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Einleitung

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Im Juli 2002 sprach mich eine Freundin, die Journalistin war, an und fragte, ob ich nicht für eine Zeitschrift einen Artikel über hutterische Gärten schreiben wollte. In Manitoba gibt es über hundert hutterische Kolonien, aber ich wusste genau, welche ich aufsuchen würde. Es war nicht leicht, der Obergärtnerin der Kolonie Fairholme die Idee schmackhaft zu machen. Judy Maendel war nicht davon überzeugt, dass ihr Garten eine Geschichte wert ist.

»Du lieber Himmel, in diesem Jahr haben wir nur einen ganz kleinen Garten.« Sie seufzt am Telefon. »Warum versuchst du es nicht in New Rosedale oder James Valley? Deren Gärten sind so groß, dass sie sogar Gemüse verkaufen.« Aber ich will unbedingt nach Fairholme gehen und lasse nicht locker.

Dicke weiße Wolken, die an die Zeichnung eines Kindes erinnern, stehen am Himmel, der sich über die weite Prärie wölbt, als ich meinen fünfjährigen Sohn Levi ins Auto setze und mich auf die Reise mache. Ich brauche keine Wegbeschreibung. Ich kenne den Weg so gut wie die Stimme meines Sohnes. Die reichen, erdigen Gerüche des Sommers von Manitoba tanzen durch das offene Autofenster, als ich auf der Fernstraße Richtung Westen fahre. Auf beiden Seiten der Autobahn erstrecken sich gelbe Rapsfelder, so weit das Auge reicht.

»Es war einmal …«, beginnt die Robin-Hood-Kassette, die Levi sich herausgesucht hat.

Ja. Es war einmal! Erinnerungen strömen auf mich ein und ich höre fast den Klang der Küchenglocke der Kolonie, die die Frauen zur Arbeit ruft. Ein Traktor mit Anhänger wartet ungeduldig neben einem sandigen Weg, der sich zu den Gärten am Ufer des Flusses Assiniboine hinunterschlängelt. Ich sehe, wie meine Mutter und die anderen Frauen auf die Pritsche des Anhängers steigen, jede mit einem Zehnlitereimer aus Edelstahl für die Ernte des Tages. Ihre charakteristische Kleidung drückt Sicherheit, Pflichtbewusstsein und Mutterschaft aus. Jede hat ein Tiechel auf dem Kopf, ein schwarzes Kopftuch mit weißen, erbsengroßen Punkten. Bei den Frauen ist auch Judys Mutter Sara, die Obergärtnerin. Mit geröteten Gesichtern und verfleckten Fingern kehren sie ein paar Stunden später zurück zum Lunschen, dem gemeinsamen Essen am Nachmittag – die Eimer voll roter Erdbeeren für die Kinderschar, die auf sie wartet. In ihren einfachen Küchen schütten sie die Früchte in Schüsseln und richten sie mit frischer Sahne und etwas Zucker an. Ihre ausgeschlafenen, hungrigen Kinder drängen sich um den Tisch und essen, bis sie fast platzen. Bald wird die Glocke wieder ertönen und die Frauen müssen zur Arbeit zurück. Der größte Teil der Erdbeeren wartet im kühlen Keller der großen Gemeinschaftsküche, bis er zu Kuchen und köstlicher Marmelade verarbeitet wird …Von Winnipeg aus ist es noch eine Stunde Fahrt bis zur Kolonie Fairholme. Eine staubige Schotterstraße, die auf beiden Seiten mit majestätischen Eichen gesäumt ist, führt uns ins Herz von Fairholme, wo bunte Blumengärten den schlichten alten Häusern ein festliches Aussehen verleihen.

Mein Sohn und ich gehen zu Judys Haus. Ihre Schwester Selma, die Oberköchin, wartet auf uns. Bald sind wir von einer Schar neugieriger barfüßiger Kinder umringt. Die Mädchen tragen schwarze Hauben, ihre sonnengebräunten Gesichter strahlen eine natürliche Gesundheit aus. »Du tust mir leid mit deinem Kleid«, begrüßt mich Selma. Ich trage ein eng anliegendes Kleid, das ich vor ein paar Wochen in einem Kaufhaus erstanden hatte. »Es ist zu eng!« Sie zeigt auf ein Haus in der Nähe. »Gehen wir zu Tamara!« Noch unter der Tür ruft Selma: »Mary-Ann braucht etwas zum Anziehen. Sie fühlt sich nicht recht wohl in ihrem Kleid.« Eine junge Frau mit Engelsgesicht erhebt sich von einer Nähmaschine und bietet mir ein Kleidungsstück aus ihrem Schrank an. Es hat ein rosenfarbiges Muster und einen weiten, gerafften Rock. Der Bund ist locker und figurtolerant, der Stoff fühlt sich weich und kühl auf der Haut an. Ein Hauch getrockneter Baumwolle und Sonnenschein entströmt dem offenen Schrank, und ich fühle mich in die Sommer meiner Kindheit zurückversetzt.

