Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Tomasz Rechberger, Michał Ziółkowski, Andrzej Wróbel - Страница 63
1. Die Ausweitung der Sonderrechte der Verwaltung
Оглавление36
Die Ausweitung der Sonderrechte der Verwaltung nahm unterschiedliche Formen an. Sie erfolgte vor allem über eine Einschränkung gewisser Freiheiten (die Religionsfreiheit wurde allerdings durch das Konkordat von 1801 wieder eingeführt). Sie manifestierte sich auch in der untergeordneten Stellung der Vertragspartner der Verwaltung, in dem Zugriff auf das Privateigentum und in der „Garantie der Beamten (garantie des fonctionnaires)“.
37
Die Beschränkung individueller Freiheiten kam in zwei verschiedenen Aspekten zum Ausdruck. Sie bestand zunächst darin, dass die administrés zu persönlichen Dienstleistungen herangezogen wurden, was unter den euphemistischen Begriff der „Naturalabgaben (prestations en nature)“ gefasst wurde. Ferner zeigte sie sich in einer Stärkung der Befugnisse der Polizei zu Lasten der Freiheit von Handel und Industrie und insbesondere der Meinungsäußerungsfreiheit.
38
Im Bereich der öffentlichen Verträge hatte die verstärkte Fokussierung auf das allgemeine Interesse drei Auswirkungen: Die Verwaltung wurde frei, mit denjenigen Leistungsanbietern, die sie vorzog, vertragliche Beziehungen einzugehen, was es ihr ermöglichte, die Angebote von Unternehmern, die sich noch nicht bewährt hatten, auszuschlagen. Sie konnte darüber hinaus einseitig die Vergütung, welche sie dem Auftragnehmer zu zahlen hatte, reduzieren, wenn sie feststellte, dass die Kosten für die Erstellung des Werks im Verlauf der Ausführung der Arbeiten um mindestens ein Sechstel gesunken waren. Schließlich konnte sie gegenüber bestimmten Anbietern sehr schnell die Einrede der Verjährung geltend machen.
39
Die Erweiterung des Zugriffs auf das Privateigentum äußerte sich in zweifacher Hinsicht. Zum einen wurde das Eigentum an bestimmten Immobilien im Namen des Allgemeininteresses einem besonderen Rechtsregime unterstellt. Dies war der Fall bei Wäldern, Mooren und Bergwerken. Zum anderen wurden die Verfahren, die es gestatteten, Privatpersonen ihre Güter zu entziehen, zugunsten der Verwaltung erleichtert. Dies betraf die Bereiche der Beschlagnahmung, der Arrondierung und der Enteignung (im letztgenannten Fall zumindest von 1807 bis 1810).
40
Die Beamten waren ihren Dienstvorgesetzten strikt untergeordnet. Zur Verantwortung gezogen werden konnten sie von den administrés überhaupt nicht und selbst von der Staatsanwaltschaft der ordentlichen Gerichtsbarkeit nur unter engen Voraussetzungen. All denjenigen, welche den Status eines „Beauftragten der Regierung (agent du Gouvernement)“ besaßen, wurde durch Art. 75 der Verfassung des Jahres VIII ein besonders starker Schutz zuerkannt: Sie konnten für Handlungen, die im Zusammenhang mit ihren amtlichen Funktionen standen, nur aufgrund einer Entscheidung des Conseil d’État verfolgt werden. Dieser Schutz, der „garantie des fonctionnaires“ genannt wurde, sollte nach Einschätzung liberaler Autoren wie Benjamin Constant 250 000 Mitgliedern der Verwaltung zugute kommen[18] (die übrigen Amtsinhaber profitierten weiterhin von Bestimmungen aus der Zeit der Revolution, welche die Möglichkeit einschränkten, gegen sie zivil- und strafrechtliche Sanktionen zu verhängen).
41
Der Conseil d’État und die Cour de cassation legten das die agents du Gouvernement privilegierende Merkmal der „im Zusammenhang mit ihren amtlichen Funktionen stehenden Handlungen“ weit aus. Sie vertraten die Ansicht, dass es ausreichte, dass die Handlung, die der administré zur Anzeige brachte, während der Ausübung der amtlichen Funktionen vorgenommen worden war, um das Erfordernis einer Genehmigung seitens des Conseil d’État zu begründen, selbst wenn die Handlung ihrer Natur nach funktionsfremd war. Erst im Jahre 1864 modifizierte die Cour de cassation ihre Rechtsprechung in diesem Punkt. Sie hat es allerdings stets abgelehnt, Art. 75 der Verfassung des Jahres VIII allein auf Fälle einer strafrechtlichen Verfolgung und nicht auch auf solche, in denen der Amtsinhaber zivilrechtlich zur Verantwortung gezogen werden sollte, anzuwenden.
42
Der Conseil d’État traf, in der Terminologie des Art. 75 der Verfassung des Jahres VIII, die „Entscheidung“, die Genehmigung einer Verfolgung bzw. Inanspruchnahme des agent du Gouvernement zu erteilen oder zu versagen. Napoleon war indes der Auffassung, dass ihm die Befugnis zukam, der Entscheidung, die der Conseil d’État getroffen hatte, zuzustimmen oder auch nicht, und zwar im Wege einer Ausweitung des Systems der „justice retenue“. Im Rückblick lässt sich sagen, dass der Conseil d’État sich nicht so zurückhaltend gezeigt hat, eine Genehmigung dafür zu erteilen, dass gerichtliche Schritte gegen einen agent du Gouvernement unternommen werden konnten, wie ihm dies seinerzeit vorgeworfen wurde. Er war jedoch nicht verpflichtet, seine Versagung einer Genehmigung zu begründen, was die Position der administrés schwächte. Der Mechanismus der „garantie des fonctionnaires“, an dem die Cour de cassation auch nach dem Untergang des Ersten Kaiserreichs (1804–1815) festhielt, rief scharfe Kritik hervor. Alexis de Tocqueville versicherte, dass ein Engländer oder Amerikaner ihn nicht verstehen könne. Dennoch bestand der Mechanismus bis zum Ende des Zweiten Kaiserreichs (1852–1870) fort.[19]