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4. Kapitel

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Vielleicht ist man ja, wenn man aus der Eifel stammt, gegenüber dem Bergischen Land nicht objektiv? Es erscheint einem grau, grau, grau und ungemütlich, selbst an heißen Sommertagen oder klaren Februarmorgen. Möglicherweise streut das doch näher liegende Ruhrgebiet seine schwarzen Schatten trotz aller Begrünung und Industrielandschaftsaufforstung immer noch über die wesentlich wälderreicheren Hügel? Vielleicht auch reflektieren die kleinhäusige Schieferbauweise und die in den letzten Jahren wieder aufgebaute Fachwerkstruktur einen Grauschimmer, den ich so in dieser himmelsüberziehenden Weise in der Eifel nie erlebte? Möglicherweise ist es aber auch einfach der Unterschied zwischen Mitteleuropa und Westeuropa, der durch den klaren Trennungsstrich von Vater Rhein definiert wird?

Die Eifel, aber sicher doch, ist eindeutig westeuropäisch und ergo auch halbert mediteran! Dort, über den trocken klaren Kalkhängen scheint immer die Sonne, weshalb die Eifel im Sommer unter heftigstem Wassermangel leiden kann, Talsperren hin oder her, die sowieso gerade groß genug sind, um der örtlichen Jugend als idyllische Badeteiche zu dienen. Kalkböden, selbst wenn sie unter Magerwiesen versteckt sind, erwecken immer den Eindruck einer weißen Landschaft, auch wenn nicht durch die Einritzung weißer Pferde oder nackter Riesen, wie in England, nachgeholfen wird. Kalkböden schaffen klare abgezirkelte Linien zwischen Hügelkämmen und Himmelslicht, Kalkböden ernähren wenig Laubbäume und zieren sich sehr, die Spaziergängerin so mir nichts dir nichts in ihre Aura mit aufzunehmen.

Was die feuchten, baum- und erdreichen, rechtsrheinischen Hänge von Sauer-Sieger-und Bergischem Land mit Vorliebe tun!

Die Eifel hat Matronen, keltisch-römische Frauengottheiten, das rechtsrheinisch infizierte Gebiet hat Dreibethen, die christliche Variante der drei Göttinnen. Die Eifler Kelten wurden von den Römern per Genozid ausgelöscht und die rechtsrheinischen Germanen kollaborierten mit den Imperatoren.

Alles das prägt halt seine Landschaften bis heute. Das Bergische Land besitzt Pannekokenhäuser und in der Eifel isst man Fleisch vom heißen Stein. Aber überall in West- und Mitteleuropa sind die Zentren der Altkleinstädte heutzutage verkehrsberuhigt und pittoresk restauriert.

Ich betrachtete aus dem Fenster des glücklicherweise schon am Vormittag geöffneten Pannekokenhuses das gemäßigte Getriebe der kleinen Last- und Lieferwagen, der Zubringerkombis und mit Blumen überfüllten Pkws, die zwischen acht Uhr am Morgen und elf am Vormittag den verkehrsberuhigten Marktplatz belästigen dürfen.

Ich frühstücke spät sowie salzig und habe echte Probleme, wenn ich am fortgeschrittenen Vormittag in einem Café Begegnungen wahrnehmen soll. Fettleibige Torten jagen mir Ekelschauer den Rücken hinunter, Streuselkuchen macht mich nervös und ich habe bereits daheim im Bett soviel Milchkaffee in mich hinein geschüttet, dass mich jede weitere Dosis aus den Schlappen hauen würde. Außerdem trinke ich nicht gerne Tee, Obstsäfte verursachen mir Sodbrennen und Wasser lehne ich grundsätzlich als Getränk ab. Item: Was tut unsereins in einem Café? Außerdem mag ich dieses lebensverharmlosende Ambiente von Cafés überhaupt nicht leiden. Tragik, aber leider wahr: Ordentliche Kneipen, Esslokale oder zarte Pizzerias öffnen meistens erst am Nachmittag, und irgendwo muss frau sich ja zur Vorbereitung ihrer Wen-Do-Kurse mit den Organisatorinnen treffen, will sie es professioneller als zu Hause und gemütlicher als im Volkshochschulbüro haben.

