Читать книгу Waldflüsterer - Mary Molina - Страница 4
Mittwoch, 4. Mai
ОглавлениеJetzt stehe ich vor dem hübschen Klinkerhaus in der Brackstraße in Hamburg-Niendorf. Ich bin erschöpft und fühle mich etwas benommen, als ich den Gartenweg zum Eingang des Hauses entlang gehe. Es ist halb zwei nachts. Sherlock und Zita trotten schwanzwedelnd hinter mir her, sie kennen sich hier aus und freuen sich. Sie wissen ja nicht, dass wir auf den Weg in ein Trauerhaus sind. Thomas hat mich offensichtlich schon gesehen, er steht bereits in der Eingangstür. Wir schließen uns wortlos in die Arme, die Hunde hecheln und tänzeln aufgeregt um uns herum, Sherlock lässt ein tiefes Bellen hören. Ich verschwinde in Thomas Leibhaftigkeit, er ist ein großer, untersetzter Mann, und spüre, wie er bebt und schluchzt. Er drückt mich fest an sich, nimmt mir fast die Luft, aber das ist egal. Ich habe im Moment sowieso keine Lust zu atmen. Dann gibt er mich frei, tritt einen Schritt zurück und schaut mich aus gepeinigten Augen an.
"Ach, Linh", sagt er nur erstickt, nimmt mir die Sporttasche, die ich die ganze Zeit gehalten habe, aus der Hand und winkt mich samt Hunden in das Haus.
Es riecht nach Katharina und jetzt wächst der Kloß in meinem Hals. Ich schlucke ihn fürs erste hinunter. Ich werde gebraucht. Es gibt Dinge zu klären.
"Malte?", frage ich leise.
"Er ist im Bett. Eingeschlafen vor lauter Erschöpfung, aber erst vor einer halben Stunde. Er sagt, dass er auch sterben will." Thomas Stimme bricht, er wischt sich mit einer energischen Bewegung durch das Gesicht, die Tränen fließen ungerührt nach.
"War Julia schon hier?", frage ich. Julia ist Katharinas jüngere Schwester und Malte liebt seine Tante heiß und innig. Jede Unterstützung ist jetzt gefragt.
"Sie kommt morgen. Aus Brasilien. Sie wäre gestern schon gekommen, aber das Flugpersonal hat gestreikt."
Julia ist Ingenieurin und konstruiert Staudämme. In der ganzen Welt.
"Gut!" sage ich nur.
Wir stehen jetzt in der Küche, sie ist hell erleuchtet und das kalte Licht gibt Thomas' Elend gnadenlos preis. Wir setzen uns an den großen Holztisch und klären die Trivialitäten. Das Bett im Gästezimmer unter dem Dach ist für mich bezogen, Handtücher liegen bereit. Thomas wäre nicht Thomas, wenn er nicht selbst im größten Elend an solche kleinen Dinge gedacht hätte. Über den Tisch hinweg nehme ich seine Hand und spüre erleichtert, dass mein jahrelanges Training zu wirken beginnt. Ich werde ruhig und klar, ich habe mich im Griff, ich konzentriere mich völlig auf den Menschen vor mir.
"Wann genau ist es passiert?" frage ich ruhig.
"Vor drei Tagen. Aber ich weiß es erst seit gestern. Ich... ich musste sie identifizieren." Er stockt, schluckt."Sie wollte nach Berlin fahren, zum DO-G Kongress. Dann hat man sie in diesem Waldstück gefunden, an der Autobahn." Wieder versagt seine Stimme. Ich schweige und gebe ihm Zeit.
Katharina hat mir von diesem Kongress erzählt. Die Hauptversammlung der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft. Sie findet alljährlich an unterschiedlichen Orten statt. Sie freute sich darüber, dass der Kongress in diesem Jahr in Berlin ausgetragen wird. Katharina hat Freunde dort. Sie ist eine der renommiertesten Zoologinnen Deutschlands. Ihr Schwerpunkt sind Krähenvögel. Und auch, wenn sie physisch nicht mehr anwesend ist, wird diese Tatsache sie noch eine ganze Weile überdauern, weil ihre Forschung in diesem Bereich einzigartig ist. Sie hat meinen Blick auf diese Tiere verändert.
Thomas weint leise, ich lege ihm sanft meine Hand auf die Schulter. Mein Herz schlägt schwer und wütend in meiner Brust, aber mein Kopf läuft auf Autopilot.
"Ich mache uns einen Tee!", höre ich mich sagen."Hast du schon etwas gegessen?"
