Читать книгу Hagemanns Welt - Mathias Meyer-Langenhoff - Страница 12
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Abschlussball
„Heute müssen wir tanzen üben“, meinte Emma, „und zwar gleich nach dem Abendessen.“ Sie besuchte seit drei Monaten die Tanzschule und am Wochenende sollte der Abschlussball stattfinden. Ich zuckte zusammen, denn diesen Termin hatte ich aus meinem Bewusstsein gestrichen. Dorle grinste, in ihrer Klasse war Tanzen uncool.
„Auch wir beide müssen üben“, ermahnte mich Elsa.
„Aber wir sind doch schon ein gutes Team“, wehrte ich ab.
„Denkst du“, entgegnete sie und trat unter dem Tisch auf meinen Fuß.
„Au, was soll das?“, rief ich.
„Damit du verstehst, wie es mir geht, wenn ich mit dir tanze“, erklärte meine Gattin, ging ins Wohnzimmer und kehrte mit einer CD in die Küche zurück.
„Das hier“, verkündete sie triumphierend, „ist Tanzmusik, da ist alles drauf, was wir brauchen, langsamer Walzer, Quickstepp, Slowfox …!“
„Woher hast du die?“, fragte ich ehrlich überrascht. Elsa, die sonst nur Jazz hörte, besaß eine CD von Kurt Edelhagen und seinem Orchester, der originelle Titel: „Super Tanzmusik“.
„Die hab ich mal vor Urzeiten gekauft“, lächelte sie.
Von diesem Tag an musste ich regelmäßig mit ihr und Emma nach dem Abendbrot tanzen. Kollektive Familienfolter. Langsamer Walzer mit Elsa, langsamer Walzer mit Emma, Quickstepp mit Elsa, Quickstepp mit Emma, Foxtrott mit Emma, Foxtrott mit Elsa, alles unter den spöttischen Augen von Dorle und Greta. Mein Leben wurde zur Hölle. Ich probierte zu entrinnen, gab einen Arztbesuch vor, hatte einen wichtigen Termin mit einem Verleger, Schmerzen am Fuß, mein Oberschenkel zwickte, aber es war aussichtslos: Zu den Klängen der Musik von Kurt Edelhagen nötigten mich Frau und Tochter Abend für Abend zu wahrhaft widernatürlichen Bewegungen.
„Du wirst immer besser“, log Emma, während sie mich am Vorabend des Abschlussballs auf das Parkett unseres Wohnzimmers führte. Elsa sah argwöhnisch zu und dirigierte uns mit harter Kommandostimme. In der Nacht quälte mich zum wiederholten Male ein Albtraum. Auf dem Abschlussball hatte ich mich als Turniertänzer ausgegeben und großspurig erklärt, ich wolle den anwesenden Grobmotorikern zeigen, wie man sich elegant bewege. Emma weigerte sich, aber ich zerrte sie auf das Parkett. Neugierig sahen die Ballgäste zu, lediglich Elsa wandte sich mit Grausen ab. Plötzlich stolperte ich, Emma und ich kamen zu Fall und landeten bäuchlings vor den Füßen des Tanzlehrers. Er schüttelte den Kopf.
„Turniertänzer?“, grinste er. „Sogar eine Holsteiner Milchkuh tanzt besser als Sie.“ Emma weinte. Nachdem wir uns wieder aufgerappelt hatten, schrie sie mich wutentbrannt an: „Es reicht, Papa, verschwinde endlich aus meinem Leben, ich will dich nie mehr sehen, du bist das Letzte!“ Dann erwachte ich.
„Was ist los mit dir?“, meinte Elsa, „du schläfst so unruhig, träumst du schon wieder vom Urlaub auf Ameland?“
„Nein, nein“, murmelte ich, „es geht um den Tanzkurs.“
„Willst du reden?“, fragte meine Frau mitleidig.
„Besser nicht, heute Abend ist es ja soweit.“
„Na gut. Was ziehst du eigentlich an?“
Diese Frage trieb mir den Schweiß auf die Stirn, wollte sie schon wieder mit mir einkaufen gehen?
„Ich werde mir nachher was Passendes kaufen, alleine!“, stellte ich klar.
„Ja, ja“, lächelte Elsa, „ich habe sowieso keine Zeit, ich gehe mit Emma zum Friseur. Bring bitte eine Schachtel Konfekt mit.“
„Warum das?“, staunte ich. Mich mit dem Kauf von Pralinen zu beauftragen, hieß, den Bock zum Gärtner zu machen: Ich bin Schokoladenjunkie.