Da sind die bergischen Pannekokenhüser eine wahre Alternative! Pfannekuchen, die rheinische Pizza, gibt es in allen Lebenslagen: Süß, salzig, mit Speck oder Marmelade, mit Puderzucker oder Kräuterbutter, für jede das ihre und für mich gar ein Bier am helllichten Tag.

Lilo wirbelte durch die Türe herein und der Wind blies sie sogleich vor meinen Tisch.

„Schon bestellt? Mach nur, geht auf Kurskosten, du bist eingeladen.“

Sie schüttelte sich aus ihrem Mantel und die regenfeuchten Löckchen aus der Stirn, warf das Kleidungsstück auf den freien Stuhl neben uns und ließ sich mit einem leichten Lachen auf die Bank fallen.

„Haut dich das nicht um?“

„Was?“

Sie deutete auf mein Weizenbier und grinste die herbeigeeilte Bedienung listig von unten herauf an: „Einen Kaffee und die Karte! So auf nüchternen Magen?“

„Gibt mir das wahre Ferienfeeling sowie einen Hauch von Verruchtheit!“

„Ts-ts!“ Sie berührte ihre Brille, welche sie aus der Tasche gezogen hatte, als könne sie dadurch leichter die diversen Pfannekuchensorten auseinander halten. „Was isst du? Der mit Brombeermarmelade ist fabelhaft, gibt es nicht jeden Tag.“

„Brrr! Ich nehme einen Vollkorn mit Thunfisch.“

„Echt?“ Sie blinzelte mich über die Karte hinweg an. „Wie verdaust du das am frühen Morgen?“

„Es ist halb elf!“

„Na gut.“ Lilo hob den Blick und schaute die Kellnerin, die erwartungsvoll an unseren Tisch getreten war an. „Einen mit Thunfisch und ... gibt es heute den mit der Brombeermarmelade?“

„Natürlich, Salat dazu?“ Die Kellnerin schaute mich fragend an und Lilo nickte energisch: „Aber sicher doch, das ist ja fast schon Mittagsessenszeit.“ Sie lehnte sich zufrieden zurück.

„Gut-gut! Meine Kleine freut sich schon total auf das Wochenende mit dir! Wann fangen wir Freitagabend an?“

„Ich würde empfehlen, um sechs Uhr, dann kommen die Mädchen früh ins Bett und die Erwachsenen können nach dem Vorgespräch noch etwas unternehmen.“

„Hm – ja gut, obwohl – so klein sind die auch nicht mehr – die Gruppe rekrutiert sich hauptsächlich aus den siebten und achten Klassen. Ach – ich habe noch ein Problem.“ Sie runzelte die Stirne und schaute nachdenklich aus dem Fenster. „Kuck mal, das ist Peter mit der kleinen Klapperkiste vom ‚Grünen Schwan’, den kennst du noch nicht.“ Sie wies auf einen französisch stämmigen Kleinlaster, der schräg gegenüber vor einem Metzger parkte. „Ob die jemals am Frauenabend Schnitzel braten? Meinst du, die Kollegen deiner Freundin finden für alle ein Alibi heraus? Das klang doch eigentlich ganz nett verdächtig gestern Abend, oder?“

„Verwandt ist ja nur Maggi mit der Toten. Was war dein Problem?“

„Aber Schulden hatte doch das Kollektiv bei ihr.“

„Wer weiß, wie wenig das war? Und dann hätten sie doch schon ewig zuvor zuschlagen können, schließlich gibt es die Kneipe bereits einige Jahre, oder?“

„Ach, war doch auch nur Spekulation, ich glaube, die sind viel zu harmlos dafür, schau dir nur seinen sanften Schlackergang an!“ Sie lachte und wies auf Peter, der nun gerade aus dem Laden trat und sich suchend umblickte. „Ja, apropos harmlos: Wir haben da ein Mädchen, das absolut keine weibliche Bezugsperson für den Einführungsabend mitbringen kann. Ihre Mutter ist früh verstorben, der Vater alleinerziehend, keine Tante, keine Oma, zumindest nicht hier in der Stadt.“ Sie schaute mich fragend an. Und während ich mal wieder über den radikal-stümperigen Schatten der üblichen Wen-Do-Ideologie sprang, schlug Peter die Lieferwagentüre zu und knatterte leise über den Platz davon.

Natürlich sind unsere Kurse nur und ausschließlich für Frauen und Mädchen gedacht, dürfen nur Frauen selbige geben und bei Strafe eines lila Höllenfeuers keinem Mann jene Schläge verraten, die heute in jedem Selbstverteidigungsschinken zu finden sind!

