Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Tomasz Rechberger, Michał Ziółkowski, Andrzej Wróbel - Страница 61

3. Die napoleonische Schlüsselinstitution: Der Conseil d’État

Оглавление

27

Die Verfassung des Jahres VIII (Dezember 1799), die nach dem von Emmanuel Joseph Sieyes angezettelten und von Napoleon Bonaparte zum Erfolg geführten Staatsstreich ausgearbeitet wurde, etablierte das Konsulatsregime (1799–1804). Die Verfassung stärkte in beachtlichem Ausmaß die vollziehende Gewalt, die zum Gouvernement wurde, und besonders den ersten der drei Konsuln, Bonaparte. Die Konsuln wurden durch ein Organ unterstützt, das in mehrfacher Hinsicht an den alten Conseil du roi erinnerte, der ein Opfer der Revolution geworden war: den Conseil d’État (diese Bezeichnung wurde bereits im Ancien Régime häufig für den Conseil du roi verwendet).

28

Dem Conseil d’État, der sich aus Beratern (conseillers) zusammensetzte, die vom ersten Konsul ernannt und durch ihn auch wieder abgesetzt werden konnten, kamen zwei Funktionen zu. Seine erste Funktion betraf den Rechtsetzungsprozess. Der Conseil d’État erstellte die Entwürfe für diejenigen Gesetzgebungsvorhaben, für welche die Regierung das alleinige Initiativrecht besaß und welche deren Mitglieder dann gegenüber dem Legislativorgan unterstützten. Er fasste auch die règlements für die öffentliche Verwaltung ab. Seine zweite Funktion bestand darin, „die Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit der Verwaltungstätigkeit entstehen, zu beseitigen“ (Art. 52 der Verfassung des Jahres VIII). Noch klarer bestimmte die Verordnung vom 5. Nivôse des Jahres VIII (26. Dezember 1799), dass der Conseil „über Streitigkeiten entscheidet, die zuvor in den Zuständigkeitsbereich der Minister fielen“ (Art. 11). Dabei handelte es sich einerseits um Streitigkeiten, die in erster Instanz von Verwaltungsorganen, die über Rechtsprechungskompetenzen verfügten, entschieden und im Beschwerdeverfahren vor die Minister gebracht worden waren, sowie andererseits um Streitigkeiten, die unter dem vorangegangenen politischen System unmittelbar den Ministern vorgelegt worden waren. Die Verordnung des Jahres VIII präzisierte auch die Zusammensetzung des Conseil d’État. Die 30 bis 40 conseillers waren in fünf Sektionen aufgeteilt: Finanzen, Zivil- und Strafgesetzgebung, Krieg, Marine und Inneres. An den Generalversammlungen (assemblées générales) nahmen alle conseillers teil.

29

Der Conseil d’État entfaltete unter dem Konsulat und ab dem Jahre 1804 unter dem Empire eine beachtliche Tätigkeit im Bereich der Gesetz- und Verordnunggebung. Er hatte einen herausragenden Anteil an dem Werk der Kodifikation des Privat- und des Strafrechts. Er verfasste natürlich auch zahlreiche Gesetze und Verordnungen, die sich auf Verwaltungsangelegenheiten bezogen. Ausgehend vom Jahre 1803 wurde der Conseil d’État durch Napoleon mit einer dritten Mission betraut, nämlich derjenigen, an der Ausbildung der zukünftigen Amtswalter mitzuwirken. Zu diesem Zweck wurde die Anzahl der Auditoren (auditeurs) zeitweise auf bis zu 385 erhöht. Was die Ausübung der rechtsprechenden Funktion, die dem Conseil d’État zukam, anbelangte, wurde im Jahre 1806 mit der Einrichtung einer Kommission für Rechtsstreitigkeiten (commission du contentieux) eine deutliche Verbesserung erzielt. Die Kommission, die sich aus sechs auditeurs und sechs maîtres des requêtes (die Bezeichnung wurde vom alten Conseil du roi übernommen) zusammensetzte, führte unter dem Vorsitz des Justizministers eine Untersuchung des Rechtsstreits durch und erstattete der Generalversammlung darüber einen Bericht. Die Generalversammlung schlug Napoleon eine Lösung vor, der er fast immer zugestimmt hat. Diese Zustimmung wurde gleichwohl, nicht anders als unter dem Ancien Régime, für notwendig erachtet. Das System der durch das Staatsoberhaupt wahrgenommenen „justice retenue“[13] wurde auf diese Weise wiederhergestellt. Demgegenüber stellten die Einsetzung der Kommission und die nachfolgende Annahme von Verfahrensvorschriften einen nicht zu leugnenden Fortschritt dar.