„Natürlich nicht für dich“, stellte Elsa klar, „aber Emma muss für ihren Tanzpartner ein Geschenk mitbringen.“
„Das ist nicht wahr, oder?“ Ich rieb mir verwundert die Augen. „Was ist denn mit der Jugend los? Ich habe damals die meisten Tanzkurstermine geschwänzt, statt zum Abschlussball zu gehen, habe ich mit Freunden zur Musik von Deep Purple Luftgitarre gespielt.“
„Ja, ja, du alter Revoluzzer“, lächelte meine Frau milde. „Times, they are changing, das musst auch du begreifen. Übrigens würde dir ein anthrazitgrauer Anzug gut stehen.“
Ich besuchte also erneut das beste Herrenmodengeschäft der Stadt. Zwar hatte ich mir fest vorgenommen, die mir bereits bekannte Verkäuferin mit Missachtung zu strafen, aber leider kam sie mir sofort entgegen.
„Guten Morgen, Herr Hagemann“, strahlte sie, „schön, Sie zu sehen. Heute allein? Wie geht es Ihrer Gattin?“
Mein Blick fiel auf das Namenschild am Revers ihrer Kostümjacke: Frau Schmidtlein. Ich glaube, sie stellte noch hundert weitere Fragen.
Beantworten musste ich keine, sie plapperte unentwegt, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Nach gefühlten zwei Stunden gelang es mir endlich, den Grund meines Besuchs anzusprechen.
„Wie schön“ strahlte sie, „das ist sicher auch für Sie ein großer Tag?“
„Nun ja, in jedem Fall brauche ich einen Anzug.“
„Als meine Tochter Abschlussball hatte, war ich schon tagelang vorher aufgeregt.“
Ich fürchtete, nun würde sie wieder losplappern.
„Frau Schmidtlein, zeigen Sie mir die Anzüge!“
„Sie glauben gar nicht, wie schön unsere Tochter aussah. Sie trug ein langes, rotes Ballkleid, sündhaft teuer, aber herrlich, und dann …!“
Ich, nachdrücklicher: „Frau Schmidtlein, ich möchte auf der Stelle einen Anzug anprobieren!“
„Soll ich Ihnen erzählen, was passierte, als mein Mann mit ihr tanzte?“
„Nein, Frau Schmidtlein, auf keinen Fall!“
Endlich gelang es mir, ihren Wortschwall zu stoppen, sie hielt tatsächlich einen kurzen Augenblick den Mund.
„Entschuldigen Sie, Herr Hagemann, ich wollte sie nicht verwirren.“
Eine Stunde später war ich im Besitz eines sündhaft teuren, anthrazitgrauen Kammgarnanzuges, besaß ein neues weißes Hemd und topmoderne, zum Anzug passende Kaschmirsocken, Frau Schmidtlein strahlte.
„Sie sehen wunderbar aus, Herr Hagemann, Ihre Frau und Ihre Tochter werden zufrieden sein.“ Mein Blick verfinsterte sich, erschrocken hielt sie sich den Mund zu. „Oh, jetzt habe ich schon wieder etwas Falsches gesagt, der Anzug muss natürlich nur Ihnen gefallen und nicht Ihrer Frau.“ Sie wedelte entschuldigend mit den Händen.
„Schon gut“, murmelte ich.
„Mein Mann hat übrigens beim Tanz mit unserer Tochter vor Rührung geweint“, begann sie wieder, „es hat keiner gemerkt, aber ich kenne ja meinen Manfred.“
Ich verließ fluchtartig den Laden. „So ein Weichei, heult auf dem Abschlussball seiner Tochter, lächerlich, würde mir nie passieren.“ Der anschließende Kauf der Pralinenschachtel verlief komplikationslos. In der Confiserie wurden mir keine Fragen gestellt. Emma und Elsa waren mit meinem Anzug zufrieden, obwohl mir das natürlich völlig gleichgültig war, denn wie hatte Frau Schmidtlein so treffend bemerkt, er musste ja nur mir gefallen. Kurz vor acht kam das Taxi, Dorle und Greta geleiteten uns grinsend zur Tür, wünschten Emma und Elsa viel Spaß und mir alles Gute.
„Wo soll’s denn hingehen?“, fragte der Taxifahrer.
„Zur Tanzschule Lobsang“, antwortete Elsa.
