera Mertens“, ergänzte Schmidtken und starrte nachdenklich weiter auf die Fotoreihen. „Vera Mertens, geboren am 15. Mai 1949 in Hamm.“

„Kinder?“ Ich schaute ihn fragend an und er schüttelte den Kopf.

“Nein, sie war ihr Leben lang ledig.“

Ein typischer Schmidtkens-Schluss, Männerlosigkeit mit Kinderlosigkeit gleichzusetzen.

„Das sollten wir trotzdem nachprüfen.“ Rosi schob die vier Fotografienreihen wieder zusammen. „Andere Verhältnisse?“

„Eine alte Mutter im hiesigen Altenstift, ein verheirateter Bruder, Elektrikermeister mit halb erwachsenen Zwillingen in Bochum sowie eine verheiratete Schwester, eine Frauenskatrunde und irgendwelche weniger wichtigen, flüchtigen Kontakte. Das brachte sicherlich auch ihr Beruf so mit sich. Aber wir haben das heute noch gar nicht weiter verfolgt, Rosi, der Fall schien ja auf den ersten Blick hin ziemlich klar!“ Schmidtken stopfte seine Fäuste ein wenig trotzig in die Taschen der feinen Wildlederjacke. „Bisher!“

„Immerhin ist dir das Gleiche aufgefallen wie mir!“ Rosi klopfte Schmidtken ermutigend auf den Rücken und grinste ihn an.

„Na gut, wenn dieser Überfall tatsächlich nicht auf das Konto der Jugendlichen geht ...“

Er drehte sich herum und verließ das Labor, Rosi räumte die Bilder wieder in ihre Hängevorrichtungen und schloss mit Schwung die Türen.

„Eigentlich im Zeitalter von Digitalkamera und Computervernetzung ein ziemlich altbackenes System, das ich da führe. Aber wenn ich zwanzig Bilder nebeneinander auf dem Monitor haben will, sehe ich außer Pünktchen und Flecken nicht mehr sehr viel. Außerdem geht das Gefühl fort! Frau muss ihre Fotos anfassen und hochheben können, sie ins Licht kippen ...“

„Daran riechen?“ Ich lächelte sie an und Rosi löschte die Lampe.

„Irgendwie, nenne es riechen, fühlen. ... wie du willst.“

„Wie hat man eigentlich die Frau getötet?“

Schmidtken hatte im Flur auf uns gewartet und ging jetzt mit uns heraus. Ich trottete hinter den beiden Kripobeamten den nächtlichen Gang herunter und wunderte mich wieder einmal darüber, wie weit gefasst doch die charakterliche Spannbreite der deutschen Polizei war, verkörpert in diesen beiden Gestalten da vor mir im nächtlichen Flurlicht.

Alle drei schlossen wir wieder zu einander auf, als es galt, die nächtens ungenutzten Büroräume der örtlichen Kripo von außen zu verschließen.

„Ziemlich gemein und hinterlistig: Die Täter sind von vorne an den Kiosk herangetreten, haben die Frau irgendwie vorgezerrt, ihr auf den Kopf geschlagen und sie wieder zurück auf ihren Stuhl gestoßen. Danach erst sind sie durch die Seitentüre in den Kiosk eingedrungen.“

„Also hat Vera Mertens sie gar nicht auf frischer Tat ertappt?“ Ich fragte geduldig die Rücken der beiden KollegInnen aus, während die grüßend an der schummerig beleuchteten Kabine des Nachtportiers vorbei wieder auf die Seitenstraße des Marktplatzes traten.

„Nein!“ Schmidtken blieb stehen und schaute in den nieseligen Nachthimmel hinauf. „Dieser Mord war ihre erste Gewalttat in der Tatsequenz, wirkt ja fast wie geplant und das war es auch, was mich zuerst stutzig gemacht hat. Das war geplant und gemein! Sie hätten einfach weiter gehen können, als sie sahen, dass der Kiosk noch besetzt war. Aber das geschah nicht, und das finde ich äußerst seltsam.“

Da wir im Dunkeln Schmidtkens Gesicht nicht sehen konnten und er auch eilig vor uns her lief, rang er sich doch glatt zu dieser Gefühlsäußerung durch. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, wie sehr selbst diesen coolen, schnieken Beamten das Bild der erschlagenen Frau berührt hatte. Es musste wahrlich fürchterlich ausgesehen haben!

„Ja, das war gemein und brutal. Wenn ihr mich fragt, hat jemand den Verdacht ganz gezielt auf die Jugendbande gerichtet. Schließlich hat der Täter oder haben die Täter ein ziemliches Risiko auf sich genommen, gesehen zu werden.“ Schmidtken sah sich hin und wieder nach uns um, marschierte aber im Übrigen doch weiter sehr flott vor uns her.