Das Dilemma ist: Seit mehreren Jahren beziehen einige Kolleginnen und ich, ich bilde mir gar ein, dass ich das erfunden hätte, die Mütter oder sonstigen weiblichen Bezugspersonen der Mädchenkurse unter 14 Jahren verstärkt in diese mit ein. Ich möchte nämlich, dass der doch immerhin heikle Diskurs über Gewalt, die von nahen Personen ausgehen kann, Sexualität, Abgrenzung und Selbstsicherheit auch nach dem zweitägigen Kurs in den Familien weiter geht und eine Art Langzeitwirkung entfaltet. Ich möchte, dass der Diskurs zwischen den Generationen gefördert wird, die Solidarisierung zwischen den weiblichen Personen aus allen Lebensaltern.

Ich habe die Vorstellung von gegenseitigem Verständnis: Der spätabendliche Discoausflug der Tochter, das späte Wochenendheimkommen eines Mädchens haben nun mal immer noch einen anderen Charakter als jene ihrer Brüder. Die muss der Papa nicht um zwei Uhr nachts von der Party abholen und die brauchen auch kein extra Taxigeld für die Disco oder im Extremfall ein Ausgehverbot bis ins zwanzigste Lebensjahr!

Doch für alle Beteiligten ist es wichtig zu erkennen, dass dergleichen Ungerechtigkeiten nicht der Autorität oder Gemeinheit der Eltern entsprungen sind, Mamas moralinsaurer Haltung und Papas Besitzstreben an seiner Tochter, sondern ihren Ängsten, die den Familien aufgedrückt werden durch eine gewalttätige Gesellschaft, nächtliche Vergewaltiger und schlechte bis keine Nahverkehrsbedingungen nach einundzwanzig Uhr oder gar am Wochenende, insbesondere auf dem Land, in der Provinz und in Kleinstädten wie der meinen in der Eifel oder derjenigen Rosis im Bergischen Land.

Deshalb also müssen in meinen Mädchenkursen Mütter, Tanten, Omas oder ältere Schwestern, engagierte Lehrerinnen oder Jugendzentrumssozialarbeiterinnen obligatorisch am Vorabend eines Mädchenkurses sowie in seinen letzten drei Stunden mit antreten. Da bringen ihnen dann die Mädels ein paar der fiesesten Tritte und Kniffe bei, diskutieren oder agieren gar mit ihnen erfahrene Rollenspiele aus dem Kurs und haben den großen Spaß, wenn auch die erwachsenen Frauen mal laut „Arschloch“ brüllen und versuchen, ein Brett durchzuhauen!

Nun führt dieses ganze edle Konzept die engagierte Trainerin automatisch näher an die Familien heran und sehr oft an die dazugehörigen Väter und Brüder. Da muss halt mal der kleine, sonst unbeaufsichtigte Brudersäugling am Sonntagnachmittag mitkommen, und: Horribile dictu: Da gibt es seit ein paar Jahren vermehrt die allein erziehenden Väter...! Was tun, wenn wir doch keine Männer zulassen in das weise Reich des Wen-Do?

Was ist schlimmer, der Geheimnisverrat oder ein Mädchen, das alleine in diese Riesenrunde aus Frauen und Mädchen tritt? Einem Kind die Erkenntnis zumuten, dass es ein Außenseiter ist, dessen einzige, weibliche Vertrauensperson die Barbiepuppe oder das Meerschweinchen ist? Oder über den radikalfeministischen Schatten springen und in jedem X-ten Mädchenkurs den einen allein erziehenden Vater zur Runde zuzulassen?

