Читать книгу Dolmetschen in der Psychotherapie - Mascha Dabić - Страница 29
4.2 Das psychotherapeutische Setting: grundsätzliche Überlegungen
ОглавлениеAlexieva unterscheidet dolmetscherunterstützte Gesprächssituationen je nach dem, welches Ziel beim Gespräch primär verfolgt wird, ob es also darum geht, Wissen auszutauschen, eine kollektive Entscheidung zu fällen (z. B. eine gemeinsame Strategie erarbeiten) oder konfligierende Zielvorstellungen zu diskutieren (2002: 229).
Das psychotherapeutische Setting lässt sich nicht eindeutig einer der gebotenen Kategorien zuordnen, jedoch bietet Alexievas Typologie ein brauchbares Schema, um die Eckpunkte der kommunikativen Situation in der psychotherapeutischen Triade zu beschreiben: Es findet ein Wissensaustausch statt, insofern als die PsychotherapeutIn durch gezieltes Nachfragen Informationen über das Leben und Erleben der KlientIn in Erfahrung bringt und sich das nötige Wissen aneignet, um Entscheidungen über das weitere Vorgehen im psychotherapeutischen Arbeiten zu treffen. Da eine stark ausgeprägte Machtasymmetrie der psychotherapeutischen Gesprächssituation immanent ist, erfährt die KlientIn nichts oder nur sehr wenig über das Leben der PsychotherapeutIn. Dennoch ist die KlientIn selbstverständlich nicht ausgeschlossen vom Wissenstransfer, da das gezielte Nachfragen der PsychotherapeutIn einen Prozess des Sich-selbst-besser-Kennenlernens initiiert: Indem die KlientIn auf die Fragen der PsychotherapeutIn eingeht (oder auch bewusst darauf verzichtet, diese wahrheitsgemäß zu beantworten), nähert er/sie sich den eigenen (belastenden) Inhalten und Erinnerungen, für die im Alltag wenig Raum zur Verfügung gestellt wird.
Die zweite Kategorie bei Alexieva, also die Erarbeitung einer gemeinsamen Strategie, trifft ebenfalls auf das psychotherapeutische Setting zu, auch wenn es sich, wie bereits erwähnt, um eine asymmetrische Gesprächssituation handelt. Jede Psychotherapie ist anders, und auch jede Therapiestunde ist anders. Es handelt sich um nicht wiederholbare, nicht standardisierte Gesprächssituationen, die keiner bestimmten Routine folgen, was aber nicht bedeutet, dass die Gespräche der Beliebigkeit preisgegeben oder dem Zufall überlassen werden. Die PsychotherapeutInnen kommunizieren – oder sollten es jedenfalls tun – auf eine reflektierte, bewusste Weise, während die KlientInnen keinem solchen Anspruch genügen müssen. Die Tatsache, dass es den PsychotherapeutInnen obliegt, das Gespräch zu lenken und gewissermaßen die Oberhand zu behalten, bedeutet nicht, dass der KlientIn eine passive Rolle zukommt. Vielmehr ist eine Therapie immer Ergebnis gemeinsamer Bemühungen von TherapeutIn und KlientIn gleichermaßen. Auch wenn eine Therapie kurz- oder langfristig der KlientIn Erleichterung verschaffen kann und soll, ist Erleichterung nicht das primäre Ziel einer Therapie; insofern ist es wichtig, auch für die DolmetscherIn, nachzuvollziehen, dass eine Therapie kein „Wohlfühlprogramm“ sein kann, auch wenn das Wohlbefinden und das Wohlfühlen der KlientIn selbstverständlich anzustreben sind. Zu einer Therapie gehören auch Irritationen und Konflikte, und es ist Aufgabe der DolmetscherInnen, diese zu transportieren und zu ermöglichen und dabei der Versuchung zu widerstehen, Unangenehmes „unter den Teppich zu kehren“ oder „glattzubügeln“. Um wieder auf Alexievas Typologie zurückzukommen, die therapeutische Strategie wird stets gemeinsam mit der KlientIn ausgearbeitet, oder, um es anders auszudrücken, eine Therapie kann niemals gegen den Willen und gegen den Widerstand der KlientIn erfolgen, sondern nur auf freiwilliger Basis und mit einer aktiven Beteiligung der KlientIn.
Was den dritten Aspekt bei Alexieva anbelangt, nämlich konfligierende Zielvorstellungen, so wurde bereits erwähnt, dass Irritationen und Konflikte durchaus Teil des psychotherapeutischen Settings sind. Unterschiedliche, geradezu entgegengesetzte Erwartungshaltungen (s. 4.2) an die DolmetscherInnen können ebenfalls für Konflikte sorgen.
Im Hinblick auf Alexievas Schema lässt sich festhalten, dass das psychotherapeutische Setting sich einer eindeutigen Kategorisierung entzieht. Die therapeutische Expertise, die sich zusammensetzt aus jahrelanger Ausbildung, intensiver Selbsterfahrung, eigener Praxis sowie laufender, qualifizierter, kollektiver Reflexion der eigenen Praxis im Rahmen von Supervisionen und Intervisionen, besteht gerade darin, für jede Klientin und jeden Klienten einen individuellen, eigens auf die jeweilige Lebenssituation und die jeweiligen psychischen Kapazitäten abgestimmten Zugang zu finden. Dieser Umstand erfordert von DolmetscherInnen ebenfalls Flexibilität, Einfühlungsvermögen und laufende Reflexionsfähigkeit.
Tribe & Morrissey weisen auf einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingsstatus (also erzwungener Fluchterfahrung) und psychiatrischen Problemen hin (2003: 202). Kulturschock oder reaktivierte Inhalte und der Verlust von Identität und kulturellen Werten werden als Erklärungen für diese Korrelation herangezogen. Dank des Einsatzes von DolmetscherInnen ist es möglich, dass diese Menschen Zugang zu psychiatrischer und psychotherapeutischer Versorgung erhalten: „(…) interpreters may play an indispensable role in mental health assessments and in ensuring that access to mental health services is possible“ (2003: 204). Dabei ist zu bedenken, dass es fast überall in der Welt ein Stigma ist, psychische oder emotionale Probleme zu haben, dass aber die Idee eines Fachmanns oder einer Fachfrau, der/die für diesen Bereich zuständig ist, nicht überall verankert ist; stattdessen kann es ein älteres Familienmitglied, ein traditioneller Heiler, der Gemeinschaftsälteste oder ein Alternativmediziner sein, an den man sich in solchen Fällen wendet. Die Idee, dass man seine Gedanken und Gefühle einem Fremden anvertraut, ist Teil eines westlichen Konzepts von Psychotherapie und kann anderswo als befremdlich wahrgenommen werden und dazu führen, dass fremdsprachige PatientInnen es vorziehen, über körperliche Schmerzen und Symptome zu klagen, anstatt sich über ihre Ängste zu unterhalten (2003: 206). Vor diesem Hintergrund kann die Präsenz einer DolmetscherIn eine zusätzliche Aufwertung erfahren, denn die DolmetscherIn ist zumindest mit der Sprache der KlientIn vertraut und stellt somit einen Anknüpfungspunkt an Vertrautes dar.
Köllmann führt zwei wesentliche Punkte ins Treffen, in denen sich die Tätigkeit im psychotherapeutischen Setting von anderen Einsatzbereichen für DolmetscherInnen unterscheidet: Zum einen begleitet die DolmetscherIn in der Regel einen Therapieprozess über einen längeren Zeitraum hinweg, sodass eine vertrauensvolle Beziehung zwischen DolmetscherIn und PatientIn entsteht. Zum anderen sind die Themen, die in Therapiesitzungen zur Sprache kommen, häufig emotional sehr belastend, was in anderen Bereichen für gewöhnlich nicht der Fall ist, oder wovon zumindest nicht von vornherein auszugehen ist (2011: 55).
Bot beschreibt das Dilemma, mit dem eine ausgebildete und praktizierende Psychotherapeutin konfrontiert ist, wenn die gewohnte Dyade zu einer Triade erweitert werden muss:
As a psychotherapist I have been taught to word my interventions very carefully – the choice of words, tenses and mood each infuence the effect of the intervention. At the same time I have no idea what the interpreter is doing to my words – does he retain the therapeutic intention that I put in them or does he turn them into something completely different? Likewise, what happens to the words used by the patient? Pasychotherapists have also been taught of the importance of a therapeutic relationship. It has to be built up carefully between therapist and patient. At the same time I needed to deal with the situation that the interpreter could be ‚anyone‘ – so one session with a patient I would have one interpreter to assist us, whereas in the next session witht the same patient there would be another interpreter. How could I explain and justify this? (2005: 5)
Der Aufbau einer therapeutischen Beziehung – die Hauptaufgabe einer TherapeutIn – muss in diesem Fall also in enger Zusammenarbeit mit einer dritten Person erfolgen, von der nicht a priori davon ausgegangen werden kann, dass sie die Bereitschaft und/oder die Fähigkeit mitbringt, das Konzept einer therapeutischen Beziehung intellektuell und emotional nachzuvollziehen und in weiterer Folge aktiv mitzugestalten. Bot vergleicht die Arbeitsweise von DolmetscherInnen in der Psychotherapie mit anderen Kontexten: Polizeieinvernahmen, Gespräche mit Bewährungshelfern, Gespräche in der Notaufnahme, bei Gericht etc. Bei Konferenzen gäbe es allerdings wenig Interaktion zwischen DolmetscherIn, SprecherIn und dem Publikum. „Each of these situations is in some way similar and in other ways different from the situation that I studied“ (Bot 2005: 27).
Pinzker plädiert dafür, die triadische psychotherapeutische Gesprächssituation als ein eigenständiges Setting innerhalb der Psychotherapie zu betrachten und darauf zu verzichten, Vergleiche zur Dyade zu ziehen oder die Unsichtbarkeit der DolmetscherIn anzustreben. Maschinelle oder technische Modelle für die Rolle der DolmetscherIn sollten als Mythen entlarvt werden und einer offenen (auch ergebnisoffenen) personenbezogenen Grundhaltung gegenüber dem psychotherapeutischen Setting Platz machen (2015: 35ff.). Pinzker empfiehlt daher gerade NeueinsteigerInnen, „‚alten‘ Leitfäden“ kritisch zu begegnen, sich ganz bewusst auf die neue Konstellation Psychotherapeutin-Dolmetscherin-Klientin einzulassen und sich zunächst einzugestehen, dass man eben (noch) nicht weiß, „wie es geht“, in diesem Setting zu arbeiten:
Dies gilt es vielleicht zunächst einmal „nur auszuhalten“, ohne sofort nach „Leitfäden“ zu rufen oder sich an einen Dyade-Vergleich zu klammern. Es gibt keinen Vergleich. Es handelt sich um etwas Neues, sozusagen Beispielloses. Die Triade mit dem Einzelsetting ohne Dolmetscherin zu vergleichen oder aus ihm für die Arbeit in der Triade etwas „ableiten“ zu wollen, erscheint mir nicht zielführend, im Gegenteil, mit Blick auf das Datenmaterial, vielmehr hinderlich. (2015: 46)
Pinzkers Ansatz mag aus psychotherapeutischer Sicht geradezu radikal anmuten, es ist aber gerade eine solche Haltung, die sich als produktiv erweisen kann – offen für noch unbekannte Dynamiken, frei von Zwängen, sich an „alte Leitfäden“ zu halten, die den aus der triadischen Konstellation erwachsenden Komplikationen nicht ausreichend Rechnung tragen können.
Aus translationswissenschaftlicher Sicht ist die Präsenz der DolmetscherIn in einer triadischen Gesprächssituation so selbstverständlich, dass sie im Grunde keiner weiteren Erwähnung bedarf: Überall dort, wo eine DolmetscherIn anwesend ist und ihre Sprach- und Dolmetschkompetenz den GesprächspartnerInnen zur Verfügung stellt, findet eben ein dolmetschgestütztes Gespräch statt und ist somit für die Translationswissenschaft von Relevanz und von Interesse. Aus der Sicht der psychotherapeutischen Tradition und also der Psychotherapieforschung jedoch ist die Präsenz einer dritten Person geradezu ein revolutionärer Akt, in dem Sinn, dass eine solche Arbeitsweise Altbekanntes außer Kraft setzt und neue Denkweisen auf den Plan ruft. Diese Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des triadischen psychotherapeutischen Settings aus der Perspektive der Translationswissenschaft einerseits und der Psychotherapieforschung andererseits gilt es bei der Beschreibung und Bewertung der Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Settings zu bedenken.