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Samstag, 21. Mai

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Gartenarbeit hilft immer. Der Regen hat endlich aufgehört und in kleinen Sturzbächen die rosafarbenen Blütenblätter der Zierkirsche wie Konfetti weggespült. Das klare, harte Frühlingslicht, in dem die Welt wie auf Hochglanz poliert erscheint, wandelt sich langsam in einen wärmeren Ton. Es ist Samstag, ich bin seit fast einer Woche wieder zuhause und noch keine Nachricht von Paula. Ich telefoniere jeden zweiten Tag kurz mit Thomas, er und Malte bemühen sich, den Alltag wieder einkehren zu lassen, was natürlich noch nicht gelingt. Thomas macht sich Sorgen um Malte, der still und in sich gekehrt ist. Ich sage ihm, dass er Zeit braucht, wenig Worte und viel körperliche Nähe. Ich weiß, dass Thomas ein liebevoller Vater ist und alles tun wird, um seinem Sohn zu helfen. Aber in so einer Situation entgleiten einem die Dinge manchmal, man hat vieles nicht in der Hand und kann nur hoffen.

An Katharinas Computer habe ich mich noch nicht herangewagt, ich schiebe es vor mir her, doch ich habe es mir für heute Abend vorgenommen. Samstag und Sonnenschein heißt, es werden vielleicht ein paar Wanderer und Radfahrer hier vorbeikommen. Für diesen Zweck habe ich eine Bierzeltgarnitur mit Holunderschorle und Kuchen aufgestellt, an dem die Leute sich bedienen dürfen. Ich tue das wegen besonders schöner Erinnerungen aus der Zeit, in der ich mit Rucksack und Zelt in der Welt unterwegs war. Wenn ich nach anstrengenden Wanderungen in drückender Hitze oder in feuchter Kälte auf Menschen traf, die mir zu essen und zu trinken gaben, einfach so, waren das absolute Glücksmomente. Die möchte ich weitergeben. Manchmal kommt niemand, manchmal zehn Menschen an einem Tag. Nicht alle nehmen das Angebot wahr, viele, die es annehmen, lassen ein bisschen Geld zurück, weil sie sich nicht wohl dabei fühlen, ein Geschenk anzunehmen. Das Geld spende ich dem Tierheim in Nassau. Manche haben Angst vor den Hunden und bleiben deswegen fern. Die meisten freuen sich jedoch ungläubig, so wie ich es damals tat. Heute ist noch niemand vorbeigekommen, aber es ist erst zehn Uhr vormittags. Ich habe einen zweistündigen Morgenausritt auf Ginger mit den Hunden hinter mir. Die Sonne ist bereits sehr warm, ich häufele die Kartoffeln an und rupfe Unkraut, pflücke Holunderblüten für Sirup, schneide einen Eichblattsalat aus dem Frühbeet und zupfe Kräuter. Ich verliere mich ganz in diesen alltäglichen, kostbaren Tätigkeiten. Darum bemerke ich den Mann nicht, bis er mich anspricht und ich zusammenzucke. Sherlock hat seinen Ruheplatz auf der schattigen Veranda verlassen und kommt angetrottet, um nach dem Rechten zu sehen. Zita folgt ihm wie immer. Beide setzen sich neben mich. Der Mann zeigt keine Angst, als er die Hunde erblickt. Er schaut sie nur kurz an und spricht dann wieder zu mir. Seine Stimme ist tief.

"Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken."

Ich erhebe mich aus meiner hockenden Position und wische mir den Schweiß aus dem Gesicht. Ich muss gegen die Sonne blinzeln, darum dauert es eine Weile, bis ich den Mann genau erkennen kann. Er trägt Fahrradkleidung, seinen Helm hat er abgenommen und unter den Arm geklemmt. Er ist groß und hat dunkles Haar, das an einigen Stellen bereits grau wird. Die Farbe von Salz und Pfeffer. Seine Augenfarbe kann ich von hier aus nicht erkennen, aber seine gerade Nase und die vollen Lippen. Ich lächle ihn an.