Was Außenseiter sein in der Kindheit bedeutet, durfte ich selbst von der Pike auf studieren. Nichts bereitet eine Frau auf das erwachsene Lesbenleben so ausgezeichnet vor wie eine uneheliche Kindheit in den fünfziger und sechziger Jahren unserer Republik! Da änderte auch der Euphemismus „außer-ehelich“ nichts daran: Für immer klingt in meinen Ohren der Satz einer Lehrerin an der Düsseldorfer Theodor-Fliedner-Schule in Kaiserswerth: „Ein uneheliches Kind gehört nicht aufs Gymnasium!“ Möge sie sich auf ewig unruhig in ihrem Grabe wälzen! Eingemeißelt aber auch im Gedächtnis das abrupte Aufstehen meiner Mutter danach: „Komm, wir gehen!“ Möge sie auf ewig im Paradies lustvoller Frauenwelten weilen, denn aufgeregt flatternd wie eine graue Kreuzung aus Spitzmaus und Hühnervogel eilte ihr die fromme Direktorin vor aller Augen hinterher: „Ich möchte mich öffentlich für den Ausrutscher unserer Kollegin entschuldigen! Ihre Tochter ist nicht gerade eine Leuchte in Mathematik, doch wir haben sie gerne hier! Kommen Sie bitte zurück!“ Auch ihr ein Blumenstrauß ins Grab gelegt, so, wie sie solidarisch am Grab meiner mutigen Frau Mama dann Jahre später stand!

Und deshalb dürfen alleinerziehende Väter an den Mädchenkursen teilnehmen, sehr verlegen und exotisch zwischen den liebevoll lächelnden Müttern, Tanten oder Omas! Denn was alle Kinder brauchen ist das solidarische Gespräch, das Verstanden-Werden von jenen, die so viel älter sind, das Angenommen-Sein. Glauben meine radikalen Kolleginnen im Ernst, dass ein Missbraucher im Wen-Do-Kurs auftaucht? Respektive, dass er unbekehrt davongeht, falls er den Unterschied zwischen Zärtlichkeit und Machtspiel noch nicht begriffen hat?

Ich glaube an die Veränderbarkeit von Menschen, das ist eine seltsame Angewohnheit von mir. Selbst an die fanatischer Separatistinnen.

Also grinste ich Lilo beruhigend zu: „Natürlich muss dann der Vater kommen, wer denn sonst? Im Kurs bin ich für euch Frauen, für die Mädchen da, nicht für mein radikal-feministisches Ego.“

„Ja – das ist gut.“ Sie nickte energisch und verschmierte ein wenig Marmelade auf dem letzten Fitzelchen Pfannekuchen. Ich rückte dem Salat zu Leibe und wiederholte vorsichtshalber noch einmal die Termine: „Also, Freitagabend sechs bis acht Uhr Mädchen und Mütter, respektive der eine Vater, Samstag neun bis siebzehn Uhr die Mädels alleine, ebenso am Sonntag bis zur Mittagspause, ab zwei Uhr dann wieder die Erwachsenen dazu.“

Direkt vor dem Fenster des Lokals bockte ein interessanter Mann in Lederkluft sein Motorrad auf. Ein wenig exzentrisch sah er aus: Der Lederanzug schwarz-weiß gescheckt, als ginge er in Gestalt eines Panthers zu einer Karnevalsveranstaltung, auf dem schwarzen Helm, den er nun fürsorglich in der Box hinten verstaute und einschloss, ein roter Drache, der chinesisch dahinzüngelte.

„Man kann auch über die Straße Pfannekuchen mitnehmen, wie in einer Pizzeria“, kommentierte Lilo, als der Motorradfahrer sich anschickte, das Lokal zu betreten. „Und kuck mal: Da kommt Maggi!“ Sie klopfte an die Scheibe und winkte aufgeregt, was den jungen Mann irritiert zu uns herüber blicken ließ. Dann merkte er, dass diese Aufregung gar nicht ihm galt, drehte sich herum, lächelte Maggi an und gemeinsam, lebhaft miteinander sprechend, kamen sie durch die Schwingtüre herein.

Maggi ließ sich mit einem Seufzer an unserem Tisch auf einen Stuhl fallen: „Scheißtag!“

„Viel zu tun?“ Lilo schaute sie teilnehmend an.

„Ja klar. Kannst dir vorstellen, meine übrige Family rastet total aus, Muttern ist zu Nichts zu gebrauchen und mein Onkel redet sich mit seinem Geschäft heraus. Im Grunde managen Johannes und ich diesen ganzen Bestattungscheiß!“

„Wisst ihr schon, wann die Beerdigung ist?“

„Leider nein, die Polizei rückt Tante Vera noch nicht raus. Ist ja auch klar. So ein Schwein!“ Die junge Frau schaute sinnend vor sich hin und kniff die Lippen zusammen. Sie erschrak, als die Kellnerin zu ihr trat. „Möchten Sie etwas bestellen?“

„Oh, ein Wasser.“

Die meisten jüngeren Menschen sind heutzutage überwiegend schwarz gekleidet, so dass ich nicht zu erkennen vermochte, ob die schwarze, kurze Weste, die dunkelgraue Bluse darunter, der halb lange, anthrazitfarbene Rock sowie die schwarze Strumpfhose zu ihrem normalen Outfit gehörten oder ihre Stimmung widerspiegelten und die traurige Situation.

