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c) Der Individualrechtsschutz nach Maßgabe subjektiv-öffentlicher Rechte

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Der in Art. 19 Abs. 4 GG enthaltenen Systementscheidung entsprechend gewährt das deutsche Verwaltungsprozessrecht Rechtsschutz grundsätzlich nur bei der Verletzung subjektiv-öffentlicher Rechte. Klagen sind nur zulässig, wenn der Kläger eine „Klagebefugnis“ besitzt, also die Möglichkeit geltend machen kann, in eigenen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 und § 47 Abs. 2 VwGO), und sie haben zudem nur dann Erfolg, wenn der Kläger nach Feststellung des Verwaltungsgerichts tatsächlich in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO). Über den Wortlaut des Gesetzes hinaus gilt dies für alle Verwaltungsklagen, auch in der Sozial- und Finanzgerichtsbarkeit (§ 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes und § 40 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung).

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Angesichts der Fixierung auf den gerichtlichen Rechtsschutz kann es nicht verwundern, dass die Frage nach dem subjektiv-öffentlichen Recht und seiner Bestimmung in der letzten Phase der Herausbildung des „klassischen“ deutschen Verwaltungsrechts im Mittelpunkt vieler Debatten stand. Die Betroffenheit in einem subjektiv-öffentlichen Recht löst den Vorbehalt des Gesetzes aus, begründet Anforderungen an das Verwaltungsverfahren (§ 28 des Verwaltungsverfahrensgesetzes [VwVfG]) und hat Konsequenzen für die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen sowie für ihre gerichtliche Kontrolle.

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Die Frage nach dem subjektiv-öffentlichen Recht steht bereits am Beginn der modernen deutschen Verwaltungsrechtsentwicklung[258] und wird – damals wie heute – nach der dem Zivilrecht (§ 823 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) entlehnten Schutznormtheorie beantwortet. Danach setzt die „Begründung eines subjektiven öffentlichen Rechts […] eine Norm des objektiven Rechts voraus, die geeignet ist, entweder unmittelbar oder durch Vermittlung eines von der Norm mit Rechtswirkungen ausgestatteten Aktes eine Rechtsposition des Einzelnen zu begründen“.[259] Entscheidender Ansatzpunkt für die Zuerkennung eines subjektiv-öffentlichen Rechts ist in der klassischen Lehre die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, der nach überkommener Auffassung bei der Ausgestaltung der Verwaltungsrechtsverhältnisse festlegen muss, welche Vorschriften (auch) Individualinteressen dienen und deshalb subjektiv-öffentliche Rechte begründen.

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Konsequenterweise erscheinen das Gesetz und die es konkretisierenden Normen, Verwaltungsakte und Verwaltungsverträge damit als entscheidende Grundlage der subjektiv-öffentlichen Rechte, so dass sich die verwaltungsrechtlichen Probleme vor allem auf die richtige Auslegung der einschlägigen Normen reduzieren. Offen bleibt freilich, wie weit der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte reicht. Hier hat sich, hinter der intakt gebliebenen Fassade der aus dem Konstitutionalismus übernommenen Schutznormtheorie im Zeichen der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts seit den 1970er Jahren eine tektonische Verschiebung vollzogen, über deren Konsequenzen bis heute kein vollkommenes Einvernehmen besteht.

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Nach der Schutznormtheorie traditioneller Lesart ist der Gesetzgeber bei der Entscheidung über die Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte grundsätzlich frei. Er kann aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtsklarheit oder der Verwaltungseffektivität davon absehen, die Regelungen eines Gesetzes auch in den Dienst seiner Adressaten zu stellen. Mitunter nimmt er diese Beschränkung sogar ausdrücklich vor und regelt, dass bestimmte Verwaltungsaufgaben allein im öffentlichen Interesse erledigt werden (siehe etwa § 3 Abs. 3 des Börsengesetzes und § 23a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes). Es liegt freilich auf der Hand, dass dieser aus dem 19. Jahrhundert stammende Ansatz in einer Rechtsordnung, in der auch der Gesetzgeber an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden ist (Art. 1 Abs. 3 GG) und in der diese nahezu alle Interessen und Verhaltensformen des Einzelnen schützen, jedes Gesetz also immer auch irgendwie die Grundrechte der Bürger berührt, nicht aufrecht erhalten werden kann. Soweit der objektive Regelungsgehalt eines Gesetzes daher grundrechtlich geschützte Interessen berührt, empfängt er von diesen auch im Hinblick auf die Zuerkennung subjektiver Rechte „norminterne Direktiven“, denen sich der Gesetzgeber nicht entziehen kann. Dabei macht es keinen prinzipiellen Unterschied, ob das in Rede stehende Gesetz bipolare Rechtsverhältnisse zwischen dem Einzelnen und dem Staat ausgestaltet oder ob es multipolare Verwaltungsrechtsverhältnisse im Rahmen einer normativen Ausgleichsordnung konstituiert,[260] wie sie etwa zwischen Anlagenbetreibern, Staat und Nachbarn im Bau- oder Immissionsschutzrecht existieren. Konsequenterweise muss die Frage, ob eine bestimmte Norm für den Einzelnen ein subjektiv-öffentliches Recht begründet aufgrund einer sorgfältigen Einzelnormanalyse[261] entschieden werden, bei der zunächst und vorrangig die norminternen Direktiven zu bestimmen sind, die das Gesetz von den Grundrechten empfängt.

