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Kapitel 2
Die Hochzeit
Оглавление»›Moch's gut. Mach's gut‹, zischte Ankela durch ihre störenden dritten Zähne.«
Mutter und Vater, zwei Jahre nach ihrer Hochzeit
Alleine in ihrem Schlafzimmer im Obergeschoss griff Mary nach ihrem Brautkleid und strich über den weichen, schweren Stoff. Es war sorgfältig aus sechs Metern herrlichem Brokat genäht, der vor drei Wochen geliefert worden war. Das Material kam aus dem Stofflager, das die Oberschneiderin verwaltete, und stammte von einem ihrer Einkäufe, die sie zweimal im Jahr beim Großhändler Gilfix und Roy tätigte. Neben den Ballen einfacher bedruckter Baumwollstoffe für Kleider, schwarzer Viskose für Hosen und karierter Baumwolle für Hemden hielt die Schneiderin auch umsichtig Ausschau nach feineren Stoffen für eine eventuelle Hochzeit.
Mary wäre es nicht in den Sinn gekommen, sich ein weißes Brautkleid mit Schleier zu wünschen, für das die Frauen in der »englischen« Welt draußen so sehr schwärmten. Blau war die traditionelle Farbe für hutterische Bräute, und ihr einfaches Gewand bestand aus den gleichen fünf Teilen wie die normale hutterische Bekleidung: Pfaht, Mieder, Kittel, Fittig und eine Jacke oder Wannick. Es war so praktisch und bequem wie ihr Alltagskleid, doch der Stoff und die Farbe stellten sicher, dass sie in den nächsten zwölf Stunden im Mittelpunkt stehen würde.
Zum ersten Mal hatte heute Marys Fittig oder Schürze dieselbe kornblumenblaue Farbe wie ihr Kleid. Die Schürzen der Frauen hatten immer eine andere Farbe als der Rest der Kleidung, doch ihre Freundinnen hatten sie bedrängt, einen neuen Trend vorzugeben und ihre Schürze aus demselben Stoff wie das Kleid zu schneidern. Wehmütig dachte Mary, dass eine hübsche smaragdgrüne Schürze ihrer Kluft vielleicht den besonderen Pfiff gegeben hätte.
Sie zog Pfaht und Mieder an und befestigte ihren Kittel mit einer Sicherheitsnadel. Mit angehaltenem Atem hielt sie den passenden Fittig über Kittel und Mieder, schlang die extralangen Schürzenbänder zweimal um ihre 60-Zentimeter-Taille und band sie zu einer ordentlichen Schleife auf der linken Seite. Manchmal schneidert eine Mutter oder ältere Schwester mit fortgeschrittenen Nähkünsten so etwas Wichtiges wie ein Brautkleid, aber Mary war eine erfahrene Schneiderin und hatte alles selbst genäht. Sie versuchte, sich in dem kleinen, billigen Spiegel, den Paul Vetter an die Wand genagelt hatte, in voller Länge zu sehen, konnte aber nur ihre modische blaue Schürze und die ordentlich gebundene Schleife erkennen.
Sie kämmte ihr hüftlanges dunkelbraunes Haar und teilte es in der Mitte. Mit geübten Händen begann sie, es zu drahen, also es an jeder Seite am Haaransatz entlang zu drehen und mit Haarnadeln festzustecken, wie es ihre Mutter, ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter vor ihr getan hatten. Diese Frisur war in Österreich Anfang des 16. Jahrhunderts modern gewesen und wurde von den Hutterinnen seither wegen ihrer Anspruchslosigkeit und Einfachheit getragen.
Mary nahm ihr Tiechel vom Bett und schaute liebevoll auf die in die linke Ecke gestickten Initialen J.M. Sechs Monate vor ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte sie das Tuch genäht und die Initialen J.M. für »Josephs Marie« als Erinnerung an die Fürsorge und Obhut ihres Vaters hinzugefügt. Ein warmes Gefühl durchströmte sie bei dem Gedanken, dass er sie jetzt beobachtete. Das schwarze Tuch mit weißen Tupfen war seit über einem Jahrhundert das Kennzeichen der hutterischen Frauen in Nordamerika. Als junges Mädchen hatte Mary die Tücher oder Tiechlen ihrer Schwestern anprobiert und sich ihre Aufnahme in den Stand einer Frau vorgestellt. Sie nahm die Ecken des Tuches und übte das zweimalige Falten des Stoffes im Uhrzeigersinn an ihren Wangen, bevor sie die Ecken zu einem Knoten unter dem Kinn zusammenband. Ihr gefiel, wie sich der dunkle Stoff von ihrer hellen, makellosen Gesichtshaut abhob und sie fühlte gerne den steifen, gestärkten Baumwollstoff an ihrem Gesicht. An ihrem fünfzehnten Geburtstag, am 26. Mai, erhielt Mary das Recht, ein Kopftuch anstelle der Mütz (Haube) für Kinder zu tragen.
Nach dem Essen im Speisesaal der Kinder war sie aufgestanden und hatte dem Deutschlehrer, der Aufsicht führte, ihren Geburtstag angekündigt. »John Vetter, ich bin funfzehn Johr olt. Onkel John, ich bin fünfzehn Jahre alt.« Sie trat von einem Fuß auf den anderen, während John Maendel sich über seinen ergrauenden Bart strich und sie ermahnte, dass sie ab jetzt eine stärkere Verbindlichkeit gegenüber dem hutterischen Glauben übernehme und dass dieser Übergang ins Erwachsensein sich in ihrem Verhalten widerspiegeln müsse. Es war eine kurze und einfache Zeremonie, doch für Mary lag die Ehre darin, bedingungslos in die Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Am Tag darauf zog sie ihr Tiechel an und nahm ihren Platz neben den anderen Frauen im Speisesaal für Erwachsene ein.
Heute diente ihr das einfache Stoffdreieck als Schleier. Als Symbol ihrer Identität war es ihr so wichtig wie einer Königin ihre Krone. Sie hatte ihr Kopftuch besonders sorgfältig gestärkt und gebügelt, sodass in der Mitte ein gestochen scharfes V erschien. Sie setzte es auf den Kopf, knotete es fest unter dem Kinn und freute sich an der eleganten Zacke, die sich oben bildete. Sie trug weder Make-up noch Schmuck, denn beides war verboten. In einer Kultur, die den inneren Schmuck des Herzens betonte, würde ihr Lächeln genügen.