Thomas schüttelt den Kopf. Seine Stimme klingt so, als wolle sie sich schnell wieder in seinem Innersten verkriechen.
"Ich wollte dir eigentlich etwas kochen, du hast so eine lange Fahrt hinter dir, aber ich habe es nicht geschafft. Es tut mir leid. Malte und ich kriegen einfach nichts runter." Jetzt brechen alle Dämme."Ich... ich weiß nicht, w... wie wir weiter machen sollen ohne sie. Ich... ich weiß einfach nicht... Wie hast du das nur geschafft nach Tom?"
Die Erwähnung von Tom schickt immer noch ein Brennen durch meinen Körper, aber sie streckt mich nicht mehr zu Boden. Tom war mein Sohn. Er wurde nur zwei Jahre alt. Er starb vor zehn Jahren.
"Ich habe nur einen Tag nach dem anderen gelebt.", sage ich jetzt.
"Wird es besser? Irgendwann?", fragt Thomas.
Die Frage habe ich schon oft gehört. Ich kann sie nicht beantworten, denn jeder trauert und leidet auf seine Weise. Aber ich bringe es nicht übers Herz, Thomas keine Antwort zu geben. Sein Blick zeigt, dass er sich jetzt an die Hoffnung klammert, die er glaubt von mir bekommen zu können, von mir, die schon dort war und trotzdem wieder lacht und das Leben genießt.
"Es wird anders. Und das Aufwachen morgens wird irgendwann leichter. Ich habe gute Menschen an meiner Seite, und das hast du auch. Das hilft sehr. Aber darüber solltest du dir noch keine Gedanken machen."
Jetzt gehe ich zu ihm hin und schließe ihn in die Arme. Selbst im Sitzen reicht sein Kopf bis an meine Schultern. Er drückt ihn an mich wie ein Kind. In der tiefsten Trauer werden wir alle wieder ganz klein. Die Hunde, die sich in einer Ecke der Küche niedergelassen haben, blicken fragend zu uns hinüber, dann wuchtet der große Sherlock sich hoch und lässt sich zu Thomas Füßen nieder, auch Zita kommt an und tut es ihm gleich. Es kann keinen besseren Lehrmeister für meine junge Hündin geben als diese alte, weise dänische Dogge.
Ich streichle Thomas durchs Haar und sage gar nichts, Worte spenden so wenig Trost. Aber unser Körper erinnert sich daran, wie es war, sich als Kind in den Armen der Eltern geborgen zu fühlen, wenn wir zu den Glücklichen gehören, denen dieses Geschenk zuteil wurde. Bei allen anderen bleibt es ein lebenslanges Sehnen. Unsere Haut wurde für Berührungen geschaffen.
Thomas schüttelt sich unter den heftig kommenden Schluchzern. Es geht mir mehr darum, dass er den Ton meiner Stimme hört und ich ihn wissen lassen will, dass ich bei ihm bin, als ich spreche.
"Ich habe ein frisches Huhn mitgebracht, und Gemüse. Die nächsten Tage kümmere ich mich um den Alltagskram. Jetzt musst du etwas trinken."
Ich löse mich von ihm und mache mich daran, Tee zu kochen. Wenn die Welt aus den Fugen gerät, sind die kleinen Dinge eine Landmarke, ein Halt. Über die großen Themen können wir morgen noch reden. Bei Tageslicht.
Ich schlafe in dieser Nacht nicht. Thomas' Körper ist irgendwann erschöpfter als seine Trauer und er geht ins Bett. Ich koche einen großen Topf Hühnersuppe, koche mir Kaffee, mache Inventur der Dinge, die besorgt werden müssen: Milch, Brot, Eier, Käse, etwas Obst und Gemüse, Mineralwasser. Ich spüle Geschirr, wechsle die Wischlappen und die Spültücher aus. Die Hunde spüren meine Unruhe und wechseln ihre Schlafposition häufig. Ich kann und ich will nicht schlafen, weil ich weiß, wie es ist, morgens nach einem solchen Ereignis aufzuwachen. Ich würde die Augen aufschlagen, mich kurz darüber freuen, im vertrauten Gästebett meiner Freundin zu liegen, bis die Realität mir einen kräftigen Tritt in die Magengrube verpasste. Der Schmerz würde mich den Rest des Tages kampfunfähig machen. Darum überspringe ich diesen ersten Schreckensmorgen und lege mich erst dann schlafen, wenn ich einen kleinen Schritt weiter bin und etwas mehr begriffen habe von dem, was hier vor sich geht.
