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4. Die Verwaltung und das demokratische Prinzip

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In der Perspektive des klassischen deutschen Verwaltungsrechts kommt der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft eine überragende Bedeutung zu. Der Bürger erscheint in ihr vor allem als natürlicher Widerpart der Verwaltung, deren „Eingriffe“ in seine Rechtssphäre er auf der Grundlage des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts und mit Hilfe (verwaltungs-)gerichtlichen Rechtsschutzes abzuwehren oder auf das unbedingt Erforderliche zu beschränken sucht. Dass das Verwaltungsrecht vor diesem Hintergrund rechtsschutzzentriert sein muss, liegt auf der Hand.

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Diese Perspektive ist zeitlos gültig, denn nicht nur der Verwaltungs-, sondern auch der Verfassungsstaat ist freiheitsgefährdend,[271] und in zahlreichen Hinsichten ist der staatliche Zugriff intensiver denn je.[272] Gleichwohl beinhaltet sie ein im demokratischen Rechtsstaat unzulängliches Verständnis des Bürgers.[273] Das allein rechtsstaatlich ausgerichtete Verwaltungsrecht begrenzt den Bürger auf die gesellschaftliche Sphäre und seine individuellen Rechte. Die Sorge um das Gemeinwohl als solches verbleibt „dem Staat“, „der Verwaltung“, in der Tradition einer „Obrigkeit“, die des Bürgers insoweit nicht bedarf.

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Die Rechtsschutzzentriertheit des deutschen Verwaltungsrechts hatte zudem eine problematische Blickverengung des Verwaltungsrechts zur Folge, in welcher der Stellenwert des (objektiv-rechtlichen) Gesetzmäßigkeitsprinzips sowie die Steuerung und Effektivität der Verwaltung zu stark an den Rand gedrängt wurden. Das sollte das deutsche Verwaltungsrecht in der Konfrontation mit den Anforderungen der Europäisierung mitunter als besonders schwerfällig erscheinen lassen, etwa mit Blick auf die Vorschriften über die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte (§§ 48ff. VwVfG). In den 1990er Jahren sollte dies den Ruf nach einer „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ auslösen, deren zentrales Anliegen es ist, die „klassische“ Rechtsschutzperspektive durch eine Steuerungsperspektive zu ergänzen.[274]

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Die Fixierung des Verwaltungsrechts auf den Individualrechtsschutz und die damit verbundene Koppelung des Rechtsschutzes an die mögliche Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte erweist sich mittlerweile auch als Hindernis für die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. So wird der Paradigmenwechsel von der grundsätzlich geheimen Verwaltung, deren Unterlagen nur für den Dienstgebrauch bestimmt sind und die in der Regel allein Beteiligten Akteneinsichtsrechte zugesteht (§ 29 VwVfG), zur „gläsernen“ Verwaltung, in welcher der freie Aktenzugang die Regel und seine Verweigerung die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme ist, nur mühsam und schleppend vollzogen.[275] Darüber hinaus tun sich Verwaltung und Verwaltungsrecht schwer mit im Zuge der Internationalisierung und Europäisierung immer wichtiger werdenden Popular- und Verbandsklagen sowie der selbständigen Einklagbarkeit von Verfahrensrechten,[276] was mitunter zu grotesk wirkenden Konstruktionen zwingt.[277]

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Schließlich macht es die Rechtsschutzzentrierung des Verwaltungsrechts unmöglich, den Beitrag zu erkennen und dogmatisch einzuordnen, den die Rechtsprechung für die Gewährleistung des Gesetzmäßigkeitsprinzips leistet. Für die mit der Eröffnung gerichtlichen Rechtsschutzes verbundene demokratiespezifische Ventil- und Kompensationsfunktion, für den nicht unerheblichen Beitrag der Rechtsprechung zur demokratischen Legitimationsvermittlung staatlicher Entscheidungen, fehlen dem deutschen öffentlichen Recht insoweit die Antennen.[278]

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen§ 42 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Deutschland › V. Der Begriff des Verwaltungsrechts

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