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3. Die Begründung der Sonderstellung des Verwaltungsrechts
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Die Begründung der Sonderstellung des Verwaltungsrechts hängt an der Bestimmung des Kompetenzbereichs der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Der Conseil d’État griff auf verschiedene Kriterien zurück, um die Kompetenzabgrenzung zur ordentlichen Gerichtsbarkeit vorzunehmen, insbesondere auf dasjenige des acte administratif. Die Richter an den ordentlichen Gerichten waren nicht dafür zuständig, Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die einen acte administratif zum Gegenstand hatten. Dabei wurden Maßnahmen, welche der Staat in seiner Eigenschaft als Eigentümer vornahm, als einfaches Verwaltungsgeschäft (acte de gestion) betrachtet und somit nicht erfasst. Während des Zweiten Kaiserreichs gestattete der Conseil d’État, dass die Verträge, die von der Verwaltung im Interesse eines service public geschlossen worden waren, in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte fielen, wenn der Vertragsschluss nach den Vorschriften des Code civil erfolgt war. Auch diese Verträge galten als actes de gestion und nicht als Maßnahmen im Rahmen der Ausübung von öffentlicher Gewalt (actes d’autorité), auf die das Verwaltungsrecht anzuwenden war.
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Im Bereich der Staatshaftung gebrauchte der Conseil d’État auch das Kriterium des „Staates als Schuldner (Etat débiteur)“, wobei er sich auf eine fehlerhafte Interpretation der Revolutionsgesetze stützte, die es den Zivilrichtern untersagt hatten, den Staat zu Schadensersatz zu verurteilen. Das Kriterium wurde vom Tribunal des conflits im Blanco-Urteil vom 8. Februar 1873 zugunsten eines bis dahin zweitrangigen Kriteriums, und zwar desjenigen des service public, aufgegeben: Die Haftung des Staates „kann nicht durch die Grundsätze, die im Code civil für die Beziehungen zwischen Privatpersonen aufgestellt sind, bestimmt werden. […] Sie hat ihre speziellen Regeln, die je nach den Erfordernissen des service und der Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen den Rechten des Staates und den privaten Rechten herbeizuführen, variieren.“[26] Damit erscheint die Entscheidung als eine Grundsatzerklärung zu der Unentbehrlichkeit und der Besonderheit des Verwaltungsrechts. Das Unterscheidungskriterium des service public setzte sich dann gegenüber der Unterscheidung zwischen den actes d’autorité und den actes de gestion ab den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts als das primäre zur Bestimmung des Verwaltungsrechts durch.[27]
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Während dieses Zeitraums widmete ein prominentes Mitglied des Conseil d’État, Edouard Laferrière (1841–1901), der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein essenzielles Werk, in dem er ihre historische Entwicklung nachzeichnete, ihre Grundlagen klärte und die Rechtsprechung darlegte.[28] Vor allem unterbreitete er eine Analyse und Klassifizierung der Rechtsbehelfe, die sich aufgrund ihrer Stringenz und Klarheit durchsetzen sollten. Laferrière unterschied vier verschiedene gerichtliche Verfahren, angefangen mit demjenigen der pleine juridiction, welcher die Rechtssachen unterliegen, in denen die Verwaltungsgerichtsbarkeit die weitreichendsten Befugnisse ausübt. Sie urteilt über Sach- wie über Rechtsfragen und fällt eine Entscheidung zwischen zwei Streitparteien wie die ordentlichen Gerichte. Sie kann insbesondere auch zur Zahlung von Schadensersatz verurteilen. Das zweite Verfahren ist dasjenige der Aufhebung (annulation), des recours pour excès de pouvoir. Laferrière sah darin „eine der interessantesten Schöpfungen der französischen Jurisprudenz“ und zog einen Vergleich zwischen dieser Schöpfung und dem „ausgeklügelten und beharrlichen Werk, das im römischen Recht durch die Jurisprudenz des Prätors zustande gebracht wurde“.