„Meine Mutter war ihre Schwester“, wandte sich Maggi nun erklärend zu mir und ich nickte zustimmend. „Aber wisst ihr, sie tut, als habe Vera das Verbrechen begangen und nicht dieser Kerl – wer immer das auch war. Friedrich sagte, es wäre gar nicht diese Jugendbande gewesen?“

„Rosi Kramer deutete das gestern Abend auch an.“ Beide Frauen schauten zu mir, als wäre ich gewissermaßen mit von der Polizeipartie, nur weil ich mit der wunderbaren Polizeifotografin Tisch und Bett teilte.

„Ach ja, dein Vortrag am selben Abend. Schade, vielleicht hätte Tante Vera auch mal so einen Kurs mitmachen sollen, dann wäre ihr das vielleicht nicht passiert.“

„Wen-Do hilft Frauen, sich gegen Anmache, sexuelle Gewalt, Übergriffe zu wehren. Ich weiß nicht, ob er hilft, wenn einer wirklich vorhat, jemanden umzubringen.“

„Hältst du noch einmal einen Vortrag? Oder einen Kurs für Frauen bei uns? Wir konnten halt vorgestern nicht, das Kino war schon Wochen vorher abgemacht, Peter hat Susi und mich in diesen alten, russischen Film eingeladen mit der Kommissarin aus der Roten Armee, die ein Kind bekommt. Es sind gerade russische Filmtage im ‚Aki’!“

„Aki“ ist das Alternative Kino, das schon mehr als fünfzehn Jahre dank einer starken grünen Fraktion im Rathaus überlebte.

„Johannes war total fertig, als wir heimkamen, der hatte es gerade am Telefon erfahren und wartete nur auf uns, um zur Polizei zu fahren.“

Jetzt zog sie wirklich ein wenig die Nase hoch und ich sah, dass Maggi nahe daran war zu weinen. Lilo legte ihr mitfühlend die Hand auf den Arm.

„Wenn ich daran denke: Ihr hört deinen Vortrag über Gewalt, wir sehen uns diesen Film an über eine superstarke Frau, gerade so wie Tante Vera, und während wir im Kneipenkino mit andern Leuten noch eins trinken gehen, schlägt ihr irgendein Verbrecher den Schädel ein. Und wir haben nichts gemerkt!“

„Wie hättet ihr auch?“, wandte ich ein und Maggi schaute mich groß an.

„Ich habe sie doch so gerne gehabt! Man spürt doch, wenn eine Freundin in Gefahr ist, oder?“

„Nicht unbedingt. Ich denke, nur, wenn man das Gefühl hat, dass sowieso etwas im Busche ist.“

Lilo nickte bestätigend vor sich hin. Sie wollte einfach verhindern, dass sich zu Maggis Trauer noch so eine Art diffuses Schuldgefühl gesellte, wie es Hinterbliebene häufig nach Gewalttaten oder Unfällen verspürten.

„Hattet ihr denn das Gefühl?“ Ich schaute Maggi fragend an, doch die schüttelte den Kopf und trank ein Schluck aus ihrem Glas.

„Sie war so eine total tolle Frau. Alle mochten sie, sie hatte doch keine Feinde. Und sie hat so vielen Leuten geholfen, auch uns. Ohne ihr Geld wären wir alle noch beim Arbeitsamt!“

„Hat deine Tante euch ein großes Darlehen gegeben?“

„Fünfzigtausend, zinslos! Eine Bürgschaft für die Bank hätte vielleicht auch gereicht, aber mit den Rückzahlungszinsen wären wir ewig nicht auf einen grünen Zweig gekommen.“

„Was ist mit euren Eltern ...?“

„Meine?“ Sie schaute mich an, als spräche ich von grünen Männlein aus einer anderen Galaxis.

„Abgesehen davon, dass meine Alten so ein alternatives Projekt nie vorfinanziert hätten, ich hätte von denen auch nichts angenommen, das war kein sauberes Geld!“

“Was meinst du denn damit?“ Lilo bat die vorbeischauende Kellnerin um einen Tee und reichte ihr die Kaffeetasse über die Schulter zurück.