„Was diese jungen Kerle machen ist nicht in Ordnung, sicher! Und wenn wir denen nicht irgendwann das Handwerk legen und sie vernünftigen Erziehungsmaßnahmen unterwerfen, solange da noch eine klitzekleine Chance auf Besserung besteht, wird vielleicht der eine oder andere von denen auch mal solch eine raubmörderische Kariere einschlagen. Doch vorerst sind es zwar verdammt leichtsinnige Bengel, aber sicherlich keine Mörder!“

„Meinst du, Frau Mertens hat ihren Mörder gekannt? Warum sonst hätte sie sich so vertrauensvoll weit vorbeugen oder ihm die Hände aus dem Kiosk herausreichen sollen?“

„Schon möglich, Rosi.“

Schmidtkens lange Rede hatte uns über den alten Marktplatz und die ungefähr achthundert Meter lange Fußgängerzone hinab in Richtung Bahnhofsvorplatz geführt.

„Bei achtzig Prozent aller Gewaltverbrechen kennen sich Opfer und Täter“, brachte ich mein Wissen ein und Schmidtken warf mir einen missbilligenden Blick zu.

Rosi hatte das Signal der Ampel gedrückt. Obwohl keinerlei Verkehr zu dieser etwas späteren Stunde zu hören oder gar zu sehen war, wartete ich geduldig mit den beiden Staatsbeamten zusammen auf das grüne Signal. Vermutlich war es hier vor ungefähr vierundzwanzig Stunden, als der Mord geschah, genauso friedlich und still gewesen.

Der Kiosk stand einsam mitten auf der größten der sieben Straßeninseln, die den regionalen Busbahnhof bildeten. So im nächtlichen Dunkel wirkte er geduckt und schimmerte breit wie ein getretenes Huhn durch die Stille herüber.

„Es sah sehr wüst aus, als wir an den Tatort kamen. Der Schichtarbeiter, der Vera Mertens um vier Uhr dreißig entdeckte, als er aus dem Bahnhof trat, war ziemlich bleich, als wir ihn vernahmen, und er ist sicherlich sonst ein eher harter Typ!“

„Trotzdem wirkte das Chaos auf den Bildern wie gewollt. Da wollte jemand, der keine Ahnung von Überfällen hat, bewusst den Anschein erwecken, als sei es einer gewesen.“

„Wäre Frau Mertens nicht über die Schublade mit der Kasse gefallen, vielleicht hätten die Täter ja dann das Geld zu Tarnungszwecken doch entwendet?“, wagte ich schüchtern anzufragen und Schmidtken nickte nur grimmig vor sich hin.

„Aber warum tötet jemand eine solch relativ harmlose und anscheinend bei vielen Leuten beliebte Frau?“ Ich schüttelte den Kopf.

Rosi fasste meine Hand, als wir Richtung Marktplatz zurückliefen: „Ich kannte Vera Mertens sogar ein bisschen, Schmidtken. Sie war wirklich sehr nett und ich könnte mir denken, auch bei den Menschen, die du zu den weniger wichtigen, flüchtigen Kontakten gerechnet hast, sicher ziemlich beliebt.“

„Du kanntest sie?“

Wir standen wieder unter den Arkaden des Rathause.

„Vera Mertens verkehrte am Rand der Szene, der Frauenszene, meine ich!“

„Eurer ...?“ Er machte große Augen.

„Unserer!“ Rosi fasste ihn am Arm. „Du wirst ein wenig über deinen Schatten springen müssen, aber wenn du willst, helfe ich dir auch ein bisschen. Das muss bestraft werden, diese Schweinerei!“

„Wenn du dich für mich umhörst, ist die doch auch wieder dabei!“ Er deutete auf meine Person wie auf eine verrostete Teertonne. Komisch eigentlich, wie viele Menschen gegenüber Lesbenpaaren in eine Art „La-Belle-et-la-Bete-Schema“ verfallen: Da gibt es meistens die Gute, Schöne und nach den herrschenden Maßstäben Angepasstere und die Latzhosige, Finstere mit Stoppelhaaren. Nun, in meinem Fall, da ich keine Stoppelhaare und auch kein wieder von den Toten auferstandenes Butch-Image pflege, war es wohl eher mein das staatliche Gewaltmonopol brechender Beruf, der mich in Schmidtkens Augen zur Unperson abstempelte, trage ich doch auch schon seit zwanzig Jahren keine Latzhosen mehr und die Haarmatte auf meinem slawischen Rundschädel ist ungefähr zehn Zentimeter lang, weich und, wie ich finde, durchaus von eher femininer, dunkelblonder Farbe.

„Natürlich ist die auch dabei!“ Rosi gluckste ob Schmidtkens Abscheu vor einer privaten, weiblichen Selbstverteidigungstrainerin. „Und du wirst noch dankbar dafür sein, nehme ich an. Denn wenn du Pech hast, werden sich deine Untersuchungen in einer reinen Frauenwelt abspielen, einer Welt aus allein erziehenden Müttern, karrieregeilen Ledigen, wilden, unterbezahlten Projektfrauen und“, sie lachte laut und hakte sich bei mir unter, „Lesben! Gute Nacht!“

Während wir Schmidtken leicht verdutzt am Eingang der Seitenstraße stehen ließen, rollten wir wie zwei Seebärinnen auf Landgang vergnügt dem verspäteten Besuch der heutigen, hiesigen Frauenkneipe entgegen.

Der Kamin

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