[29] Das dritte Verfahren ist dasjenige der Auslegung (interprétation), bei welchem die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgrund des Prinzips der Gewaltenteilung mit der strittigen Auslegung eines acte administratif oder mit der Beurteilung von dessen Gültigkeit anlässlich eines Rechtsstreits, der bei einem ordentlichen Gericht (tribunal judiciaire) anhängig ist, befasst wird. Das vierte Verfahren ist dasjenige der Ahndung (répression): Der Verwaltungsrichter sanktioniert Schädigungen, die durch Privatpersonen an der sog. grande voirie vorgenommen wurden, d.h. an natürlichen oder künstlich angelegten Verbindungswegen, die dem allgemeinen Verkehr dienen, oder an gewissen Bauwerken, die durch verschiedene Gesetze diesem Schutzregime unterstellt worden sind.[30]
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Laferrière zeigte sich sehr kritisch gegenüber der Rechtsfigur des „ministre juge“, die bereits im Zusammenhang mit dem recours pour excès de pouvoir erwähnt wurde.[31] Sie wurde paradoxerweise zu einer Zeit entwickelt, als sich die Organisation und die Arbeitsabläufe der verschiedenen „administrativen Tribunale (tribunaux administratifs)“ klarer abzeichneten und verbesserten. Tribunaux administratifs sind dabei der Conseil d’État, die Conseils de préfecture und die anderen Kollegialorgane, die zur Entscheidung verwaltungsrechtlicher Streitigkeiten eingesetzt worden waren. Die Rechtsfigur des „ministre juge“ ging so weit, dass der Minister als der „gewöhnliche Richter in Verwaltungsangelegenheiten“ angesehen wurde, was bedeutete, dass er als der zuständige Richter galt, soweit eine Verwaltungsstreitigkeit nicht ausdrücklich durch Gesetz oder Verordnung einem anderen Richter zugewiesen war. Laferrière war überzeugt, dass diese Rechtsfigur nicht tragfähig sei. Für ihn war die so genannte „Gerichtsbarkeit der Minister in Wahrheit nichts anderes als die Manifestation ihrer administrativen Autorität, die spontan oder auf ein entsprechendes Begehren einer interessierten Partei hin in Angelegenheiten ausgeübt wird, die einem Rechtsstreit unterliegen“. Die fehlgehende Doktrin habe unter anderem den Nachteil, dass sie „jede vernünftige Theorie der Verwaltungsgerichtsbarkeit durcheinander bringt“.[32]
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Die Ansicht Laferrières wurde vom Conseil d’État anlässlich der Rechtssache Cadot am 13. Dezember 1889 bestätigt. Nachdem der Ingenieur Marie Emanuel Cadot de Villemonble im Anschluss an die Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses seitens der Stadt Marseille versucht hatte, durch die ordentlichen Gerichte und dann durch den Conseil de préfecture Schadensersatz zu bekommen, wandte er sich an den Minister des Inneren. Dieser lehnte es ab, sich mit dem Gesuch zu befassen. Der von Cadot aufgrund dieser Ablehnung angerufene Conseil d’État vertrat die Auffassung, dass der Minister rechtmäßig gehandelt habe, da die Frage „nicht in seine Kompetenz fällt“, und erklärte sich selbst für zuständig. Die Weigerung des Bürgermeisters und des Stadtrates von Marseille, Cadot weiter zu beschäftigen, habe zwischen den Parteien einen Rechtsstreit hervorgerufen, den zu entscheiden ihm zustehe.[33] Der Conseil d’État begnügte sich insofern nicht damit, der Doktrin des „ministre juge“ eine Absage zu erteilen. Er wies sich zudem selbst als Gerichtsbarkeit für das „gemeine Recht der administrativen Streitigkeiten“ (juridiction de droit commun du contentieux administratif) aus. Auf diese Weise erweiterte er deutlich seinen eigenen Zuständigkeitsbereich und vervollständigte die Trennung zwischen aktiver Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit.[34]
