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1. Die unmittelbaren Folgen des Krieges

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Der Krieg von 1914 bis 1918 führte zu einer außergewöhnlichen Ausweitung der Aktivitäten der Verwaltung, im militärischen und mehr noch im zivilen Bereich. Die Regierungen sahen sich gezwungen, ihre Interventionen zu vervielfachen. Die Wirtschaftsförderung des 19. Jahrhunderts, das „wirtschaftliche und soziale Protektorat“[47], wurde durch einen veritablen Wirtschaftsdirigismus abgelöst. Neue Ministerien wurden geschaffen, etwa für Rüstung und für Nachschub, und das Handelsministerium erhielt Kompetenzen zur Regelung unzähliger wirtschaftlicher Fragen. Der Staat wurde vermittels der Unternehmen, an denen er beteiligt war, zum Transporteur, Versorger und Versicherer. Das Los der unmittelbaren und der mittelbaren Opfer des Krieges war Anlass für die Schaffung von weiteren Ministerien, mannigfaltigen Organisationseinheiten und Diensten.

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Um ihren Aufgaben nachzukommen, machte die vollziehende Gewalt beständig von ihrer Verordnungsbefugnis Gebrauch: Gesetzliche Vorschriften wurden durch einfache Dekrete modifiziert, suspendiert oder abrogiert, dies teilweise mit, teilweise aber auch ohne vorherige Ermächtigung des Parlaments. Der Conseil d’État bestätigte die Gültigkeit eines solchen Dekrets, das ohne parlamentarisches Einverständnis erlassen und nicht durch ein späteres Gesetz gebilligt wurde. Er berief sich auf die Verfassung der Dritten Republik, die den Präsidenten der Republik an die Spitze der Verwaltung stellte und ihn damit beauftragte, die Ausführung der Gesetze sicherzustellen, was es einschloss darüber zu wachen, dass die services publics trotz der Schwierigkeiten, die durch den Krieg hervorgerufen wurden, funktionstauglich blieben. Mit der Heyriès-Entscheidung vom 28. Juni 1918 erhielt die Idee höchstrichterlichen Segen, dass außergewöhnliche Umstände es rechtfertigen können, die allgemeinen Regeln in Bezug auf die Zuständigkeit für den Erlass von actes administratifs sowie in Bezug auf deren Form und Inhalt unangewendet zu lassen.[48] Die Praxis der Gesetzesverordnungen (décrets-lois) weitete sich in der Dritten und sogar in der Vierten Republik aus,[49] ungeachtet der Vorschrift des Art. 13 der Verfassung von 1946, wonach allein die Nationalversammlung (Assemblée nationale) das Gesetz verabschiedete und dieses Recht nicht delegieren konnte. Erst die geltende Verfassung der Fünften Republik aus dem Jahre 1958 ermöglicht ausdrücklich diese Praxis. Deren Art. 38 erlaubt der Regierung, sich dazu ermächtigen zu lassen, durch Verordnung Maßnahmen im Bereich des Gesetzes vorzunehmen. Der Conseil d’État prüft die Gültigkeit dieser Verordnungen anlässlich eines recours pour excès de pouvoir, solange sie nicht vom Gesetzgeber bestätigt worden sind. Die Rechtsprechung zu den sog. „außergewöhnlichen Umständen (circonstances exceptionelles)“ wurde durch den Conseil d’État fortentwickelt und präzisiert. Sie existiert neben den verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Vorgaben, welche die Behörden in die Lage versetzen sollen, Krisensituationen zu bewältigen.

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Der Erste Weltkrieg bescherte zahlreiche weitere, für die Fortentwicklung des Verwaltungsrechts bedeutende Gerichtsentscheidungen. Das Urteil vom 30. März 1916, bekannt geworden unter dem Namen Du gaz de Bordeaux, ließ zu, dass sich der Lizenznehmer eines service public auf den Eintritt unvorhersehbarer Ereignisse berufen kann: Wenn Ereignisse, die für die Vertragsparteien unvorhersehbar und von ihnen nicht beeinflussbar waren, eine Umgestaltung der wirtschaftlichen Austauschbeziehungen im Rahmen des Vertrages zur Folge haben, ist der Lizenznehmer zwar gehalten, weiterhin seinen Verpflichtungen nachzukommen, er besitzt jedoch einen Anspruch auf Entschädigung gegenüber dem Staat. Diese Rechtsprechung, die den Parteien sogar die Kündigung des Vertrages gestattet, wenn sich die Umgestaltung als endgültig herausstellt, wurde auf die Gesamtheit der Verwaltungsverträge ausgeweitet.[50]

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Im Bereich der Haftung zeigte der Conseil d’État „eine allergrößte Gewissenhaftigkeit in Bezug auf die Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber dem Bürger, den die Maßnahme der öffentlichen Gewalt in seinen Rechten verletzt hat“[51]. Er nahm an, dass bereits ein einziger Fehler, der von der Verwaltung begangen wird, zugleich die persönliche Haftung des Handelnden und der zuständigen öffentlichen Körperschaft auslösen kann (Epoux Lemonnier-Urteil vom 26. Juli 1918), wodurch er dem System der Haftungskumulation, das nach wie vor grundlegend ist, endgültig zum Durchbruch verhalf.[52] Die Haftung für rechtmäßiges Verhalten (responsabilité sans faute) der öffentlichen Körperschaften wurde vom Conseil d’État erstmals im Anschluss an die Explosion eines Munitionsdepots bejaht (Regnault-Desroziers-Urteil vom 28. März 1919). Sie wurde seitdem erheblich ausgebaut: Die Haftung ist möglich im Falle eines besonderen Risikos, das durch eine gefährliche Situation, beispielsweise durch eine gefährliche Sache oder Aktivität, hervorgerufen wird.[53]

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Auf derselben Linie liegt es, dass der Conseil d’État die Haftung der Verwaltung wegen eines Gleichheitsverstoßes im Hinblick auf die Verteilung öffentlicher Lasten zugelassen hat (Couitéas-Urteil vom 30. November 1923). Dies betrifft den Fall, dass die Verwaltung nicht die Maßnahmen ergriffen hat, die sie normalerweise hätte treffen müssen, oder dass sie zwar rechtmäßige Maßnahmen durchgeführt hat, diese aber bestimmte Personen in besonderer und außergewöhnlicher Weise belasten. Auf dieser Rechtsprechung basiert die Annahme einer Verantwortlichkeit des Staates für rechtsetzendes Handeln.[54]

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