"Oh, kein Problem, ich war nur ganz vertieft. Was kann ich für Sie tun? Haben Sie sich verirrt?"

Ich weiß gar nicht, wie ich auf diese Frage komme. Die wenigsten, die hier vorbei kommen, haben sich verirrt. Inzwischen hat jedes Handy ein GPS und sich versehentlich in dieses Tal zu verirren ist ziemlich unwahrscheinlich.

Der Mann scheint jedoch nicht verwundert über diese Frage.

"Das weiß ich noch nicht. Bin ich hier auf dem alten Burgweg?"

"Ja, da sind Sie. Wo wollen Sie denn hin?"

"Nach Nassau."

"Dann müssen Sie diesem Weg bis zum Mühlbach folgen, dann immer dem Mühlbach entlang in nördliche Richtung. Haben Sie ein GPS?"

"Ich habe noch nicht einmal ein Handy bei mir", sagt er."Aber ich habe eine Karte. Jetzt weiß ich ja, dass ich auf dem richtigen Weg bin."

"Sie dürfen sich gerne etwas Holunderschorle und Kuchen nehmen. Es kostet nichts. Von woher kommen Sie denn?"

"Nastätten."

"Dann sind Sie ja schon eine ganze Weile unterwegs. Ist doch ein guter Zeitpunkt für eine Pause."

Ich gehe wieder in die Hocke, um Petersilie zu schneiden und um dem Mann zu signalisieren, dass er sich gerne ohne mich erfrischen darf. Ich mag es, wenn Radfahrer oder Wanderer vorbeikommen, und manchmal halte ich auch ein kleines Pläuschchen mit ihnen, aber ich habe nicht immer Lust oder Zeit dazu. Heute habe ich keine Lust.

Doch der Mann bewegt sich nicht.

"Wohnen Sie hier ganz alleine in der Mühle?"

Diese Frage alarmiert mich sofort. Sherlock und Zita spüren meine Anspannung und beide lassen ein tiefes, beeindruckendes Grollen hören.

"Wie Sie sehen, wohne ich hier nicht alleine. Insgesamt 70 Kilo Hund leisten mir Gesellschaft, fünfzehn Hühner und zwei Pferde. Und wissen Sie, diese Frage kommt ein bisschen komisch von einem fremden Mann, der mich bei der Gartenarbeit erschreckt."

Seit ich praktisch in der Wildnis wohne und vor allem für mich selbst verantwortlich bin, sind mir viele Formalitäten und vermeintliche Höflichkeiten ziemlich schnuppe geworden. Ich will niemanden mehr beeindrucken oder von mir überzeugen.

Mein Gegenüber jedoch scheint da ganz ähnlich unkonventionell zu sein. Er lächelt ein bisschen. Kein irres Lächeln. Er sieht nett dabei aus.

"Da haben Sie recht. Das war eine ziemlich blöde Frage und es geht mich ja auch nichts an. Aber ich habe nicht erwartet, in so ein abgeschiedenes Tal zu geraten und dann diese wunderschön renovierte alte Mühle vorzufinden."

Ohne dass ich es will, erfüllen mich seine Worte mit Besitzerstolz und mein Blick schweift über mein Zuhause.

"Ich finde es auch schön hier", sage ich dann."Und jetzt muss ich weiter arbeiten, nehmen Sie sich doch Kuchen. Er ist lecker." Ich starre demonstrativ auf die Petersilie. Doch der Mann bewegt sich immer noch nicht fort. Ich finde das ärgerlich. Sherlock und Zita haben sich wieder entspannt und sind unter den Holunderbusch getrottet, wo es kühler ist und sie einen guten Blick auf Frauchen und den Fremden haben. Ich fühle mich von ihnen ein bisschen verraten. Warum bleiben sie nicht knurrend und zähnefletschend an meiner Seite?

"Wenn Sie noch länger da stehen bleiben, verdonnere ich Sie dazu, den Giersch herauszurupfen."

Ich bin mir sicher, dass er keine Ahnung hat, was Giersch ist.

Zu meiner völligen Verblüffung legt der Mann seinen Fahrradhelm ins Gras und steigt über die niedrige Umgrenzung aus Weidengeflecht, mit der ich die Beete umrandet habe. Er steuert zielstrebig auf das Beet mit den gerade erknospenden einjährigen Sommerblumen zu und beginnt sorgfältig, den am Beetrand wuchernden Giersch aus der Erde zu ziehen. Ich starre ihn an.

"Was machen Sie denn da?"

Mein Gehirn hat offensichtlich gerade keine Sternstunde.

"Ich rupfe den Giersch heraus."

"Das sehe ich. Was soll das?"

Er schaut nicht einmal auf.

"Sie haben es doch gesagt."

"Soll das hier eine besonders subtile Anmache werden?"; frage ich, und in meiner Stimme liegt unverkennbarer Ärger.

Der Mann lässt sich nun in die Hocke sinken und schaut mich etwas spöttisch an. Das irritiert mich. Aber ich sehe, dass seine Augen dunkelblau sind.

"Nein. Das soll es nicht. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Aber als ich hier vorbei kam, hatte ich einfach den Wunsch, den Menschen kennenzulernen, der sich das alles hier erschaffen hat. Dieser Ort ist... wunderschön."

Was soll ich darauf erwidern? Ich habe keine Ahnung. Also sage ich einfach"Danke", und da wir uns schon in einer etwas absurden Situation befinden, kann ich ja gleich damit weitermachen, mir geradewegs in den Sinn kommende Fragen zu stellen.

"Woher kennen Sie Giersch?"

Jetzt grinst der Mann.

"Ich hatte auch mal einen Garten. Nicht so schön wie dieser hier, aber für Giersch hat es gereicht."

"Warum haben Sie keinen Garten mehr?"

"Ich musste fortziehen. Und danach hatte ich keine Gelegenheit mehr zum Gärtnern. Es klingt vielleicht komisch, aber Sie würden mir ein Freude damit machen, wenn ich hier einfach noch ein bisschen rupfen dürfte. Ich habe das lange nicht mehr gemacht. Ich hab es wohl vermisst."

Er sagt die Wahrheit. Und ich verstehe ihn.

"Das klingt überhaupt nicht komisch", sage ich und reiche ihm meine Gartenschere."Wenn Sie den Giersch gerupft haben, können Sie etwas Petersilie, Thymian, Salbei und Zitronenmelisse schneiden. Und wenn sie mit der Arbeit fertig sind, gibt es Kuchen und Holunderschorle."

Jetzt schaut er mich verblüfft an und ich muss laut lachen, was mir etwas unangenehm ist. Meine Nerven liegen wohl doch noch blank.

"Warum schauen Sie mich so an?", frage ich.

"Sie sind ungewöhnlich selbstbewusst."

Ich zucke nur mit den Schultern.

"Wir sind hier auf meinem Terrain" antworte ich.

Dann machen wir uns beide an die Arbeit im Garten und sagen eine Weile nichts. Er kennt sich aus, kann Kraut von Unkraut unterscheiden und scheint sich in der Gartenarbeit zuhause zu fühlen. Für mich ist es seltsam, dass jemand neben mir im Garten kniet, aber ich versuche, mich auf meine Tätigkeit zu konzentrieren. Es kommen noch zwei Wanderer vorbei, ein Ehepaar. Sie nehmen sich Essen und Trinken, sind begeistert, bedanken sich und ziehen weiter. Der Mann und ich arbeiten, während die Wanderer sich erfrischen.

Es ist etwa eine Stunde vergangen, als er aufsteht, sich die Erde von den Knien klopft und sagt:

"Ich bin Lukas. Lukas Berg."

"Linh Hauser", entgegne ich.

"Jetzt würde ich gerne etwas trinken und den Kuchen probieren. Und ich würde mich über Ihre Gesellschaft sehr freuen."

Ein Satz wie aus einem Roman oder einem Film. Er verleitet mich dazu, ein bisschen frech zu werden.

"Das haben Sie so formvollendet gesagt, dass ich schlecht ablehnen kann. Also leiste ich Ihnen etwas Gesellschaft. Ich gehe mir nur schnell die Hände waschen. Das möchten Sie sicher auch tun. Dort vorne an der Hauswand ist ein Wasserhahn."

Ich lasse fremde Männer nicht gern in mein Haus, auch wenn Sie Gartenliebhaber sind. Selbst Jonas musste eine Weile warten, bis er zu mir hinein durfte. Inzwischen hat er sogar einen eigenen Schlüssel.

Wir treffen uns an der Bierzeltgarnitur wieder, setzen uns gegenüber und ich gieße jedem von uns Holunderschorle ein. Er reicht mir ein Kuchenstück auf einem der bereitgestellten Teller und nimmt sich selbst auch eines. Dann essen und trinken wir.

"Der Kuchen ist toll", sagt er."Selbst gebacken?"

"Danke, und ja. Ich mag ihn auch." Es ist Rhabarbertarte, mein Lieblingskuchen.

Dann sage ich:

"Sie sind ein komischer Kerl."

Er untermauert meine Behauptung, indem er sich ungerührt zeigt und nur mit den Schultern zuckt.

"Ich weiß. Sie sind aber auch nicht gerade Durchschnitt, würde ich sagen. Leben abgeschieden in einer alten Mühle und servieren Wanderern Kuchen und Holunderschorle für lau. Haben Sie keine Angst hier so alleine?"

Diese Frage habe ich schon sehr oft gehört. Ich verzichte jedoch auf meine Standardantwort. Schließlich ist das hier keine Standardsituation. Ich sage, wie es ist.

"Ich habe Angst vor den Dingen, vor denen ich Angst haben sollte. Das sind nicht besonders viele. Und ich bin hier alles andere als alleine. Die Mühlen hier im Tal sind fast alle bewohnt und wir pflegen eine sehr gute Nachbarschaft. Aber zurück zu Ihnen. Was führt Sie in mein Tal?"

Jetzt mache ich mich schon zur Herrin des ganzen Tals. Ich muss aufpassen, nicht übermütig zu werden.

Er nimmt einen Schluck Holunderschorle und füllt sich noch ein Kuchenstück auf.

"Ich mache zwei Wochen Urlaub und fahre mit dem Mountainbike herum. Dieses Tal habe ich auf der Karte entdeckt und es hat mich neugierig gemacht."

"Wo kommen Sie denn her?"

Warum bist du plötzlich so neugierig, Linh?

"Aus Berlin."

"Und was verschlägt Sie ausgerechnet hier hin?"

"Ich wurde in Nassau geboren, bin aber als Kleinkind schon weggezogen. Ich wollte mir meinen Geburtsort einfach mal anschauen. Und es gibt hier fantastische Mountainbikestrecken. Aber jetzt bin ich wieder dran. Wie lange leben Sie schon in der Mühle?"

Oh, das ist ein Spiel. Na gut, dann spiele ich mit. Aber nach meinen Regeln.

"Seit drei Jahren."

"Und wo waren Sie vorher?"

"An verschiedenen Orten."

"Warum sehen Sie so asiatisch aus?"

Die meisten Menschen trauen sich nicht, so unverhohlen danach zu fragen. Aber mir ist das angenehmer als das Herumlavieren, das mir häufiger begegnet.

"Ich war mal blond und blauäugig. Das hier ist das Ergebnis einer Frühlingsrollenallergie."

Keine Ahnung, warum ich das jetzt sage und wo ich es hergeholt habe. Ich fühle mich offensichtlich zu wohl mit diesem Fremden.

Lukas Berg starrt mich zunächst an, gefühlte zehn Sekunden lang, dann beginnt er zu lachen, laut und haltlos. Und nach einer Weile kann ich nicht anders und stimme mit ein. Die Hunde kommen verunsichert herangetrabt und turnen schwanzwedelnd um uns herum. Es dauert eine Weile, bis wir uns beruhigt haben. Er muss sich die Nase schneuzen.

"Okay, ich habe schon verstanden. Es geht mich nichts an."

Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Meine Herkunft ist ja keine Schande, ich muss kein Geheimnis daraus machen.

"Ich wurde in Vietnam geboren. Als Baby haben mich meine Eltern adoptiert, so bin ich in Niedersachsen aufgewachsen."

"Okay. Eine typische Norddeutsche also", sagt er.

Jetzt grinse ich.

"Ja, unverkennbar."

"Wie lange haben Sie gebraucht, um die Mühle in diesen Zustand zu bringen?"

Das ist ein gutes Thema. Ich erzähle gern von meiner Mühle.

"Oh, sie ist immer noch nicht ganz fertig. Ich bastele jetzt eigentlich seit drei Jahren daran herum, aber die Pflicht ist erledigt, was jetzt noch kommt ist nur noch Kür."

"Sie haben Sie selbst renoviert?"

Er ist zu früh beeindruckt.

"Nein, vieles habe ich von Profis machen lassen, das Dach, die Böden, die neue Treppe, die Fenster. Ich habe lediglich zugearbeitet, hier und da verputzt, gestrichen und die Außenanlage gestaltet."

"Das kleine Wirtschaftsgebäude dort vorne ist auch ausgebaut?" Er deutet auf das Gästehaus am Bachlauf, in dem früher das Mahlwerk und das Mühlrad untergebracht waren. Im Zuge der Renovierung habe ich dort ein Getriebe einbauen lassen, über das ich sogar Strom erzeugen kann.

"Ja, das dient als Gästehaus."

"Sie nehmen Gäste auf?"

"Nur Freunde und Familie."

Er widmet sich jetzt eine Weile schweigend ganz dem Rhabarberkuchen. Als er fertig gegessen hat, lässt er seinen Blick noch einmal über den Garten schweifen.

"So einen großen Garten hätte ich auch immer gern gehabt. Aber ich hatte nie wirklich die Zeit dazu."

"Und, hätten Sie sie jetzt?"

Er lächelt etwas traurig.

"Ich weiß nicht, ob ich jetzt noch die Ruhe dafür habe. Aber es war nett, dass ich ein bisschen mit Ihnen in der Erde wühlen durfte."

"Gern geschehen."

Ich stehe auf und stelle die benutzten Teller zusammen. Ich habe heute einiges zu erledigen. Die Pferde müssen auf eine andere Weide gebracht, die Hühner müssen gefüttert und an meinem Buch muss weiter geschrieben werden. Meine Tage verlaufen in der Regel nach einem Zeitplan, den ich zwar nicht sklavisch befolge, an den ich mich jedoch zu halten versuche und der zu einem erheblichen Teil durch die Bedürfnisse meiner Tiere bestimmt wird. Das ist für mich gut. Es gibt mir Ruhe und vereinfacht die Disziplin, die man benötigt wenn man allein lebt, das heißt, nicht in einer menschlichen Wohngemeinschaft, denn allein bin ich nicht.

Lukas Berg versteht das Signal und steht auch auf, holt 10 Euro aus der kleinen Tasche hinten in seiner Radlerhose und legt sie auf den Tisch.

"Das kostet nichts", sage ich. "Aber wenn Sie sich wohler damit fühlen: Das Geld geht als Spende ans Nassauer Tierheim."

Er erwidert nichts, nickt nur kurz.

Dann schaut er mich an und irgendetwas passiert in meinem Magen. Vielleicht vertrage ich den Rhabarberkuchen nicht mehr so gut.

"Darf ich wiederkommen?", fragt er.

Ich atme tief ein und wieder aus.

"Wann?"

Als ob ich viele Termine hätte.

"Kann ich noch nicht genau sagen. Vielleicht übermorgen?"

"Naja, das Tal wir nicht abgesperrt. Sie können jederzeit wieder hier durchfahren."

Er lächelt nachsichtig.

"Darf ich Sie wieder besuchen?"

"Kuchen gibt es nur am Wochenende. Aber wenn ich hier bin, bekommen Sie gerne etwas zu trinken."

Er nickt wieder, setzt seinen Helm auf und geht zu seinem Mountainbike. Wie ein Welpe folge ich ihm. Ich bin keine Fahrradexpertin, aber sein Fahrrad sieht teuer aus.

Dann schwingt er seine langen Beine über die Mittelstange, befestigt den Helmgurt und zwinkert mir zu. Er zwinkert mir zu!

"Dann sehen wir uns demnächst!"

Fünf Sekunden später höre ich nur noch das Surren der Fahrradkette und sehe seinen breiten Rücken zwischen den Bäumen verschwinden. Ich bleibe noch eine Weile ratlos auf dem Waldweg stehen. Sherlock und Zita sind zu mir gekommen und schauen ebenfalls dem entschwindenden Radfahrer nach.

"Was war das denn gerade?", frage ich sie und bekomme zur Antwort nur zwei schiefe Hundeblicke.

Ich möchte Katharina anrufen und ihr von dieser seltsamen Begegnung erzählen, aber dann fällt es mir wieder ein. Sie ist tot. Ermordet. Lukas Berg hat mich das für eine kurze Zeit vergessen lassen.

Es ist kurz nach Mitternacht und ich komme nicht weiter. Seit drei Stunden sitze ich an Katharinas PC und durchforste die Dateien. Dabei komme ich mir vor wie ein Voyeur. Die meisten Dateien beinhalten Artikel zu Katharinas Forschungsarbeiten, Korrespondenz mit zoologischen Instituten und Naturschutzverbänden sowie dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, für den Katharina beratend tätig war. Ich lasse meinen Laptop, an den das externe Laufwerk angeschlossen ist, und Katharinas Laptop gleichzeitig laufen und vergleiche akribisch Datei für Datei, um zu überprüfen, ob irgendwelche Dateien gelöscht wurden. Bisher konnte ich das nicht feststellen. Auf dem Laptop befinden sich fast ausschließlich Präsentationen für Vorträge und Bildmaterial. Unzählige Bilder von Rabenvögeln, aber auch von anderen Tieren, Wölfen, Fröschen, Füchsen, Mardern...