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff service public zum vorherrschenden Kriterium für die Bestimmung der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit und damit für die Anwendung des Verwaltungsrechts. Er rechtfertigte, dass Streitigkeiten, welche die Verträge und die Haftung der kommunalen Gebietskörperschaften betrafen, von den Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit auf die Verwaltungsrichter übertragen wurden.[35] Die Aktivitäten der kommunalen Gebietskörperschaften nahmen erheblich zu, weil diese vom Staat mit neuen Aufgaben betraut wurden. Auch bemühten sich die gewählten Amtsträger dieser Gebietskörperschaften darum, aus der Erweiterung ihrer eigenen Aufgabenbereiche durch das Departementgesetz (loi départementale) vom 10. August 1871, das von belgischen Vorschriften inspiriert war, und das Kommunalgesetz (loi municipale) vom 5. April 1884 Nutzen zu ziehen.[36]
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Der service public stand im Zentrum des Lehrgebäudes von Léon Duguit (1859–1928), der eine wohldurchdachte materielle Definition formulierte: Bei dem service public handelt es sich um „jede Aktivität, deren Entfaltung durch die Regierenden geregelt, geschützt und kontrolliert werden muss, weil sie für die Realisierung und Fortentwicklung sozialer Interdependenz unerlässlich und von solch einer Beschaffenheit ist, dass sie nur durch eine Intervention seitens der Regierungsgewalt vollständig gewährleistet werden kann“.[37]
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Den Bedarf an services publics zu befriedigen ist somit die Aufgabe der Regierenden, welche die sozialen Bedürfnisse interpretieren, die dem Rechtssystem zugrunde liegen. Nach Ansicht Duguits, der von der Soziologie Émile Durkheims beeinflusst war, stellte die Rechtsnorm nichts anderes als eine soziale Norm dar, die in eine bestimmte Form gegossen und für den Fall ihrer Nichtbeachtung mit Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet war. Duguit macht sich zum Herold einer objektiven Konzeption des Rechts. Das erste Werk, in dem er diese Konzeption entwickelte, L’Etat, le droit subjectif et la loi positive, das im Jahre 1901 veröffentlicht wurde, war seine Antwort auf das 1892 erschienene Buch von Georg Jellinek über das System der subjektiven öffentlichen Rechte. Duguit warf diesem und „der deutschen Doktrin des öffentlichen Rechts“ insgesamt vor, sie seien „ausschließlich subjektiv. Sie [scil.: die deutsche Doktrin] macht aus der öffentlichen Gewalt ein subjektives Recht, wobei der Staat als Person das Subjekt ist. Meine Doktrin“, fuhr Duguit fort, „ist ihrem Wesen nach objektivistisch: Ich lehne es ab, die Ausübung öffentlicher Gewalt als subjektives Recht zu begreifen; ich bestreite, dass der Staat die Eigenschaft eines Rechtssubjekts besitzt; ich sehe im Staat nichts anderes als eine faktische Macht, deren Gegenstand und Umfang durch das objektive Recht bestimmt werden“.[38]
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Für Duguit, der seinerzeit Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität von Bordeaux war, folgt das Besondere des Verwaltungsrechts aus dem Erfordernis, services publics zu erbringen, und nicht aus der öffentlichen Macht des Staates. Dieser besteht entweder aus einer Gesamtheit von Organen, welche die services publics im materiellen Sinne gewährleisten, oder aus einer Gesamtheit von services publics, diesmal im organischen Sinne, wie auch Duguit den Begriff in seinen Werken benutzt hat. Duguit hatte den Eindruck, dass sich der Conseil d’État und das Tribunal des conflits mehr und mehr dieser Natur des Staates und der kommunalen Gebietskörperschaften bewusst waren. In der Tat geschah dies in einem Moment der Dritten Republik, in dem sich das Thema Solidarität großer Beliebtheit erfreute. Vor diesem Hintergrund setzte sich zwischen 1903 und 1909 das Definitionskriterium des service public auch in der Rechtspraxis durch, insbesondere was die Streitigkeiten in Bezug auf Verträge mit dem Staat, den Gemeinden und den Departements sowie den Bereich der quasi-deliktischen Haftung anbelangte.[39]