Die Kinder, die uns folgten, finden es lustig, mich in hutterischer Kleidung zu sehen. »Bin ich schön?«, scherze ich in Hutterisch, ihrer Muttersprache, einem 450 Jahre alten deutschen Dialekt aus Kärnten in Österreich. Die Kinder kichern und nicken. Ich zwinkere meinem Sohn zu, der auch kichert.

Als Judy erscheint, zwängen wir uns alle in mein kleines Auto, um zum Garten zu fahren. »Das Auto ist voller Hutterer«, berichtet Levi vom Rücksitz aus und sorgt damit für allgemeines Gelächter.

Am Ziel angekommen, ziehen wir unsere Schuhe aus und machen uns zu einem gemächlichen Rundgang auf. »Es ist ein schöner Garten«, gibt Judy zu und geht voran. Unsere kleinen Fremdenführer, mit Levi im Schlepptau, verschwinden bald im Erbsenfeld. Aufgrund des Bewässerungssystems der Gemeinschaft ist der »kleine«, fünf Hektar große Garten üppig grün. Endlose Gemüsereihen sind eingerahmt von bunten Feldblumen und hohem Präriegras. »In diesem Jahr reicht es nur für uns«, erklärt Judy und meint damit die etwa neunzig Gemeinschaftsmitglieder, die mit dem versorgt werden, was in dem Garten wächst.

Am Spätnachmittag verweile ich in der Gemeinschaftsküche, wo das Abendessen vorbereitet wird. Lachend bewegen sich die Frauen zwischen Herd, Bratpfanne und Töpfen mit kochendem Gemüse. Ich kann mich nur schwer von ihnen trennen. Ich setze Levi auf das Holzkarussell und lasse ihn ein paar Runden drehen. Er hat so wenig Lust wie ich zu gehen. Auf dem Weg zum Auto begegnen wir einer der Bewohnerinnen. »Mary-Ann!«, ruft Thelma und schließt mich in die Arme. »Wie schön du aussiehst, ohne all die Farbe auf dem Gesicht.« Ich lache über ihre Offenheit. Hier muss man keine Gedanken lesen.

Ich fülle den Rücksitz meines Autos mit einem Strauß Feldblumen und Weidenkätzchen, die meiner Mutter so sehr gefallen, dann fahren wir zu einem kleinen eingezäunten Friedhof am Rand von Fairholme. Die Zeit scheint stillzustehen, als ich meinen Sohn zu einem kleinen Grabstein führe, auf dem steht »Reynold Dornn, 1963–1965, Ruhe in Frieden bei Jesus«.

»Levi«, beginne ich und suche nach den richtigen Worten. »Ein kleiner Junge ist hier begraben. Sein Name ist Renie, und er ist mein Bruder.« Als wir uns über das kleine Grab beugen, schließt Levi die Augen und beginnt zu beten: »Lieber Jesus, danke, dass du für Mamas Bruder sorgst, auch wenn er unter der Erde liegt. Hilf, dass er wieder aufersteht.« Bei diesen unerwarteten Worten füllen sich meine Augen mit Tränen.

Vor 33 Jahren, als ich ein argloses kleines zehnjähriges Mädchen war, fassten meine Eltern den schmerzlichen Beschluss, die Kolonie Fairholme mit sieben Kindern und sonst fast nichts zu verlassen. Diese Gemeinschaft war einmal meine Heimat. Hier, auf diesem einfachen Friedhof liegt eine nüchterne Erinnerung an unsere Herkunft; hier haben wir einen kostbaren Teil von uns selbst zurückgelassen.

Hand in Hand gehen wir zum Auto zurück. Ich bin ganz in Gedanken, als Levi mich aus meinen Träumen reißt: »Mama«, fragt er mit einem gespannten Ausdruck auf seinem kleinen runden Gesicht. »Bist du eine Hutterin?« Die unschuldige Frage meines Sohnes ist für mich der Beginn einer Reise in die innersten Winkel des Herzens, wo die tiefsten Geheimnisse verborgen liegen und die Wahrheit aufbewahrt wird.

Dieses Buch ist meine Reise, mit der ich mich auf meine Vergangenheit zurückbesann, eine Vergangenheit, die ich jahrelang verborgen hielt, da ich mich nicht tief eingewurzelten Vorurteilen und Spott aussetzen wollte. Heute weiß ich zweifelsfrei, dass unser Menschsein das ist, was wir gemeinsam haben, dass aber unser kulturelles Erbe das besondere Geschenk ist, das jeder bei der Geburt erhält. Solange wir nicht annehmen, wer wir sind und wirklich die Kraft schätzen, die dadurch in unser Leben kommt, können wir unsere wahren Fähigkeiten nicht ausschöpfen. Wie viele gute Geschichten, beginnt meine Geschichte mit meiner Mutter, der unvergleichlichen Mary Maendel.

Mary-Ann Kirkby

Ich bin eine Hutterin

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