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Der Weg zu dieser Einsicht war steinig und ist noch immer nicht vollständig durchschritten. Gleichwohl lässt sich feststellen, dass seit Beginn der 1970er Jahre eine signifikante Ausweitung der subjektiv-öffentlichen Rechte stattgefunden hat, bei der die – erst später so genannten – norminternen Direktiven der Grundrechte zumindest im Hintergrund die entscheidende Rolle gespielt haben und das Dogma von der politischen Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte zu Recht ins Wanken geraten ist.

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Unproblematisch gestaltete sich dies für die bipolaren Verwaltungsrechtsverhältnisse zwischen Bürger und Staat. Nachdem das Bundesverfassungsgericht den weiten Schutzbereich der Allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) anerkannt hatte, stand fest, dass die Auferlegung jeglicher Pflicht einen – rechtfertigungsbedürftigen – Grundrechtseingriff darstellt und dass jedermann, gestützt jedenfalls auf Art. 2 Abs. 1 GG, insofern auch einen Anspruch auf Freiheit vor gesetzlosem wie gesetzwidrigem Zwang geltend machen kann. Daher geht die – von Rechtsprechung und Lehre einmütig akzeptierte[262] – sog. Adressatentheorie davon aus, dass der Adressat eines ihn belastenden Verwaltungshandelns grundsätzlich einen umfassenden Anspruch auf dessen Rechtmäßigkeit besitzt – von der Einhaltung der behördlichen Zuständigkeitsordnung über das Verwaltungsverfahren bis hin zu der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Vergleichbares gilt, soweit das Gesetz der Ausgestaltung grundrechtlich radizierter Teilhabeansprüche dient.[263] Im Bereich bipolarer Verwaltungsrechtverhältnisse hat dies eine weitgehende Subjektivierung des Gesetzmäßigkeitsprinzips zur Folge.

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Schwieriger gestalteten sich die Dinge im Bereich multipolarer Verwaltungsrechtsverhältnisse, was auch mit der nur zögerlichen Anerkennung faktischer Grundrechtseingriffe zusammenhing. Im Detail bereitet die Bestimmung der subjektiv-öffentlichen Rechte hier nach wie vor erhebliche Probleme; der Trend zu ihrer substantiellen Ausdehnung unter Rückgriff auf die Grundrechte und ihre norminternen Direktiven ist jedoch eindeutig. Das mögen zwei Beispiele belegen: Im Bau- und Planungsrecht nutzte das Bundesverwaltungsgericht in seiner berühmten Schweinemäster-Entscheidung das „Gebot der Rücksichtnahme“, um eigentlich rein objektiv-rechtlich konzipierten Normen wie den Regelungen über die Zulässigkeit von Bauvorhaben in Gebieten, für die kein Bebauungsplan erlassen ist (§§ 34 und 35 des Baugesetzbuches),[264] unter qualifizierten Voraussetzungen doch Schutznormcharakter für die Nachbarschaft zuzusprechen, was in der Sache nichts anderes war als ein kaschierter Rückgriff auf die norminternen Direktiven der einschlägigen Grundrechte der Nachbarn, vor allem des Rechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 und der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG.[265] Im öffentlichen Wirtschaftsrecht, um ein zweites Beispiel zu nennen, begann die Literatur schon 1970, kommunalrechtliche Vorschriften, welche die kommunale Wirtschaftstätigkeit begrenzten, wegen der Ausstrahlungswirkung der in Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisteten Berufsfreiheit als subjektiv-öffentliche Rechte der privaten Konkurrenten zu qualifizieren.[266] Es sollte aber noch weitere 35 Jahre dauern, bevor die Verwaltungsgerichte nach verschlungenen Umwegen über das Wettbewerbsrecht[267] das eigentlich Offensichtliche anzuerkennen begannen.[268] Vergleichbares gilt für die späte Anerkennung des Allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) im Vergaberecht.[269] Mit der nach 1990 einsetzenden flächendeckenden Europäisierung des Verwaltungsrechts und der Flut unionsrechtlich begründeter individueller (Klage-)Rechte hat die Zuerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte aufgrund nationaler Entscheidungen mittlerweile jedoch erheblich an Bedeutung verloren.[270]

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