Der PC enthält auch einige private Dateien, jede Menge Urlaubsfotos, Fotos von Malte in jedem Alter, Familienbilder, die ich mir jetzt nicht ansehen mag. Ich finde auch die Einladungen zu Maltes Geburtstagen, die Katharina jedes Jahr liebevoll und kreativ entworfen hat. Ich muss lächeln und weinen zugleich als ich sie sehe. Es sind Unmengen von Informationen, aber ich weiß nicht, wonach ich suchen soll, und ich bin frustriert und erschlagen. Ich hoffe, dass Paula sich bald meldet und mir etwas darüber erzählen kann, warum zwei seltsame Kriminalbeamte bei Thomas auftauchen und trotz schwerwiegender Zweifel an einem Suizid kein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Aber heute Nacht werde ich nicht mehr schlauer werden. Ich schnappe mir die Hunde, um eine kleine Mitternachtsrunde zu drehen. Der Wald ist um diese Zeit wunderbar einsam und lebendig zugleich. Ich setze mir meine LED-Stirnlampe auf, ziehe meine alten Wanderschuhe an und nehme die Hunde ausnahmsweise an die Leine, da viel Wild um diese Zeit unterwegs ist und meine Hunde – auch wenn sie meistens gut hören – doch immer noch Beutegreifer sind. Nachts ist der Wald ein verzauberter Ort. Auch tagsüber bin ich immer wieder beeindruckt von seiner Schönheit und Veränderlichkeit. Zu jeder Jahreszeit und je nach Beschaffenheit hat er seine eigene Stimmung, manchmal ist er selbstbewusst und kühl, dann wieder lieblich und einladend. Ich liebe die dunklen moosbegrünten Nadelwaldtiefen und die Blätterkathedralen der Buchen, die Lichtflecken auf dem Boden bei Sonnenschein, die aufsteigenden Dunstschwaden am Morgen und nach dem Regen. Ich liebe den Wald. Und manchmal bin ich so vermessen zu glauben, dass er mich auch liebt, weil er mich immer wieder glücklich macht. Aber nachts... nachts ist er der Hüter unserer Urgedanken, er lässt uns Raum und Zeit vergessen und schrumpft uns auf das Wesentliche zurück. Er katapultiert uns in die Zeit, als wir noch nicht die Krone der Schöpfung waren und macht uns klein und ehrfürchtig.

Ich kenne diesen Teil des Waldes wie meine Westentasche. Seit ich in der Mühle wohne, bin ich im Umkreis von 30 Kilometern fast jeden Waldweg zu Fuß gelaufen oder auf dem Pferderücken entlanggeritten. Das Wort Heimat kommt dem, was ich für das Mühlental empfinde, beängstigend nahe. Wenn man eine Landschaft so gut kennt, wird sie ein Teil von einem selbst. Jetzt ist der Wald still und geräuschvoll zugleich. Ich höre das Tapsen und Atmen der Hunde und meine eigenen, leise knirschenden Schritte. Irgendwo knacken Äste im Unterholz, ein entferntes Käuzchen ruft, Mäuse quietschen empört und rascheln davon. Die Luft ist kühl und aromatisch, angereichert mit Waldmeister und Harz. Ich spüre, wie die Anspannung der letzten Stunden von mir abfällt.

Dann schlagen die Hunde plötzlich an und reißen mir fast die Leine aus der Hand. Um ein Haar haut es mich um, ich kann mich gerade noch abfangen. Ich gebe einen scharfen Befehl, und beide hören auf zu bellen und zu zerren, lassen aber ein tiefes Grollen von sich hören und beben vor Erregung. Ich zische ein paar mal und lausche angestrengt in den Wald hinein. Es ist das erste Mal, dass die Hunde bei einem unserer Mitternachtsspaziergänge auf diese Art anschlagen. Irgendetwas ist da draußen, was da sonst nicht ist, und ich hoffe, ihm ist jetzt das Herz in die Hose gerutscht, genauso wie mir. Vielleicht ist es ein eingewanderter Luchs oder ein Wolf hat es inzwischen bis in den Naturpark Nassau geschafft. Was auch immer, es muss ein fremder Geruch sein. Die Hunde schnüffeln noch etwas aufgeregt in den Wald hinein, mein Herz schlägt Purzelbäume, aber ich atme tief ein und aus und die Erregung fließt langsam ab, meine Hände zittern noch eine Weile nach. Wir gehen weiter, die Hunde haben sich entspannt und der Spuk ist vorbei. Als wir wieder in der Mühle sind, mache ich mir keine weiteren Gedanken über den Vorfall, beginne meine Abendmeditation und gehe dann ins Bett. Kurz vor dem Einschlafen fällt mir Lukas Berg wieder ein und ich frage mich, ob er wirklich noch einmal vorbeikommen wird. Ich bin skeptisch und nehme mir vor, es auch zu bleiben.

Waldflüsterer

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