Bei ihren Vorbereitungen musste Mary unwillkürlich daran denken, was für ein Wunder es war, dass sie schließlich heiraten würde. Sie hatte geglaubt, sie könnte nie die Demütigung ungeschehen machen, die sie empfand, als sie Ronalds Brief in der Öffentlichkeit vorlas. Nach diesem Vorfall hatte sie sich zurückgezogen und sich in den endlosen Kreislauf der Frauenarbeiten in der Gemeinschaft gestürzt. Monate vergingen; dann eines Nachmittags kam ihre Schwägerin Sara auf sie zu, als sie gerade Wäsche aufhängte. Obwohl Mary und Elie in ihrem Haus miteinander Trauben gegessen hatten, schnitt sie sachlich das Thema Heirat an. »Ich will überhaupt niemanden heiraten!«, stieß Mary hervor. »Der Preis ist zu hoch!!«
Eine Woche danach hängte Mary gerade Handtücher auf, als Sara wieder zu ihr kam. »Hast du über unser letztes Gespräch nachgedacht?«, fragte sie.
»Ich habe meine Meinung nicht geändert, falls du das meinst«, fauchte Mary.
Sara beobachtete, wie Mary ein nasses Handtuch aus dem Weidenkorb nahm und an die Leine anklammerte. »Überleg mal«, meinte sie. »Du lebst unter Sana Basels Dach. Sie hat einen Mann, drei Geschwister und dreizehn Kinder zu versorgen. Es wird Zeit, dass du deine Zukunft in die Hand nimmst.«
Marys Bruder Peter machte sich an Ronald heran, um seinen Standpunkt auszuloten. »Ich habe Mary vor über einem Jahr gefragt, mit mir zu gehen«, antwortete Ronald verdutzt. »Aber ich habe von ihr immer noch keine Antwort bekommen.«
Peter schickte seine Frau Sara ein drittes Mal zu Mary, um sie in dasselbe Zimmer einzuladen, in dem sie den unseligen Besuchen des Zimmermanns aus Fairmont getrotzt hatte. An Elies Stelle stand ein kurz angebundener Ronald Dornn.
»Warum hast du mir nicht geantwortet?«, fragte er.
»Wie denn?«, antwortete sie.
Mary erzählte ihre innersten Gefühle über die Annäherungsversuche von Elie und den Druck, den ihre Brüder auf sie ausgeübt hatten. Ronald war von ihrer Sanftheit entwaffnet. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich, als sie erklärte, dass sie sich so alleine und einsam fühlte wie er. Als Sara ihnen einen Teller mit Pflaumen anbot, aßen sie das Obst miteinander und vereinbarten, sich jeden Sonntag heimlich in Ronalds Haus zu treffen.
Nach einigen Wochen, als Mary im Keller unter der Gemeinschaftsküche Kartoffeln sortierte, war sie unerwartet alleine mit ihrem älteren Bruder, dem Hilfspastor, und wusste, dass Gott ihr eine Gelegenheit gegeben hatte, ihre Angelegenheit zur Sprache zu bringen. »Jake, du bist der einzige Vater, an den ich mich wenden kann«, begann sie. »Deshalb bitte ich dich um die Erlaubnis, Ronald zu heiraten.« Der dunkle Keller war ein ungewöhnlicher Ort für ein ernstes Gespräch. Doch falls ihr Bruder überrascht war, ließ er sich nichts anmerken, sondern warf weiter angefaulte Kartoffeln auf einen immer größer werdenden Haufen. »Ich weiß eigentlich nichts Schlechtes über ihn«, gab er schließlich zu und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Ich bin nicht für ihn und ich bin nicht gegen ihn.« Dieser Kompromiss war alles, was Mary brauchte.
Genau um 9.25 Uhr am Morgen verließ Ronald Dornn seine bescheidene Behausung in der nordöstlichen Ecke der Kolonie und ging mit flottem Schritt die sechzig Meter zu Sana Basels Haus, um seine Braut abzuholen. Alle Einwohner der Gemeinschaft klebten an ihren Fenstern, verfolgten seinen Gang und warteten auf das Zeichen, dem Brautpaar in die Kirche zu folgen. »Do kummt der Bräutigam!«, schrie eine der Küchenhelferinnen aus der Tür der Gemeinschaftsküche und kündete Ronalds Kommen an, während das Spülwasser des Frühstücksgeschirrs von ihren Unterarmen tropfte. Von oben bis unten betrachtete sie ihn, seine feierliche Haltung und wie er den perfekt sitzenden schwarzen Hochzeitsanzug trug, den Marys Schwester Katrina genäht hatte. Seinen »Waschzuber« hatte er gegen den traditionellen schwarzen Hut der Schmiedeleut eingetauscht, der bei Eaton in Winnipeg gekauft worden war. Mit 29 Jahren war Ronald älter als der durchschnittliche hutterische Bräutigam und acht Jahre älter als seine Braut. Als das Paar Hand in Hand aus Sana Basels Haus trat, stellte sich der Rest der Kolonie hinter ihnen in einer Reihe auf und folgte ihnen in die Kirche.
Die Kirche war spärlich, aber zweckmäßig eingerichtet. Vorne diente ein niederer Eichentisch als Kanzel, mit Plätzen auf jeder Seite für die örtlichen oder fremden Pastoren auf Besuch. Ronald und Mary nahmen, vom Mittelgang getrennt, ihren Platz einander gegenüber ein, während der Rest der Gemeinde schnell die übrigen Plätze füllte. Die Sonntagsschuhe klapperten auf dem blanken Linoleumboden, als die Frauen sich auf die rechte und die Männer auf die linke Seite setzten. Die Leute aus New Rosedale warfen verstohlene Blicke auf die Besucher aus den Kolonien Old Rosedale, Sturgeon Creek und Deerboine, denn sie waren neugierig, wen der Pastor eingeladen hatte.
Sam Kleinsasser, Marys Onkel, war der Hauptpastor der Kolonie Sturgeon Creek und hatte die Ehre, den Hochzeitsgottesdienst für seine Nichte zu halten. Zu Beginn der Trauung putzte Prediger Kleinsasser seine Brille mit einem feuerroten Taschentuch – dann schnäuzte er sich laut. »Liebe Brüder und liebe Schwestern. Wir haben uns wieder versammelt in dem Namen unseres Herrn und Heilands Jesus Christus«, begann er auf Hochdeutsch, der offiziellen Sprache für Gebete, Lieder und Predigten.
Über seine Drahtgestellbrille hinweg betrachtete er die Gemeinde und sein Blick fiel auf Sorah Kleinsasser, die seit vierzig Jahren seine liebe Frau war. Neben den anderen Frauen saß sie in einem Meer von bedruckten Baumwollstoffen und gepunkteten Kopftüchern. Sie war die Schwester von Marys verstorbener Mutter und war schon vor einer Woche in New Rosedale angekommen, um für Sana Basel zu nähen und zu flicken und um Federbetten und Kopfkissen anzufertigen, das übliche Hochzeitsgeschenk einer Mutter an ihre Tochter.
Vor Sorahs Ankunft hatte Sana Basel ihre Töchter angewiesen, einen großen selbst gemachten Teppich über das Kellerlein zu legen, einen niedrigen unterirdischen Keller, den jedes Haus besaß und in dem gekaufte Leckerbissen wie Süßigkeiten oder Kekse verstaut wurden. Das Kellerlein war mit einer Falltür verschlossen, die sich am Fuß von Sana und Paul Hofers Bett befand. Sorah war unheilbar neugierig und es dauerte keinen Tag, bis sie die Schatztruhe gefunden hatte. Die Schwerkraft half ihr beim Abstieg unter die Dielen, doch ihr ausladender Körperumfang machte den Ausstieg unmöglich. Als Paul Hofer sie in der viereckigen Öffnung festgekeilt vorfand, in einer Hand eine Packung Kekse, in der anderen Hand eine Packung Schokoladenplätzchen, errötete sie wie eine junge Verliebte, die in einer kompromittierenden Situation ertappt wurde. Doch inzwischen hatte sie ihr seelisches Gleichgewicht wieder gefunden und thronte wie eine Herzogin zwischen Anna und Katrina, Marys Schwestern aus der Kolonie Deerboine.
Hinter Ronald, auf der anderen Seite des Mittelgangs, saßen Marys zwölf Brüder, düster wie zwölf Geschworene vor Gericht, mit ernsten Gesichtern, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Eine Woche zuvor hatten einige von ihnen die Wahl ihrer Schwester bei der Hulba, der Verlobungsfeier, beurteilt. Normalerweise wurde eine Hulba eine oder zwei Wochen vor der Hochzeit gehalten, und bei dieser Gelegenheit zeigte sich ein verlobtes Paar zum ersten Mal öffentlich. Zum größten Teil war es eine Gelegenheit zum Feiern, doch zur Hulba gehörte auch eine besondere Zusammenkunft, bei der die Männer die Würdigkeit des Bräutigams prüften. Der Freier musste Anhänger gewinnen, die für ihn sprechen, während andere Zweifel über seine Tugenden erhoben.
Diese alte Tradition ging auf das 18. Jahrhundert in Russland zurück, als die Heirat zwischen dem Sohn eines Korbmachers und einem hutterischen Mädchen verhindert wurde, weil er kein Handwerk gelernt hatte. Dieser hutterische Brauch war größtenteils eine reine Formsache und der Mann wurde im Allgemeinen in Rekordzeit zum Feiern mit seiner Auserwählten entlassen. Es war selten, dass eine Frau es sich in Bezug auf ihren künftigen Ehemann anders überlegte oder sich dem Druck besorgter Angehöriger beugte und die Hochzeit absagte. Sollte das doch geschehen, dann bekam der Mann einen Korb, der natürlich leer war, als Zeichen dafür, dass er von der Frau abgewiesen wurde. Die Anhänger dieses Brauches argumentierten, dass ein unangenehmer Start besser ist als lebenslange Trübsal.
Falls Ronald Zweifel über diese Zusammenkunft hegte, so zeigte er sie nicht, als Mary und er am Abend ihrer Hulba von Tür zu Tür gingen und sich als Paar vorstellten. Etwas früher an diesem Tag hatte Andreas Hofer, der Hauptpastor in New Rosedale, eine Flasche Roggenwhiskey und zwei winzige Glaskrügchen auf einem passenden Tablett in das Haus des Bräutigams geschickt. Andreas war einer der Ersten, die von Ronalds Absicht wussten, Mary Maendel zu heiraten, da Ronald seine offizielle Erlaubnis benötigte. Es war Tradition, dass der Hauptpastor das Hochzeitsdatum festsetzte und beschloss, welche Kolonien eingeladen werden.
Am Abend, als sie ihre Runde machten und Schenken (Trinksprüche) auf sich ausbringen ließen, goss Ronald genau abgemessene Mengen Black Velvet für die Trinksprüche in die Gläser und Mary bot jedem Erwachsenen ein Gläschen an. »Auf ein Dutzend Kinder und gute, starke Nerven«, wünschte ein schicksalsergebener Vater inmitten seiner Kinderschar. »Lebt für Jesus«, ermahnte Ankela, eine großmütterliche Seele, die bereits den unteren Teil ihres Gebisses für die Nacht herausgenommen hatte. Die meisten gaben dem jungen Paar ein paar praktische Ratschläge, doch einige teilten eine ordentliche Portion Realität aus. »Du armes Hascherl, du wirst es schon noch merken!«, rief eine Frau der nichts ahnenden Mary zu, während sie ihr Gläschen gierig leerte und aussah, als bräuchte sie ein zweites.
Jeder wollte das Paar bei seinem ersten gemeinsamen Auftritt in der Öffentlichkeit sehen, und die Kinder, denen es nicht reichte, nur einen kurzen Blick auf die Verlobten zu werfen, folgten ihnen bis in die Häuser. Wenn die Menge unüberschaubar wurde, wurden die Kinder ohne viel Federlesens hinausgescheucht.
Als Ronald und Mary schließlich in Sana Basels Haus zurückkehrten, war das Mädchenzimmer im oberen Stockwerk voller junger Leute in bester Stimmung, die Mundharmonika spielten, sangen und sich an Bier und Schnaps gütlich taten. Die Betten und ein paar Möbelstücke wurden an die Wand gerückt und in der Mitte standen Holzstühle im Kreis für Ronald und Mary und ihre engsten Freunde und Angehörigen. Einige Gäste lehnten an der Wand und im Türrahmen, während andere hinter der Hochzeitsgesellschaft standen und »zensierte« Liebeslieder sangen. Bierflaschen und Kirschwein in alten Whiskeyflaschen standen auf der einzigen Kommode neben einem Tablett mit Gläsern und Tassen, die aus der Gemeinschaftsküche stammten. Die meisten Gäste bedienten sich selbst, doch einige der jungen Männer, die Augen für die hübschen Mädchen hatten, freuten sich, Kellner zu spielen.
Im Allgemeinen wurden Verabredungen zwischen Jungen und Mädchen in einer hutterischen Kolonie missbilligt. Die jungen Leute waren auf Arbeitseinsätze in anderen Kolonien, Beerenpflücken, Sonntagsbesuche oder Hochzeiten angewiesen, wenn sie das andere Geschlecht begutachten wollten. Unter den Älteren herrschte die Meinung, dass ein Paar heiraten soll, wenn es sich wirklich kennenlernen möchte. Ronald hatte keine andere Möglichkeit, als das Licht in seinem Haus mehrmals hintereinander ein- und auszuschalten, um Mary das Signal für ihren wöchentlichen Besuch zu geben. Doch es dauerte nicht lange, bis die ganze Kolonie sich fragte, was mit Ronalds elektrischem Strom los war.
Manche Kolonien waren für ihre schönen Frauen bekannt, doch eine wirkliche Vorzeigefrau galt als fein, war bekannt für ihre Tugend, ihre Treue und ihr Pflichtbewusstsein. An diesem Abend, als sie mit leuchtenden Augen neben Ronald saß, war Mary beides.
Die Gesellschaft im Obergeschoss war die Gelegenheit zum Feiern für die jungen Leute, doch die lustige (unwiderstehliche) Atmosphäre zog die Treppe hinunter und verlockte die älteren Mitglieder der Kolonie, sich der Gesellschaft im Obergeschoss anzuschließen, um ihre Neugier zu befriedigen und die Musik zu genießen. Die Jungen aus Deerboine, die immer auf romantische Lieder aus waren, die von Liebesbriefen, heimlichen Küssen und Mädchen mit großen blauen Augen erzählten, brachten Sana Basels Töchter dazu, die bezaubernde deutsche Ballade »Es war einmal ein Mägdelein« zu singen. Jemand verlangte eine Melodie von Hank Williams – es war niemand anderes als Elie Wipf aus der Kolonie Fairmont. Sana Basels Sohn Paul jr., der auf seinem eingeschmuggelten alten Radio CKY hörte, wagte sich an »May You Never Be Alone«, seinen Lieblingshit der großen Country-Legende.
Paul zwinkerte seinem Freund George Wollman zu, der gehofft hatte, dass heute auch seine Hulba sein würde. George hatte ein Auge auf ein hübsches Mädchen aus der Kolonie Surprise Creek geworfen und sich eine Doppelhochzeit mit Ronald und Mary ausgemalt. Doch als er unangemeldet sein Interesse kundtun und ihr einen Heiratsantrag machen wollte, lehnte sie ein Treffen mit ihm ab, weil ihr vor Kurzem alle Zähne gezogen worden waren. »Das hat der Verliebtheit einen Dämpfer verpasst«, vertraute er Paul nach seiner ernüchterten Heimkehr an.
»Singt das Kusslied!«, rief ein kokettes Mädchen und lockerte den Knoten in ihrem Tiechel. Mit diesem deutschen Liebeslied werden Brautpaare zum Kuss aufgefordert. »Mir wölln's auch sehen!«, protestierten einstimmig vier Frauen und versuchten, durch die Mauer schwarzer Jacken und geraffter Röcke hindurchzusehen, die sich um Ronald und Mary gebildet hatte, um ihnen für diese seltene öffentliche Darbietung von Zuneigung etwas Privatsphäre zu bieten. Alle sangen: »Unser Bruder der soll leben, ja leben, ja leben, und soll seiner Schönsten ein Bussela geben …«
Ein paar Teenager suchten nach ihrer eigenen Mauer zur Wahrung der Privatsphäre und nahmen ihre Getränke mit nach draußen, wo ihr Alkoholkonsum nicht überwacht wurde. Vom selbst gebrauten Bier angeregt behaupteten sie lautstark vor den Gleichaltrigen, die zu Besuch waren, dass die sieben John-Deere-80-Traktoren von New Rosedale leistungsmäßig die Modelle von Allis Chalmers und International übertrafen, die die anderen Kolonien gekauft hatten. Sylvester Baer hätte sich allzu gerne an dem Gespräch beteiligt, doch er trottete an den Zechern vorbei und stieg die Treppe hoch zur Hulba. Sein Haar und sein Bart waren rostbraun und sein pockennarbiges Gesicht angespannt. Er war nervös wegen der bevorstehenden Zusammenkunft im Untergeschoss, denn er hatte versprochen, dabei den Charakter seines Freundes Ronald zu verteidigen.
Das Obergeschoss war zum Bersten voll und die Luft schwer vom Duft des Maiglöckchenparfüms. Sylvester bahnte sich den Weg durch eine Reihe Harmonikaspieler zu einem kleinen Fenster an der Rückwand, stemmte es mit seinen großen, fleischigen Händen auf und klemmte ein Lineal in die Öffnung, damit es nicht wieder zuschlug. Die kalte Novemberluft verwehte die Erinnerung an seine eigene Hulba vor weniger als einem Jahr, als sein Charakter unter die Lupe genommen worden war. Für den Witwer mit sechs Kindern war es nicht leicht gewesen, eine Frau zu finden, die bereit war, ihn zu heiraten. Die besorgten Eltern des Mädchens versuchten, ihr die Heirat auszureden und wandten ein, dass sie nicht wisse, worauf sie sich einlässt. Zwei volle Tage musste er sich herumstreiten, bis die Familie Einsehen hatte und er endlich seine Braut abholen konnte. Sylvester hoffte, dass seinem Freund diese Erfahrung, fast einen Korb zu bekommen, erspart bleibt.
»Reinhold, kummt's gehen!«, rief Paul Vetter durch den Hulba-Lärm, als er ihn aufforderte, zu der Zusammenkunft nach unten zu gehen. Ronald bahnte sich einen Weg durch die Menschen, die sogar auf der engen Treppe dicht gedrängt saßen, gefolgt von Sylvester. Die zwanzig verheirateten Männer der Kolonie zwängten sich in Sana Basels kleines Wohnzimmer.
»Brüder, beginnen wir«, begann Jake Maendel. Ronalds Blick kreuzte sich mit dem des alternden Hauptpastors Andreas Hofer, der vorne saß. Andreas hatte einmal gehofft, dass Ronald seine Tochter Emma als Braut wählen würde und war so weit gegangen, das Waiselein, »Waisenkind«, in seine eigene Familie einzuladen. Andreas war enttäuscht, als aus der Heirat nichts wurde, bemühte sich aber redlich, sich nichts anmerken zu lassen. Neben Andreas saßen die Brüder Maendel und Ronald fragte sich, was jeder von ihnen wohl zu sagen hatte. Marys Bruder Samuel, steif und mit unbewegter Miene, hatte es immer noch nicht verwunden, dass er es nicht geschafft hatte, die Schwester seiner Frau an den Mann zu bringen. Der Brief aus dem Backhaus hatte die Beziehung zwischen Ronald und Mary nicht beendet, wie er gehofft hatte, und als er hörte, dass sie heiraten wollten, machte sich Samuel zum Haus seines künftigen Schwagers auf und forderte seinen Hut zurück.
Jake Maendel räusperte sich und begann, indem er Mary als gute Christin lobte, die in einer guten hutterischen Familie aufgewachsen war. Der Reihe nach rühmten die anderen ihre Tugenden und betonten, wie pflichtbewusst, gastfreundlich und fleißig sie war. Als Marys andere Brüder erläuterten, dass Ronald ein Außenstehender war, der in Russland geboren wurde und keine hutterischen Eltern hatte, gab Ronald mit einem kurzen Nicken Sylvester Baer zu verstehen, für ihn Partei zu ergreifen. Erst nach mehrmaligem Nicken und einigen Rippenstößen sprang Sylvester mit weit aufgerissenen Augen auf die Beine. »Ich finde keine Worte!«, rief er, woraufhin alle in Lachen ausbrachen.
Im Obergeschoss war die Feier ohne den Bräutigam voll im Gange. Ronald war schon seit über zwei Stunden verschwunden, als einer der John-Deere-Jungen erschien, um sich noch ein Bier zu holen und Mary neckte, dass die Männer Ronald abgelehnt hatten und die Hochzeit abgesagt wurde. Als Elie Wipf dies hörte, setzte er sich auf Ronalds leeren Stuhl. Elies Freunde amüsierten sich über seinen Schneid, doch Mary, die aufgrund von Ronalds langem Ausbleiben verunsichert war, stand auf und verließ den Raum.
Unten fasste sich Jake Maendel und schusterte an Sylvesters Stelle ein paar positive Dinge über seinen künftigen Schwager zusammen, indem er darauf hinwies, dass er nicht übermäßig trank und bei der Arbeit zuverlässig war.
Später, in der Gemeinschaftsküche, bei Schinkenbrötchen und Kaffee, versuchte Ronald, die ungewöhnliche Hulba-Zusammenkunft, die bis Mitternacht gedauert hatte, herunterzuspielen. »Niemand wollte das Wort für dich ergreifen«, neckte er Mary. »Schließlich haben sie mir gesagt: ›Nun nimm sie schon!‹«
Als die Trauung sich dem Ende zuneigte, schloss Sam Kleinsasser sein schwarzes Gebetbuch und forderte den Bräutigam und dann die Braut auf, nach vorne zu kommen. Mary streckte ihre linke Hand dem Prediger entgegen und Ronald legte seine rechte Hand auf ihre, als sie sich versprachen, bis zu ihrem Tod treu zusammenzubleiben. Nach eineinhalb Stunden Stillsitzen machte sich Unruhe in den Reihen der Gemeinde breit und die meisten träumten inzwischen vom Mittagessen. Doch als Ronald aufgefordert wurde, das unwiderrufliche Gelübde zu sprechen, das von allen hutterischen Männern verlangt wurde, beugten sich alle aufmerksam nach vorne, um sein Versprechen zu hören: »Sollte ich am Glauben Schiffbruch erleiden, werde ich, Ronald, meine Frau und meine Kinder nicht auffordern, mit mir die Kolonie zu verlassen.« Es gab keinen Kuss, um das Gelübde zu besiegeln, und es wurden auch keine Ringe getauscht. Als Zeichen, dass er ein verheirateter Mann war, musste Ronald sich ab sofort einen Bart wachsen lassen.
In der Gemeinschaftsküche pendelte Sana Basel zwischen dem Suppenkessel auf der einen Seite und dem riesigen Bratrost auf der anderen Seite hin und her. Sie war gerne Oberköchin, eine der wenigen Führungspositionen, die in der Kolonie von Frauen eingenommen wurden. Heute war sie von der zusätzlichen Freude erfüllt, das Hochzeitsessen für ihre jüngste Schwester vorzubereiten. Sie tauchte einen großen, metallenen Schöpflöffel in den dampfenden Suppenkessel und probierte die siedende Rinderbrühe. Gehaltvolle Suppen waren ein Grundnahrungsmittel bei den Hutterern, und Nudelsuppe gab es vor allem an Sonntagen und religiösen Feiertagen sowie bei Beerdigungen und Hochzeiten. Am Anfang der Woche hatten die Frauen der Kolonie die Nudeln aus frischen Eiern und Mehl selbst hergestellt und auf langen, weißen Tüchern in der Bäckerei getrocknet.
Sana Basel fischte die gekochten Rinderstücke und die Fleischknochen aus der Brühe, legte sie in eine große Edelstahlschüssel und bedeckte das Fleisch mit einem Baumwolltuch, damit es warm blieb. »Da kommen die tüchtigen Esser aus Sturgeon Creek!«, neckte Sana Basel, als drei Frauen aus der Kolonie Sturgeon Creek ankamen, um beim Kochen für all die zusätzlichen Gäste zu helfen. Drei Zentnersäcke aus Sackleinen mit Kartoffeln waren aus dem Keller geholt worden und mussten geschrubbt und gekocht werden. Die Besucherinnen gesellten sich zu Sanas Helferinnen, die bereits begonnen hatten, das Gemüse in großen Becken vorzubereiten.
In einer anderen Ecke schnitten drei jüngere Frauen grüne Kohlköpfe, die im Sommer im Gemeindegarten angebaut worden waren. Mit erstaunlicher Genauigkeit hantierten die Dienen mit den scharfen Metzgermessern, doch als eine von ihnen sich versehentlich schnitt, zogen die anderen sie auf, sie habe Heiratsgedanken.
»Habe ich richtig gesehen? Hat ihre Schürze dieselbe Farbe wie ihr Kleid?«, fragte Ankela in die Runde, als sie die Küche betrat. Sie war gerade aus dem Gottesdienst gekommen und wusste nicht, ob sie ihrer schwachen Sehkraft vertrauen konnte. »Su'e narrischa neue Styles! – Solche verrückten neuen Moden!«, sprudelte es aus ihr heraus. »Ich kann nicht einmal sagen, ob sie überhaupt eine Schürze anhat.« Sie spülte ihr schlecht sitzendes Gebiss im Kartoffelwasser, bevor sie in den Speisesaal schlurfte. Die Schürze der Braut war bereits ein brisantes Gesprächsthema der Küchengehilfinnen. In der Gemeinschaft, in der im Allgemeinen eine einheitliche Kleiderordnung eingehalten wurde, waren die Schürzen lange Zeit eine Möglichkeit gewesen, einem gewissen persönlichen Gepräge Ausdruck zu geben, und junge Frauen tauschten manchmal ein hübsches Stück Stoff mit Freundinnen aus anderen Kolonien. Marys Schürze wurde von der Kartoffelfraktion, die für sich eine Vorreiterrolle in Sachen hutterischer Mode beanspruchte, einstimmig gebilligt.
Um halb zwölf war das Essen fertig. »Geh glöckel die Glucken!«, verkündete Sana Basel und zeigte auf eine der Frauen, die daraufhin das dicke Seil zog, das an einer alten Kirchenglocke am Küchendach befestigt war. Als die Glocke ertönte, brach gerade ein Sonnenstrahl durch die graue Wolkendecke und goss ein goldenes Licht auf die Kuh- und Schweineställe, die Maschinenhalle, das Henna Hüttel (Hühnerhaus), das Honighaus, die Kirche, die Küche, Ronalds kleine Behausung und die Reihenhäuser, die den Hintergrund der Kolonie New Rosedale bildeten. Ronald fühlte die Wärme der Sonne, als die Hochzeitsgesellschaft aus Sana Basels Haus trat, um zum Empfang zu gehen. Er hoffte, dass ihr Licht das Vorzeichen für eine bessere Zukunft war.
Das Paar betrat die Essenstuben, den Speisesaal, wo der Ehrentisch an der südlichen Wand aufgestellt war. Drei Meter lange Eichentische waren auf der östlichen und westlichen Seite aneinandergereiht und zwei zusätzliche Tischreihen wurden dazwischen gequetscht, um alle Gäste unterzubringen. Jeder Tisch war mit einem weißen Baumwolltischtuch bedeckt; auf ihnen stand bereits das Hochzeit G'schirr, besonderes weißes Geschirr mit grünen Rändern, das nur für Hochzeiten benutzt wurde.
Als die Gäste in die Essenstuben strömten, schlug ihnen der vielversprechende Duft eines besonderen Essens entgegen. An den Haken neben dem Eingang reihten sich schwarze Männerhüte. Auf den Holzbänken saßen bald Frauen, die sich darauf freuten, einen Tag lang mit Schwestern oder Freundinnen aus Kindheitstagen, die in andere Kolonien geheiratet hatten, und Neuankömmlingen zu plaudern und die neuesten Nachrichten über Geburten, Todesfälle und baldige Hochzeiten auszutauschen.
Ronald und Mary nahmen die beiden Plätze in der Mitte des Ehrentisches ein, wo ein einziges Gedeck das Sinnbild für ihre Einheit war. Dies war das einzige Mal in ihrem Eheleben, dass sie in der Essenstuben zusammensitzen durften. Zwei von Marys Schwestern, Anna und Katrina, saßen neben ihr. Sana Basel, die dritte Schwester, wurde in der Küche gebraucht. Ihr Kopf und ihre Hände waren mit den tausend Einzelheiten der Zubereitung eines Festessens für zweihundert Personen beschäftigt, doch ihr Herz weilte bei ihnen am Ehrentisch. Sorah Basel nahm ihre Stelle ein, glücklich für ihre Nichte, aber in Tränen, weil ihre eigene Tochter e Tegela ohne se Deckela war, ein Topf, der noch keinen Deckel gefunden hatte.
Prediger Kleinsasser hatte seine offiziellen Pflichten in der Kirche beendet und wartete so begierig wie alle anderen auf ein gutes Mittagessen und ein Glas Wein. Er nahm den Ehrenplatz neben Ronald ein. Der Tradition nach waren die Plätze am Ehrentisch für den Vater und die Brüder des Bräutigams bestimmt, doch niemand von Ronalds Familie hatte kommen können. Als Ronald sich mit seinem Vater in Ontario in Verbindung setzte und ihm seine bevorstehende Hochzeit mitteilte, sagte Christian Dornn zu seinem Sohn: »Du heiratest den Feind.« Christian hatte nie etwas von Mary Maendel gehört, aber er war den Lehren von Julius Kubassek erlegen, der verärgert war, weil seine Gemeinde von der hutterischen Kirche abgelehnt wurde.
Marys Bruder Jake und ihr Schwager Dafit Wurtz, der Mann, den Katrina auf Drängen von Marys Vater hin aus Liebe geheiratet hatte, nahmen die beiden letzten Stühle am Ehrentisch ein. Jake beobachtete Elie Wipf, der mit zwei Buben, »jungen Männern« aus New Rosedale, am anderen Ende des Speisesaales stand. Einer von ihnen gab Elie einen freundlichen Klaps auf die Schulter und beide lachten. Elie schien seine Schlappe locker zu nehmen, doch ihr ungezwungenes Verhalten verärgerte Jake, der selbst mit seiner Enttäuschung über die Wahl seiner Schwester fertig werden musste.
»Lasst uns beten«, verkündete Dafit Wurtz, der neuer Jungpastor in der Kolonie Deerboine geworden war. Er stand auf und alle falteten die Hände und senkten den Kopf zum Gebet. Sobald die Hochzeitsgäste »Amen« gesagt hatten, stürzte ein Dutzend junger Männer durch die Schwingtüren in den großen Speisesaal. Sie trugen Mahagonitabletts voller Schüsseln mit dampfender Nudelsuppe herein. Bei Hochzeitsessen bedienten immer die Buben, und sie eilten hin und her und zwängten sich zwischen den Tischen durch und brachten zarte Stücke Rindfleisch, gekochte Kartoffeln, Kohl in Sahnesoße und knackige Dillgurken. Die jungen Männer verpassten keine Gelegenheit, mit den Mädchen aus den anderen Kolonien zu flirten, während sie das Essen brachten und Bier, Wein, Orangen- und Zitronenlimonade anboten.
Auf der anderen Seite der Hauptküche befand sich der Speisesaal der Kinder, Essenschul genannt, der mit fünfzig Kindern der Kolonie und ihren jungen Besuchern gerammelt voll war. Die Essenschul Ankela (Speisesaal-Oma) war so beschäftigt wie ein Koch zur Mittagszeit. Sie schöpfte Suppe aus, füllte die Brotkörbe nach und wischte verkleckerte Soße auf. Sie war froh, dass das Hochzeit G'schirr, das besondere, feine Hochzeitsgeschirr, für diesen ungebärdigen Haufen nicht vorgesehen war.
Mary war hungrig und wünschte, sie müsste nicht ihre Schüssel Suppe mit ihrem Ehemann teilen, bestand aber darauf, dass er den Anfang machte, und reichte ihm den Löffel, als er nach einem der frischen Brötchen griff. Tabletts voller Essen wurden in beide Speisesäle getragen, bis die Erwachsenen sich die Bäuche gefüllt hatten und die Tische sich unter dem Gewicht der Teller und Schüsseln bogen.
Marys Bruder Darius hatte sich gerade eine zweite Portion Rindfleisch genommen, als er aufstand, um seine Stiefmutter zu begrüßen, die aus Old Rosedale gekommen war. Als die Kolonie sich teilte, beschloss Rachel Gross Maendel zurückzubleiben, weil ihre Töchter Männer aus der Gemeinschaft geheiratet hatten. Doch sie hatte Darius gedrängt, nach New Rosedale zu ziehen, damit er mit seinen älteren Brüdern zusammen sein konnte. Er war ihr kleiner Liebling, und die Entscheidung war beiden schwergefallen.
Mary war erst dreizehn Jahre alt, als sie nach New Rosedale zog, und die Beziehung zu ihrer Stiefmutter war immer distanziert, aber respektvoll geblieben. Dennoch kam Rachel, um Zeugin bei ihrer Hochzeit zu sein.
»Mer sein recht für Kuchen!«, rief einer der jungen Männer, als er mit einem leeren Tablett die Küche betrat. Fünfzig Formen mit weißem Hochzeitskuchen standen auf den Tischen der Bäckerei, fertig um aufgetischt zu werden. Die glitzernden Kuchen sahen aus wie kleine, schneebedeckte, mit Sternen bestreute Seen. Sie waren am Vortag gebacken und mit weißem Zuckerguss und Sternchen verziert worden. Drei junge Frauen schnitten die großen runden Kuchen in gleichmäßige Scheiben und leckten sich dabei gelegentlich den Zuckerguss und die Sahne von den Fingern. Jede Familie bekam auch Kuchen mit nach Hause. Die dafür vorgesehenen Formen standen auf einem separaten Tisch, bereit, um am Nachmittag mitgenommen zu werden.
»Gott Lob und Dank für Speis und Trank.« Das Schlussgebet war das Zeichen für das Ende des Mittagsmahls und den Beginn einer kleinen Pause, in der die Dienen den Speisesaal aufräumen und die Köchin und ihre Helfer, die Nochesser, »Nachesser«, endlich zu Mittag essen konnten.
Kleine Grüppchen, manche mit Besuchern, kehrten nach Hause zurück, um die Kinder zum Mittagsschlaf hinzulegen und sich selbst kurz auszuruhen. Das Brautpaar und sein Gefolge waren in Feierstimmung und kehrten in Sana Basels Haus zurück, um selbst gebrautes Bier zu trinken und Musik zu machen.
Darius, unterstützt durch ein oder zwei Gläser Whiskey, unterhielt die Schar, die sich um den Kohlenofen drängte, mit ausgelassenen Darbietungen von »Froggy Went a Courtin'« und »Big Rock Candy Mountain«. Ein Junge mit pickeligem Gesicht, der sich etwas Mut angetrunken hatte, bat die Mädchen, »Red River Valley« zu singen, doch sie wollten kein gutes Lied an einen unterdurchschnittlichen Freier verschwenden. Einer seiner Freunde hatte Mitleid mit ihm und spielte sein Wunschlied auf der Harmonika.
Um halb zwei ertönte die Glocke und die Mitglieder der Kolonie gingen noch einmal die schneefreien Wege zurück zum Speisesaal. Von seinem Mittagsschlaf erfrischt, rückte Andreas Hofer mit einer Hand seinen schwarzen Hut zurecht und umklammerte mit der anderen sein hutterisches Gesangbuch, als er seiner Tochter Emma zum Empfang folgte. Als Hauptpastor war es seine Aufgabe, die Feier mit »Am dritten Tag ein Hochzeit war« zu eröffnen, ein Lied über die biblische Geschichte, in der Jesus mit seinen Jüngern bei einer Hochzeit war und Wasser in Wein verwandelte. Dem Lied folgten weitere traditionelle Hochzeitslieder: »O mein Jesu du bist's wert« und »Lass die Herzen immer fröhlich«. Eine Gruppe Frauen, so einheitlich gekleidet wie ein Mädchenchor, mit gepunkteten Tiechlen und gewagten karierten Schürzen, gab ein englisches Lieblingslied zum Besten: »Come and Dine«.