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Zur gleichen Zeit wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung für einen weiteren Juristen von großem Format, der sowohl ein Freund als auch ein geistiger Rivale von Duguit war: Maurice Hauriou (1856–1929). Wie Duguit verfügte Hauriou über umfassende Geschichtskenntnisse; er interessierte sich für die philosophischen und sozialwissenschaftlichen Strömungen seiner Zeit, zitierte und diskutierte die Ansichten ausländischer, insbesondere deutscher, italienischer, britischer, spanischer und belgischer Autoren. Wie Duguit zögerte er nicht, heterodoxe Ideen zum Ausdruck zu bringen, beispielsweise über die Hierarchie der Gewalten: Er räumte der vollziehenden Gewalt Vorrang ein gegenüber der „beschlussfassenden Gewalt, die durch die parlamentarischen Versammlungen repräsentiert wird“[40], obgleich die Dritte Republik den Eindruck vermittelte, dass die beiden Kammern des Parlaments im Vergleich zu den fragilen und instabilen Regierungen allmächtig waren. Dennoch stellte sich Hauriou auf der Grundlage einer spiritualistischen Konzeption der Gesellschaft und des Rechts der objektiven Rechtskonzeption von Duguit entgegen. Er war ein zugleich sozial und liberal eingestellter Katholik.
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Mit Blick auf das Verwaltungsrecht formulierte Hauriou, der seinerzeit Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät von Toulouse war, seine Gedanken zum einen in einer großen Anzahl von Urteilskommentaren – mehr als 300 zwischen 1892 und 1928 – und zum anderen in den verschiedenen Auflagen seines Précis de droit administratif.[41] Er definierte dieses Rechtsgebiet als die „Gesamtheit der Rechtssätze, welche die Organisation der Verwaltungsbediensteten, ihre juristische Tätigkeit und ihre Beziehungen zu den administrés im Rahmen der Erfüllung der administrativen Aufgaben betreffen“. Diese Definition gelte, so fügte er hinzu, unabhängig davon, um welches Verwaltungsrecht es sich handele. Das französische Verwaltungsrecht ist ihm zufolge „ein Recht der Billigkeit, das auf der Prärogative der Verwaltung gründet, durch den Richter geschaffen ist und sich nach Maßgabe der Theorie der Handlungsformen gliedert“[42]. Hauriou verwies anlässlich dieser Ausführungen explizit auf Gaston Jèzes Übersetzung von Albert Venn Diceys Werk Introduction to the Study of the Law of the Constitution, die im Jahre 1902 unter dem Titel „Introduction à l’étude du droit constitutionnel“ erschienen war. Dicey, so sagte er, „war mit den Gegensätzen zwischen der englischen und der französischen Rechtsordnung vertraut und hat daher die passenden Worte gefunden“; er fügte allerdings hinzu, dass bereits 1865 Léon Aucoc, ein prominentes ehemaliges Mitglied des Conseil d’État, einen solchen Vergleich zwischen dem französischen Conseil d’État und den englischen Equity-Gerichten unterbreitet habe.[43]
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Hauriou war der Auffassung, dass der service public, dessen Bedeutung er nicht in Abrede stellte, keine erstrangige Erklärung für die spezifische Besonderheit des Verwaltungsrechts liefern kann. Das, was dieses Rechtsgebiet kennzeichne, seien vielmehr die Prärogativen der öffentlichen Gewalt, die Handlungsmöglichkeiten, die über diejenigen des Zivilrechts hinausgehen und über die der Staat und andere öffentliche Körperschaften im Namen des Allgemeininteresses verfügen. Der Gebrauch dieser Prärogativen müsse mit den berechtigten Ansprüchen der administrés in Einklang gebracht werden. Hauriou begrüßte, dass sich bei dem vorzunehmenden Ausgleich dank einer Abmilderung oder eines Richtungswandels in der Rechtsprechung des Conseil d’État eine stärkere Berücksichtigung der Belange der administrés beobachten lasse.[44]
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Während der ersten fünfzehn Jahre des 20. Jahrhunderts fällte der Conseil d’État eine Reihe von Urteilen, die den recours pour excès de pouvoir als wirksames Instrument des Rechtsschutzes signifikant ausbauten. Er dehnte die Statthaftigkeit dieses Rechtsbehelfs aus, indem er annahm, dass ganz unterschiedliche natürliche und juristische Personen ein hinreichendes Interesse daran haben können, die Aufhebung der sie betreffenden Maßnahmen zu verlangen: die Steuerzahler der Gemeinden und der Departements, die Benutzer von services publics, die Gewerkschaften oder die Angestellten der Verwaltungen oder öffentlichen Körperschaften, gegen die Disziplinarmaßnahmen verhängt oder die entlassen werden. Die gewählten örtlichen Amtsträger konnten nunmehr die Entscheidungen anfechten, die von den Aufsichtsbehörden (autorités de tutelle) getroffen wurden. Die Zulässigkeit des recours pour excès de pouvoir wurde auch dann als gegeben angesehen, wenn dem Beschwerdeführer ein anderer gerichtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stand. Weitere Typen von Maßnahmen konnten zum Gegenstand dieser Aufhebungsbeschwerde gemacht werden, etwa Verordnungen der öffentlichen Verwaltung, die mit der Kompetenz des Präsidenten der Republik erlassen worden waren, oder unilaterale Maßnahmen im Zusammenhang mit einem Vertrag, der von einer öffentlichen Körperschaft geschlossen worden war. Darüber hinaus wurden zusätzliche Rechtswidrigkeitsgründe zugelassen, etwa eine unzutreffende Tatsachengrundlage oder deren fehlerhafte rechtliche Bewertung.
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Im Bereich der Verträge ließ der Conseil d’État allerdings das Interesse des service public über die Vertragstreue obsiegen: Er räumte der Verwaltung die Befugnis ein, einseitig die Pflichten ihres Vertragspartners zu modifizieren sowie den Vertrag zu kündigen, allerdings unter dem Vorbehalt der Entschädigung des betreffenden Vertragspartners. Die Regeln für den Fall der Verletzung vertraglicher Pflichten wurden entsprechend angepasst. Der Conseil d’État fällte jedoch 1912 auch eine Entscheidung, welche die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit einschränkte: Diese hat nicht über Verträge zu urteilen, die „nach den Regeln und Konditionen“ geschlossen wurden, die „zwischen Privatpersonen zustande kommen“. Auf diese Weise kann ein Vertrag, der im Interesse des service public geschlossen wurde, dem Privatrecht unterliegen und in die Zuständigkeit des Richters der ordentlichen Gerichtsbarkeit fallen. Diese Möglichkeit besteht allerdings nicht, wenn der Vertrag eine Klausel enthält, die das Privatrecht nicht vorsieht; dann bleibt es bei der Zuständigkeit des Conseil d’État.[45] Die einschlägige Entscheidung in der Rechtssache Société des granits porphyroïdes des Vosges, welche die Lieferung von Pflastersteinen an eine Gemeinde zum Gegenstand hatte, wurde paradoxerweise in Übereinstimmung mit den Schlussfolgerungen eines commissaire du Gouvernement getroffen, der sozialistischen Ideen verhaftet war, nämlich Léon Blum, der später Präsident des Ministerrates (Conseil des ministres) werden sollte.[46] Sie erwies sich als ein coup d’arrêt für die Fortentwicklung der Effekte, die mit dem Begriff des service public verbunden waren, und dies am Vorabend des tragischen Geschehens, das eine alte Bedeutung des Ausdrucks „service public“ wieder aufleben lassen sollte: jene des Dienstes, den der Bürger für sein Vaterland leistet.
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 43 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Frankreich › IV. Das Schicksal des Verwaltungsrechts seit dem Ersten Weltkrieg