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Donnerstag, 5. Mai bis Freitag, 13. Mai

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Ich bleibe neun Tage in Hamburg, bis zu Katharinas Bestattung. Die Staatsanwaltschaft hat keine Mordermittlungen eingeleitet, es heißt, der Leichnam sei obduziert worden und man habe keine Spuren von fremder Gewalteinwirkung gefunden und auch der toxikologische Befund sei unauffällig gewesen, offiziell lautet die Todesursache also Suizid. Katharinas Computer und ihre persönlichen Gegenstände, der Laptop, das Handy, ihr Reisekoffer wurden tatsächlich zurück gebracht. Nicht von Gruber und Kleinschmidt, sondern von zwei anderen Beamten. Das macht es noch rätselhafter, in welcher Funktion die beiden Männer hier waren.

Thomas bittet mich, auch den PC mitzunehmen. Ich sage es ihm zu.

Die Tage bis zur Bestattung vergehen wie Kaugummi. Ich besuche Thomas' Familie nicht jeden Tag. Ich kaufe ein und bringe die wichtigsten Dinge vorbei, koche mit Katharinas Schwiegermutter und serviere Kaffee. Thomas ist mit den Formalitäten, die der Tod mit sich bringt, ausgelastet. Katharinas Mutter ist im Schock. Zum Glück redet sie viel mit mir, aber es ist deutlich, dass sie lange brauchen wird, um aus dem Dunkel heraus zu kommen, wenn überhaupt. Auch sie ist fest davon überzeugt, dass Katharina sich nicht selbst umgebracht hat. Ich fürchte, die Tatsache, dass die Ermittlungen eingestellt wurden, hat sie noch mehr gebrochen, wenn das überhaupt möglich ist. Dass Eltern ihre Kinder begraben müssen ist eine der fiesesten Zumutungen, die das Universum für uns bereit hält. Und auch, dass Kinder wie Malte ihre Mutter so früh verlieren.

Julia tut was sie kann, sie hat ihm ein Fußballtrikot der brasilianischen Seleçao mitgebracht mit einem Autogramm von Neymar. Zu anderen Zeiten hätte Malte sich nicht mehr eingekriegt vor Freude. So lächelt er nur ein wenig, aber er sucht ständig Julias Nähe und bekommt sie auch. Julia fliegt zwischendurch wieder nach Brasilien und kommt zu Katharinas Beerdigung zurück.

Ich versuche, ein wenig zu schreiben, das lenkt mich ab. Der dritte Band meiner "Waldflüsterer"-Serie soll bis Ende das Jahres fertig sein. Ich habe nach Toms Tod angefangen zu schreiben, es war Teil meiner Bewältigung des Unfassbaren. Ich habe Tom immer selbsterfundene Geschichten erzählt. Er liebte sie mehr als die Geschichten aus den Büchern, die ich ihm vorlas. Nachdem er tot war, wollte ich ihm weiter Geschichten erzählen, zunächst Kindergeschichten mit sprechenden Tieren und einem Ende, bei dem sich alle lieb haben. Dann wurden daraus Geschichten für einen älteren Tom, den ich so nicht mehr erleben darf. Also begann ich, über eine Gruppe junger Menschen zu schreiben, die entdecken, dass sie mit der Natur kommunizieren können, mit dem Wald und mit den Tieren. Das verleiht ihnen ungeahnte Kräfte, welche die einen nutzen und die anderen ausnutzen wollen. Es war Paula, die mich drängte, diese Geschichte einzusenden. Sie hatte sie unerlaubterweise gelesen, als ich das Manuskript in meinem alten Gästezimmer, das ich auch als Büro nutzte, hatte liegen lassen. Zunächst fühlte ich mich hintergangen, doch Paula ließ nicht locker, und da ich nicht daran glaubte, dass daraus etwas werden würde, schickte ich es ein. Völlig unerwartet wurde es ein Riesenerfolg. Kinder und Jugendliche verschlingen meine Bücher und der ursprünglich kleine Pulsar-Verlag, der die Bücher herausgibt, ist dadurch größer geworden. Sie sind inzwischen in vierzig Sprachen übersetzt worden. Zum Glück kann ich es mir leisten, ein gut gehütetes Geheimnis zu bleiben. Ich habe vertraglich mit dem Verlag festgelegt, dass ich unter allen Umständen anonym bleibe. Inzwischen ist meine Existenz geheimnisumwittert und ein Teil des Kultes, der um die Bücher entstanden ist. Ich hoffe, dass es noch lange so bleiben kann. Der große Erfolg macht mir manchmal Angst. Aber gleichzeitig tröstet mich der Gedanke, dass Tom die Geschichten vielleicht auch geliebt hätte. Das Schreiben ist mein Bollwerk gegen die immer mal wieder anklopfende Dunkelheit. Und ich habe meine Charaktere inzwischen so lieb gewonnen, dass ich sie unbedingt weiter leben lassen will, bis auf diejenigen, von denen ich jetzt schon weiß, dass sie sterben müssen.

Das Schreiben hilft mir auch jetzt, meinen Geist zu klären und meine Stimmung besser in den Griff zu bekommen.

An dem Tag von Katharinas Beerdigung fühle ich mich gewappnet, muss aber feststellen, dass ich es nicht bin. Das Wetter hat sich dem Anlass angepasst und ist regnerisch und kühl. Es sind die Eisheiligen. Wie bei einem Menschen wie Katharina zu erwarten, versammeln sich unzählige Menschen auf dem Friedhof, Familie, Freunde, Kollegen. Und es ist Maltes Anblick am Grab seiner Mutter, der mich innerlich zusammenbrechen lässt. Von der Trauerfeier bekomme ich wenig mit. Ich bin nur froh, dass es heutzutage keinen Schindanger mehr gibt und Katharina, die Katholikin war, einen würdevollen Abschied bekommt. Der Pfarrer erwähnt kein einziges Mal, wie Katharina vermeintlich zu Tode gekommen ist. So ist es von der Familie erwünscht, alles andere wäre noch unerträglicher gewesen.

Dem anschließenden Leichenschmaus wohne ich nicht mehr bei. Die Beerdigung hat mir bereits ein Maß an Beherrschung abverlangt, das mich energielos und ausgelaugt zurücklässt. Die ganze letzte Woche konnte ich meine Akkus am Laufen halten. Malte und Thomas zuliebe habe ich die in mir aufkeimenden Gefühlsrelikte aus einer Zeit, in der ich glaubte, vor Trauer einfach zu sterben, an einen Ort weggepackt, den ich dafür in meiner Seele vorgesehen habe. Jetzt kann ich das nicht mehr. Ich gestatte mir, den Rest des Nachmittags in Dunkelheit zu versinken.

Ich sehne mich nach meiner Mühle und ich denke, die Hunde haben von der Stadt auch die Schnauze voll. Am Abend packe ich den Defender und es geht endlich nach Hause. Paula hat sich noch nicht zurückgemeldet, und wie versprochen halte ich die Füße still.

Waldflüsterer

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