30

Der Conseil d’État erwies sich als überaus nützlich und überstand daher die politischen Regimewechsel, auch wenn er während der Restauration und der Julimonarchie (1830–1848) seinen Status als Verfassungsorgan einbüßte. Zu Beginn des zweiten, liberaleren Regimes wurden spürbare Modifikationen in Bezug auf die Behandlung der Streitigkeiten vorgenommen. Die Angelegenheiten, die Gegenstand eines Beschwerdeverfahrens vor dem Conseil d’État waren, wurden weiterhin durch ein spezielles Gremium untersucht. Diesem saß jedoch ab dem Jahre 1832 nicht mehr der Justizminister, sondern ein Mitglied des Conseil d’État vor. Der Bericht, der von diesem Gremium erstellt wurde, wurde in der für den Rechtsstreit anberaumten Generalversammlung in öffentlicher Sitzung verlesen. Die Anwälte der Parteien hatten das Recht, ihre Beurteilung des Falles vor der Generalversammlung mündlich vorzutragen, was sie in die Lage versetzte, ihre in den Schriftsätzen niedergelegten Ausführungen zu erläutern und zu ergänzen. Der für den Rechtsstreit zum Berichterstatter bestimmte maître des requêtes legte in seiner Eigenschaft als Beauftragter des Königs (commissaire du roi) seine Schlussfolgerungen dar. Seine Intervention wurde ursprünglich, d.h. im Jahre 1831, konzipiert, um zugunsten der Verwaltung einen Ausgleich zu schaffen zu der den Anwälten der Parteien eingeräumten Möglichkeit, sich zu äußern. Die commissaires du roi waren jedoch der Ansicht, dass sie nicht unter allen Umständen die Position der Verwaltung zu vertreten hatten. Sie gingen davon aus, dass sie frei und unparteiisch ihre Meinung über den Rechtsstreit abgeben sollten. Die Generalversammlung trat anschließend in eine Beratungsphase ein, in der sie sich nach verschiedenen Regeln richtete. Sie verabschiedete einen Urteilsentwurf, der dem König zum Zwecke der Erteilung der Zustimmung vorgelegt wurde; die Zustimmung wurde allerdings fast nie verweigert.

31

Während der Zweiten Republik erließ der Conseil d’État, der durch die Verfassung von 1848 erheblich umgestaltet worden war, das Urteil selbst. Die Verfassung schuf ein Tribunal des conflits, das sich je zur Hälfte aus Mitgliedern des Conseil d’État und der Cour de cassation zusammensetzte und anstelle des Conseil d’État die Zuständigkeitskonflikte beilegte. Nach dem Staatsstreich des prince-président Louis-Napoléon Bonaparte erlangte der Conseil d’État diese Kompetenz im Jahre 1852 zurück; allerdings wurde zugleich das System der „justice retenue“ wiederhergestellt. Es verschwand mit dem Gesetz vom 24. Mai 1872: Der Conseil d’État entschied nunmehr „souverän“ über die ihm vorgelegten Beschwerden. Die Zuständigkeitskonflikte hingegen wurden erneut vor ein paritätisch besetztes Tribunal des conflits gebracht.[14]

Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen§ 43 Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Frankreich › III. Die Etablierung des Verwaltungsrechts in der traditionellen französischen Verwaltung (1800–1914)

Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх