Читать книгу Dolmetschen in der Psychotherapie - Mascha Dabić - Страница 30
4.2.1 „Bühne“ und „Rolle“
ОглавлениеBerufsgruppen agieren permanent in gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen – das trifft auch auf wenig professionalisierte und stark heterogene und fragmentierte Berufsgruppen zu.
Der kanadische Soziologe Erving Goffman vergleicht das soziale Leben mit einer komplexen Bühne, auf der ein Ensemble von DarstellerInnen vor einem Publikum auftritt und in bereits vorgegebene Rollen schlüpft, stets darauf bedacht, die Fassade aufrechtzuerhalten, die Rolle glaubhaft zu verkörpern und gegebenenfalls den vom Publikum an den Darsteller herangetragenen Idealisierungen und Mystifikationen Rechnung zu tragen (vgl. Goffman 1969/2003). Das glaubhafte Verkörpern der Rolle der DolmetscherIn ist in einer gegebenen Situation eng verknüpft mit der Dolmetschkompetenz, die zu dem jeweiligen Zeitpunkt und im jeweiligen Kontext abgerufen werden kann, allerdings ist der Faktor der Präsentation ein nicht zu vernachlässigender: Eine Verdolmetschung kann fehlerhaft und/oder unvollständig sein, und dennoch kann es der DolmetscherIn gelingen, durch ein selbstsicheres Auftreten und eine gelungene Präsentation einen positiven Eindruck beim Publikum zu hinterlassen, d.h. bei der Zuhörerschaft das Gefühl hinterlassen, man habe „alles verstanden“; umgekehrt kann eine vollständige, korrekte Verdolmetschung durch eine mangelhafte Präsentation unglaubwürdig klingen. Goffman beschreibt die Anforderungen an eine Rolle folgendermaßen:
Denn wenn die Tätigkeit des Einzelnen Bedeutung für andere gewinnen soll, muß er sie so gestalten, daß sie während der Interaktion das ausdrückt, was er mitteilen will. Es kann in der Tat vorkommen, daß von dem Darsteller Beweise seiner Fähigkeit nicht nur im gesamten Verlauf der Interaktion, sondern auch innerhalb eines Sekundenbruchteils verlangt werden. Wenn etwa der Schiedsrichter beim Baseballspiel den Eindruck erwecken will, er sei sicher in seinen Entscheidungen, so muß er auf den Augenblick der Reflexion verzichten, der ihm gerade die Sicherheit geben könnte. Er muß sofort eine Entscheidung fällen, damit das Publikum sicher sein kann, dass sein Urteil richtig ist. (Goffman 1969/2003: 24)
Diese Aussage trifft auf das Dolmetschen ebenfalls zu: Es gilt, „innerhalb eines Sekundenbruchteils“ das Original – also den Sprechakt – in sämtlichen Facetten (Inhalt, Bedeutung, Tonlage, Humor, Realien, Anspielungen etc.) zu verstehen und in der Zielsprache so vollständig und so korrekt wie möglich wiederzugeben. Geschwindigkeit ist im Unterschied zum schriftlichen Übersetzen von entscheidender Bedeutung, denn damit eine DolmetscherIn einen kompetenten Eindruck macht, muss sie in der Lage sein, nicht nur korrekt, sondern auch schnell zu arbeiten. Verlangsamungen, die sich durch Sprechpausen und Häsitationen manifestieren, führen dazu, dass insgesamt ein Eindruck entsteht, die DolmetscherIn sei inkompetent und/oder mit der gegebenen Situation überfordert. Bleiben wir bei der Rollenmetapher, so gilt es festzuhalten, dass die DolmetscherIn eben nicht die Möglichkeit hat, ihren Text vorzubereiten und den Vortrag zu üben. Stattdessen geht es in der Dolmetschsituation darum, sämtliche sprachliche und sonstige Wissensbestände „innerhalb eines Sekundenbruchteils“ abzurufen, um die Aufgabe des Verstehens und Verständlichmachens bestmöglich erfüllen zu können. Gefragt ist also eine solide Vorbereitung im Hintergrund im Sinne einer langfristig akkumulierten Kompetenz, sowie eine optimale (improvisierte) Performance der Rolle im Hier und Jetzt.