„Ich weiß es nicht genau, aber irgendwie hatten sie eine Menge von ihren Eltern geerbt, das heißt, von denen meiner Mutter.“

„Das waren doch auch Vera Mertens Eltern?“

„Ja. Ihre Mutter, also was meine Großmutter ist, die vegetiert immer noch oben im Altenheim vor sich hin.“

„Habt ihr noch mehr Verwandte?“

„Ich glaube, die Oma ist schon ziemlich weggetreten, verstehst du? Sie war Krankenschwester im Krieg und mein Vater bloß bei der Bahn. Trotzdem ist tüchtig Knete in der Familie.“

„Vera Mertens war auch nur Zeitungsverkäuferin?“ Ich ließ meine Frage absichtlich offen über den Gläsern schweben und Maggi hob irritiert den Kopf.

„Was meinst du damit?“

„Nun, wenn du deinen Eltern vorwirfst, wie auch immer unrechtmäßiges Geld geerbt zu haben, woher hatte deine Tante denn das Geld, euch die Kneipe zu finanzieren?“

„Das weiß ich gar nicht so genau. Aber geerbt hat Tante Vera sicherlich nichts. Die war irgendwie out bei ihren Leuten, meine Alten reden auch nie von ihr. Deshalb bin ich eines Tages dann mal zu ihr gefahren und schlussendlich in die gleiche Stadt gezogen. Eine, die meine Mutter abartig fand, an der musste einfach was dran sein.“ Sie zog abermals die Nase hoch und schaute aus dem Fenster in eine leere Welt ohne großherzige Tanten und verständnisvolle Erwachsene.

„Wem müsst ihr denn jetzt das geliehene Geld zurückzahlen?“

Maggi schaute Lilo irritiert an. „Glaubst du, darüber hätten wir nachgedacht? Keine Ahnung, wird sich schon wer melden, oder?“

„Wenn es niemanden in direkter Linie gibt, kann es natürlich sein, dass deine Mutter deine Großmutter nun rechtskräftig vertritt, denn die dürfte den nächsten Anspruch auf das Geld ihrer toten Tochter haben.“

„Ach du dickes Ei!“ Unwillkürlich musste Maggi trotz ihrer Trauer lächeln.

„Du glaubst, meine Mutter rauscht an, die Schulden bei uns einzutreiben?“

Ich nickte, Maggi schüttelte verwirrt den Kopf. „Das wäre dann genau die Situation, die ich immer vermeiden wollte!“

Ein blonder, sehr dünner Mann, dessen lange Haare ganz uneuropäisch zu Rastalocken gedreht waren, die unter einer undefinierbaren Wollmütze hervorwehten, radelte über den Marktplatz, wich den letzten, abfahrenden Lieferantenautos aus und schwang sich vor dem Pannekokenhus vom Fahrrad herab.

„Da kommt Johannes, wir sind verabredet.“ Maggi schaute sich suchend nach der Bedienung um.

„Lass mal, das übernehme ich.“ Lilo bedeutete der Kellnerin, alles auf eine Rechnung zu setzen. „Ich übernehme sowieso Janas Essen, da wir gewissermaßen dienstlich hier sind. Grüß deine Leute von mir. Und viel Kraft, da wird noch einiges auf euch zukommen.“

„Heute Nachmittag gehen Susi und ich zu ‚Brot und Blüten’. Johannes hat die Unterlagen parat und will uns noch einiges erklären. Er ist unser Finanzminister! Tschüss und danke!“

Wir schauten der jungen Frau nach, die draußen am Fahrrad von dem Rastalockigen intensiv in die Arme genommen wurde.

„Nette junge Leute!“

„Wie lange sind sie schon verheiratet?“

„Hm – warte mal, ja, etwa so lange es den ‚Grünen Schwan’ gibt. Vielleicht sogar in Verbindung mit dessen Neugründung.“ Lilo wiegte nachdenklich ihren Kopf. „Glaubst du, dass die ihre Darlehensgeberin umgelegt haben, um die Rückzahlung zu vermeiden? Nein, das traue ich denen nun wirklich nicht zu. Außerdem ist Maggi doch schwanger.“

„Das sollte sie doch nicht von Mord und Totschlag abhalten, Lilo. Haben wir für den Kurs alles besprochen?“

„Dein Honorar: Scheck, bar oder aufs Konto?“

„Ihr seid eine offizielle Organisation, da kann ich keine Steuern schlabbern. Ich schreibe dir meine Kontonummer auf, dann muss keine von uns mit einer dicken Tasche Geld herumlaufen.“

Ich pulte die Konto- und Visitenkarte aus meiner Brieftasche und notierte Lilo die Nummer darauf. Lilo spielte derweil mit einem Bierdeckel und zerfledderte ihn nachdenklich unter ihren Händen.

„Mein Mann arbeitet gerade an einer Diplomarbeit über Menschen mit Behinderungen während der Nazizeit mit. Da oben, wo heute das Altersheim ist, da war damals deren Bewahranstalt. Und gleich daneben ein altes Fabrikgelände mit Kamin. Die alten Leute der Stadt erzählen, wenn der rauchte, roch es so seltsam süß.“ Sie schüttelte ernst den Kopf und ich reichte ihr die Nummer herüber. „Du hast es ja gehört, Maggis Großeltern arbeiteten dort, deshalb ist ihre Großmutter, eben Vera Mertens Mutter, wohl auch dort oben in dem Altenheim. Das ist eine ziemlich noble Sache, ihre Kinder könnten das gar nicht finanzieren.“

„Was war denn ihr Großvater?“

„Der Leiter des Heims, der Oberarzt. Vera Mertens Mutter war eine der Kinderkrankenschwestern.“

Lilo bezahlte unsere Rechnung und wir standen auf.

„Irgendwas hat mein Mann auch dazu erzählt.“ Sie warf sich den Mantel über und folgte mir auf den nun autofreien Platz hinaus. „Möglicherweise ist es das, was Maggi immer meint, wenn sie vom ‚blutigen Geld’ ihrer Familie spricht?“

„Was?“

„Mein Mann hilft einem seiner ehemaligen Schüler, ein junger Mann mit schweren, spastischen Lähmungen, dabei, die Diplomarbeit zu schreiben. Der Junge spricht sehr undeutlich und Jens macht einige der Recherchen für ihn hier im Landkreis.“

Wir standen am Rande des nicht so großen Marktplatzes. Die schmalen, grauschieferigen Fachwerkhäuser beugten sich wie sorgenvolle Gouvernanten über die dahineilenden Männer und Frauen unserer Gegenwart, die in der Metzgerei, dem Bäcker daneben, einem Spielwarengeschäft und einer Reinigung ihren Geschäften nachgingen. Sie blinzelten aus kleinen Scheiben den ersten Schulkindern hinterher, die bereits frei um die Ecken gerannt kamen und zogen sich ihre Dächer wie keusche Hauben dicht gegen den aufkommenden Nieselregen über ihre Fachwerkfalten.

Lilo nickte bestimmt: „Ich werde Jens fragen, was genau da oben los war.“

„Los war?“

„Hier bei uns in der Stadt war eines der größten Durchgangsheime für das so genannte ‚unwerte Leben’, ein KZ für so genannt ‚Mongoloide’, ‚Spastiker’ oder wen die sonst noch als Halbmensch abstempelten. Du musst mal in den Stadtpark gehen, gleich beim Kriegerdenkmal steht auch das andere aus den sechziger Jahren: Aber sehr viel kleiner und gut ver-steckt!“

„Ein Ort wie Hadamar?“

„Ja, und irgendwie mischten Vera Mertens Eltern da mit. Aber auf wessen Seite, das weiß ich nicht, das kann Jens mir vielleicht sagen. Veras Toleranz, ihre Solidarität mit allen Leuten, die schwach, ausgegrenzt oder sonst wie Außenseiter waren, das rührte daher, das hat sie uns auch oft genug erzählt.“

Lilo schüttelte mir die Hand: „Wir sehen uns am Freitagabend! Kommst du ein paar Minuten früher?“

„Natürlich. Die Bretter zum Durchhauen ja nicht vergessen! Ich brauche die gleich am Anfang, Samstag früh.“

„Sicher nicht! Bis dann!“

In ihren weiten Mantel gehüllt verschwand sie eilig in einer Seitengasse, die zu der Schule führte, aus der gerade eben die entlassenen Kinder geströmt waren, um ihren jüngsten Sohn aus dem ersten Schuljahr abzuholen.

Der Kamin

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