Als der Morgen graut, starre ich vor mich hin und lausche den frühen Vögeln. Dann höre ich tapsende Schritte und Malte taucht im Türrahmen auf. Er schaut mich erstaunt und zugleich unendlich erschöpft an und ich würde am liebsten wegrennen und ihn mir gleichzeitig schnappen und nie mehr loslassen.
Die Hunde kommen uns zuvor. Sherlock ist bereits aufgesprungen, Zita im Schlepptau, und beide begrüßen den Jungen fiepsend und erfreut. Der große Däne reicht ihm fast bis zum Hals, man traut ihm die Behutsamkeit kaum zu, mit der er sich an den Jungen drückt. Zita leckt ihm erst die Hände, dann die nackten Füße, und für das kleine Lächeln, das Malte über die gepeinigten Züge huscht, als er sich an den großen Rüden drückt, möchte ich meinen Hunden am liebsten den Friedensnobelpreis verleihen. Junge und Hunde verknäulen sich eine Weile, dann schaut Malte wieder hoch und geht mit tierischer Eskorte langsam zu mir, seine Hand auf dem Rücken von Sherlock ruhend, wie, um sich abzustützen.
"Linnie! Seit wann bist du denn hier?"
Sein Gesicht ist verquollen und hat einen Ausdruck, den kein Kind auf seinem Gesicht haben sollte.
"Ich bin heute Nacht gekommen."
Er blinzelt.
"Wegen Mama."
Die Tonlosigkeit seiner Stimme bricht mir das Herz.
"Wegen dir und deinem Papa. Und wegen deiner Mama."
"Ich hatte so einen Durst. Darum bin ich schon wach."
Ich stehe auf und gehe zum Kühlschrank. Da ich Inventur gemacht habe, weiß ich, dass noch etwa ein halber Liter Milch in der Packung ist. Ich hole ein Glas aus dem Schrank, das mit dem Jedi-Meister drauf, das Julia aus Amerika mitgebracht hat. Es ist Maltes Lieblingsglas, aus Respekt davor trinkt kein anderer daraus. Ich fülle ihm die Milch in das Glas und stelle es auf den Tisch. Maltes Hand verlässt nur zögerlich den Hunderücken und der Junge scheint in sich zusammen zu fallen. Für einen Moment befürchte ich, dass er umfallen wird, doch dann geht ein Ruck durch seinen Körper und er tritt an den Tisch und greift nach dem Glas. Er trinkt die Milch in einem Zug. Malte ist groß für sein Alter. Er wird mich bald eingeholt haben, was keine Kunst ist, denn ich bin klein. Doch er ist noch sehr kindlich, das Gesicht hat noch weiche Konturen und auf seinem Schlafanzug dürfen noch Comicfiguren sein. Sherlock stupst ihn sanft an, und automatisch krault Malte ihm den Kopf. Zita liegt wieder in einer Ecke der Küche und beobachtet das Geschehen. Für einen Moment entsteht ein Vakuum zwischen uns, ein luftleerer Raum. Hund und Junge auf der einen Seite, ich auf der anderen. Ich fühle mich hilflos. Dann bricht der Junge das Schweigen.
"Sie sagen, Mama hat sich umgebracht. An der Autobahn."
Mir gehen hundert Dinge auf einmal durch den Kopf. Ich frage mich, wer "sie" sind. Ich frage mich, wer sie gefunden hat. Ich frage mich, wer Malte diese Information gegeben hat. Und ich stoppe meine Gedanken mit aller Macht. Es gibt jetzt in diesem Augenblick nur eine Sache, derer ich mir gewiss bin, und die ich dem Jungen unbedingt mitteilen muss. Ich strecke meine Arme aus und habe große Angst davor, zu schnell eine Brücke schlagen zu wollen, und zu meiner unendlichen Erleichterung nimmt Malte meinen Vorstoß an und sein nach Schlaf und Junge duftender Körper drückt sich an mich, er fühlt sich mager und zerbrechlich an.
Ich spreche dicht an seinem Ohr, leise und eindringlich.
"Hör gut zu, Malte, du musst mir gut zuhören. Deine Mama hätte dich nie alleine gelassen. Das weiß ich ganz sicher, und egal, was du in nächster Zeit hören wirst: Sie hat sich ganz sicher nicht umgebracht."
Ich spüre, wie Malte sich anspannt.
"Woher willst du das wissen?"
Die Frage ist absolut berechtigt, ich würde sie an seiner Stelle genauso stellen. Und ich weiß nicht, ob die Antwort ihn überzeugen wird. Aber es gibt in diesem Augenblick nichts Wichtigeres für mich als diesen Jungen davon zu überzeugen, dass seine Mutter ihn niemals im Stich gelassen hätte. Malte ist ein kluger Junge. Ich muss alles geben, mich anstrengen.
"Du weißt, was ich lange Zeit beruflich gemacht habe, oder?", frage ich ihn.
Er nickt.
"Du bist Psychologin. Du hast der Polizei geholfen, Verbrecher zu finden."
"Genau. Und ich habe kranken Menschen geholfen, sehr traurigen Menschen, sehr ängstlichen Menschen, sehr wütenden Menschen. Und es gehörte zu meiner Arbeit, herauszufinden, ob sich jemand umbringen möchte. Und ich bin sehr, sehr gut in meinem Job. Ich kenne deine Mama, seit wir jünger waren als du jetzt. Ich habe fast jede Woche mit ihr telefoniert, zuletzt vor fünf Tagen. Deine Mama hat mir geholfen, wenn es mir schlecht ging, sie hat es mir erzählt, wenn es ihr schlecht ging. Manchmal, wenn Menschen vorhaben sich umzubringen, dann erscheinen sie trotzdem fröhlich und keiner kommt auf den Gedanken, dass sie sich etwas antun wollen. Aber sie sind irgendwie anders, in kleinen Dingen, Dinge, auf die man nicht so achtet, die einem nicht bedeutsam vorkommen. Und es gibt vorher Geschehnisse, die man erst hinterher versteht."
Malte ist seinem Vater sehr ähnlich, auch äußerlich. Er hat dunkles Haar und braune Augen. Aber vor allem hat er die Ernsthaftigkeit seines Vaters geerbt, die fast andächtige Art, an die Dinge heran zu gehen. Ich spüre, wie er mir aufmerksam zuhört, den Blick konzentriert in das Nichts irgendwo zwischen seinen Zehen gerichtet. Seine Aufmerksamkeit gibt mir Sicherheit. Ich werde selber ruhiger, als ich weiter rede.
"Ich habe viele Jahre fast jeden Tag damit verbracht, auf diese Zeichen zu achten. So, wie deine Mutter Vögel gesehen hat, die kein anderer entdeckt hat. Du weißt doch, wie oft sie beim Spazierengehen stehen geblieben ist und irgendwo in die Bäume gezeigt hat, weil da ein Waldkauz saß, oder ein Specht, oder irgendein anderer Vogel, und wir haben ihn oft so lange nicht gesehen, bis er weggeflogen ist."
Malte nickt.
"Deine Mama hat nicht im Geringsten irgend eines dieser Anzeichen gezeigt. Und sie war ganz schlecht darin, sich zu verstellen, so zu tun als ob. Sie konnte schon als Kind nicht lügen. Sie hat sich fast jeden Tag über irgend etwas gefreut, ganz oft darüber, Zeit mit dir und deinem Papa verbringen zu können, darüber, wenn sie einen Pirol gesehen hat, zuletzt darauf, auf den Vogelkongress zu fahren. Man bringt sich nur um, wenn man das Gefühl hat, sich auf nichts mehr freuen zu können. Sie hatte so viel, über das sie sich freute. Und darum weiß ich, dass deine Mama sich nicht umgebracht hat."
Malte scheint knochenlos geworden zu sein. Er hängt schwer und schlaff in meinen Armen, so dass ich zunächst denke, er sei eingeschlafen. Doch dann spricht er.
"Was ist denn dann mit Mama passiert?"
Die Frage hängt wie eine schwarze Wolke im Raum, und ich überlege, ob ich antworten soll, denn dann gibt es kein Zurück mehr. Und jetzt erst sehe ich, dass Thomas in der Tür steht. Sein Blick sagt mir, dass er schon eine ganze Weile dort stehen muss. Die Hunde haben trotz seines Erscheinens still gehalten, so, als ob auch sie abwarteten, wie die Antwort auf diese Frage lauten wird. Ich entscheide mich.
"Ich weiß es nicht, mein Herz, aber ich werde es herausfinden. Das verspreche ich dir."
Ich erschrecke selbst vor der Tragweite dieses Versprechens. Wie kann ich so etwas nur sagen? Ich schließe die Augen und versuche, ganz tief in mich hinein zu fühlen. Und was ich dort finde, stimmt mit dem, was ich gesagt habe, überein.
Thomas und ich schauen uns an und ich sehe Furcht. Aber auch etwas anderes. Es ist Entschlossenheit. Er hat der Verzweiflung bereits den Kampf angesagt, das ist gut. Auch für Malte.