Goffman definiert mehrere Sonderrollen: „die des Denunzianten, des Claqueurs, des Kontrolleurs, des professionellen Einkäufers und des Vermittlers“ (ebda. S. 90). Goffmans Überlegungen zu der letztgenannten Rolle, der des Vermittlers, thematisieren ethische Dilemmata von DolmetscherInnen (in der Psychotherapie, aber auch in anderen Kontexten):
Der Vermittler erfährt die Geheimnisse beider Seiten und erweckt bei jeder Seite den berechtigten Eindruck, daß er ihre Geheimnisse bewahren werde; er ist aber bestrebt, bei jeder Seite den falschen Eindruck zu erwecken, als sei seine Loyalität ihr gegenüber größer als seine Loyalität gegenüber der anderen Seite (…) Die Tätigkeit des Vermittlers als Individuum ist bizarr, unhaltbar und würdelos, wie sie solchermaßen zwischen Loyalität zu dem einen und zu dem anderen Ensemble hin- und herschwankt. (ebda. S. 90)
Der Loyalitätskonflikt, der aus divergierenden, einander mitunter entgegengesetzten Nutzererwartungen resultiert, kann sich gerade im Kontext der Psychotherapie stark manifestieren, indem jeder der beiden GesprächspartnerInnen versucht, die DolmetscherIn an seine/ihre Seite zu ziehen: einerseits die Psychotherapeutin als die arbeitende Fachperson, die an die Berufsethik der DolmetscherIn appelliert, andererseits die KlientIn als eine GesprächsteilnehmerIn, die darauf angewiesen ist, sich mit Hilfe der DolmetscherIn in einer für sie prekären Situation Gehör zu verschaffen und Hilfe zu bekommen.
Kadrić macht das Bühnen-Konzept von Goffman fruchtbar für die Translationswissenschaft (vgl. Kadrić et al. 2005: 12ff.). Die Bühne setzt sich zusammen aus einer Vorderbühne, die den repräsentativen Bereich darstellt, der von der Öffentlichkeit, also vom Publikum wahrgenommen wird, und einer Hinterbühne, von welcher das Publikum ausgeschlossen ist und wo die Ensemblemitglieder weitgehend ungestört Vorbereitungen für ihren Auftritt auf der Vorderbühne treffen können. Das Handeln der Ensemblemitglieder untereinander, gegenüber dem Publikum und gegenüber der Sache basiert auf Loyalität, Kooperation, Vertrauen und Solidarität.
Die Institutionen dienen dazu, bestimmte Werte der Gesellschaft zu verwirklichen bzw. diese durch Vorgaben und Normen verbindlich zu machen. Die Bestrebungen des Berufsstandes, sein Image in der Öffentlichkeit möglichst positiv darzustellen, wurden bereits thematisiert.
Die Institutionen erwarten, dass ihre Mitglieder bestimmte Rollen, bestimmte Handlungsmuster übernehmen. So werden die Mitglieder zu ‚Darstellerinnen‘, die die institutionserwünschten Handlungsmuster durch die Aneignung von spezifischen Techniken beherrschen, die ihnen bei ihrer ‚Inszenierung‘ helfen. Es geht dabei darum, den Eindruck zu erwecken und zu festigen, dass man als Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe alle Kriterien erfüllt, an denen man in der Arbeitswelt gemessen wird: Präzision, Kompetenz, Sachlichkeit, Zuverlässigkeit, Vertrauen. Als ‚Darstellerin‘ bemüht man sich, dieses bestimmte Bild in der Öffentlichkeit zu vermitteln: Man soll als Zugehörige der betreffenden Gruppe alle diese verschiedenen Kriterien erfüllen. (ebda. S. 16)
Die akademische Ausbildung bildet die Hinterbühne für die TranslatorInnen. In diesem Raum werden außer der konkreten Kompetenzvermittlung auch ethische Werte wie Loyalität, Kooperation und Solidarität vermittelt und verhandelt, es findet also eine fachliche Enkulturation oder Rollenarbeit auf der Hinterbühne statt, sodass der Entwicklung einer Translationskultur Vorschub geleistet wird.