Die ganze Zeit wurden aus der Küche unaufhörlich Kartoffelchips, Erdnüsse, Orangen, Eiscreme und Kuchen hereingebracht. Die Kellner hievten die beladenen Tabletts über singende Köpfe hinweg und achteten darauf, nicht allzu viel Wein auf die weltvergessenen Sänger zu schütten.
Bis drei Uhr hatten die meisten Kinder einmal ihre Nase in den Speisesaal gesteckt, um einen flüchtigen Blick auf die Feststimmung und die entspannten Erwachsenen zu werfen, die mit vom Wein geröteten Wangen Geschichten aus ihrer eigenen Brautwerbung zum Besten gaben. Die Kinder wussten, dass in Kürze Tüten mit Süßigkeiten, Kaugummi und Erdnüssen verteilt wurden, und wollten die traditionellen Hochzeitsleckereien nicht verpassen. Alle Erwachsenen erhielten ebenfalls eine Tüte mit Süßigkeiten, doch für die Kleinen waren die Bonbons das Beste an der ganzen Hochzeit. Gegen fünf Uhr wurde das traditionelle Schlusslied »Nun ist die Mahlzeit ja vollbracht« mit Inbrunst gesungen, und damit war die Hochzeit offiziell beendet. Die Väter eilten noch zur Maschinenhalle der Kolonie, um einen Blick auf die neuesten John-Deere-Errungenschaften zu werfen, während die Mütter ihre Kinder für die Heimfahrt zusammentrommelten.
Eine kleine Gruppe von Angehörigen und Gratulanten verabschiedete sich von den Frischvermählten und bedrängte sie mit entsprechenden Äußerungen. »Jetzt bist du auch untergebracht«, bemerkte Rachel Maendel seufzend zu ihrer Stieftochter, als die ihre Wannick für die Heimreise zuknöpfte. »Moch's gut. Mach's gut«, zischte Ankela durch ihr störendes künstliches Gebiss und drückte Ronalds Hand beim Abschied.
Hinter ihr hatte eine hochschwangere Frau mit glänzendem runden Gesicht, das sich unter dem eng geknoteten Tiechel ruckartig bewegte, eine Warnung für die erschreckte Braut: »Du armes Ding, sie lügen dich an, wenn sie singen ›Alle Tage Sonnenschein‹«. Es war Bara Baer, die Frau von Sylvester Baer, dem Mann, den Ronald gebeten hatte, während seiner Hulba für ihn zu sprechen.
Einige Besucher blieben noch zum Abendessen, und junge Leute, die verpflichtet wurden, die Woche über zu bleiben, um beim jährlichen Schlachten der Truthähne zu helfen, gingen mit Mary und Ronald in Sana Basels Haus und feierten bis in den späten Abend weiter.
Die Kolonie war in Dunkel gehüllt, als das Paar Hand in Hand zu Ronalds Haus hinüberging. Marys kleine Aussteuertruhe aus Holz, ein Geschenk der Kolonie zu ihrem fünfzehnten Geburtstag, war bereits geliefert worden. Sie enthielt all ihren Besitz: sechs Kleider, ihre Unterwäsche, Taschentücher und ein kleines Stickmustertuch, das in Kreuzstichen mit dem deutschen Alphabet und dem Namen Katrina Maendel bestickt war. Es war das einzige Erbstück von ihrer Mutter.
Ronalds Haus war von der Gemeinschaft mit den herkömmlichen Geschenken ausgestattet worden: einem Doppelbett, einem Tisch und sechs Stühlen. Ein großer Schronk aus Holz (Schrank für die Aufbewahrung von Textilien) und eine Singer-Nähmaschine sollten in ein paar Wochen geliefert werden.
Den ganzen Tag über hatte Mary gemischte Gefühle gehabt und sie war erleichtert, dass alles so gut gelaufen ist. Sie freute sich, dass Elie Wipf mit Emma, der Tochter von Andreas Hofer, dem Hauptpastor, geflirtet hatte, indem er ihr die Tüte mit Süßigkeiten mauste und dann wettete, dass er die Tüte für sie wiederfinden würde. Mary erinnerte sich an den Brief mit der ablehnenden Antwort, den sie Elie geschickt hatte, nachdem sie gemeinsam die Trauben gegessen hatten, und in dem sie schrieb: »Du bist ein sehr netter Mann, aber Gott muss eine andere für dich bestimmt haben.« Sie hoffte, dass diese andere Emma war.
Mit einer kräftigen Bewegung drehte Ronald den Türknauf und reichte nach der Schnur, die von der Deckenleuchte hing. Die Jungvermählten schauten sich erstaunt an. Jemand hatte all ihre Geschenke ausgepackt und auf den Küchentisch gestellt. Neben einem Besen, einem Eimer, Handtüchern, einigen Tassen und Tellern und ein bisschen Besteck lag eine offene Karte, auf der stand: »Mögen eure Freuden unzählbar und eure Schwierigkeiten stets klein sein.« Als Belohnung für ihre Woche harter Arbeit hatte es sich die neugierige Sorah Kleinsasser erlaubt, die Geschenke auszupacken.
Auf seinem Sterbebett hatte Joseph Maendel beklemmend genaue Vorhersagen über jedes seiner Kinder gemacht. Von Mary sagte er: »Du wirst viel Disziplin, aber wenig Liebe erhalten.« Mary war froh, dass dieser Teil ihres Lebens vorüber war: Jeden Abend, wenn sie nach einem langen und ermüdenden Tag voller Arbeit für die Gemeinschaft in das kleine Zweizimmerhaus zurückkehrte, fand sie, wonach sie sich so lange gesehnt hatte – die Liebe eines Mannes und ein eigenes Heim.