„Abschlussball“, nickte er verständnisvoll, „war ich letztes Jahr mit meinem Sohn auch, nicht einfach.“
Ich neugierig: „Was wollen Sie damit sagen?“
„Besser nichts“, antwortete er mit einem Blick in den Rückspiegel, „Ihre Frau und Ihre Tochter gucken schon böse.“
„Richtig“, meinte Elsa streng, „wir können uns auch ein anderes Taxi rufen!“
Ich zog es vor, nicht weiter nachzuhaken. Als wir die Tanzschule erreichten, stiegen Emma und Elsa aus, während ich bezahlte.
„Und, was ist jetzt?“, drängte ich.
„Was ist was?“, fragte der Taxifahrer.
„Warum ist der Abschlussball nicht einfach?“
„Wollen Sie das wirklich wissen?“
„Ja, verdammt noch mal, nun reden Sie schon!“
Ein breites Grinsen in seinem Gesicht.
„Tanzen ist nicht schön, man kommt so selten an die Theke. Und noch ein Tipp: Reden Sie beim Tanzen mit ihrer Partnerin, das lenkt sie ab!“
„Das lenkt sie ab? Wovon?“ Ich starrte ihn entgeistert an.
„Von Ihren Tanzkünsten.“
„Meinen Sie, ich kann nicht tanzen?“
Er grinste immer noch, verärgert verweigerte ich ihm das Trinkgeld und verließ den Wagen. In der Tanzschule ging es zu wie in einem Bienenkorb. Vierzehnjährige, grell geschminkt, ausnahmslos mit kleinen, glitzernden Täschchen bewaffnet, die dekorativ über schmalen, nackten Schultern baumelten, trugen kurze Cocktailkleider oder lange Ballroben mit Schlitzen und freiem Rücken und standen mit ihren Eltern mal aufgeregt tuschelnd, mal verlegen schweigend in kleinen Gruppen zusammen. Erst jetzt verstand ich, warum Elsa und Emma sich schon seit Tagen mit der Garderobenfrage beschäftigten. Auch die Jungen hatten sich verkleidet. In ihren feinen, fast immer zu großen Anzügen, mehr oder weniger pickelig in den Gesichtern und mühsam um einen kühnen, oder wie sie wahrscheinlich sagen würden, coolen Blick ringend, gaben sie vor, Männer zu sein. Alles wirkte ein bisschen wie ein Wiener Opernball für Arme.
„Da vorne ist Thorben!“ Emma zeigte auf eine Gruppe von Jungen, die aussahen wie geklont. Einer davon musste Emmas Tanzpartner sein.
„Bitte Papa, nur kurz Guten Tag sagen und dann gehst du mit Mama sofort an den Elterntisch, ja?“ Flehender Blick.
Ich wollte antworten, kam aber nicht dazu.
„Natürlich macht Papa das“, verkündete meine Gattin entschieden. Ich nickte ergeben, es schien Emma allerdings nicht besonders zu beruhigen.
„Hi, alles klar?“ Einer der jungen Klone, vermutlich Thorben, küsste meine errötende Tochter erstaunlich galant auf die Wange und überreichte ihr einen Blumenstrauß. Lieblos zusammengesteckte Biomasse, die ich nicht mal meiner Schwiegermutter zum achtzigsten Geburtstag schenken würde. Emma bedankte sich, als habe sie etwas unglaublich Originelles bekommen. Dabei hielten alle Mädchen ein solches Ungetüm in den Händen, es schien hauptsächlich aus Trockenblumen, altem Dörrobst und undefinierbaren, vermutlich allergenen Gräsern zu bestehen. Irgendwann unter Kaiser Wilhelm musste die Entwicklung der Blumenbindekunst zum Erliegen gekommen sein. Thorben bedankte sich artig für die Konfektschachtel, hätte ihr aber für meinen Geschmack ruhig mehr Beachtung schenken können, schließlich handelte es sich um eine nicht ganz billige Trüffelauswahl.
„Das ist Thorben, seine Eltern, mein Vater, meine Mutter.“
Emma war angespannt, als einfühlsamer Vater riskierte ich zur Auflockerung einen Scherz. „Nein, nein, ich bin Emmas Mutter und das ist ihr Vater.“
Ich zeigte grinsend auf Elsa, Stöhnen und Augenverdrehen bei ihr und Emma, ich ließ mich jedoch nicht entmutigen.
„Du bist also das Tanzwunder? Emma hat viel von dir erzählt. Wisst ihr eigentlich, wie zu meiner Zeit ein Tanzkurs ablief?“
„Nein Papa, das will auch niemand wissen, geh bitte an den Elterntisch!“
Sie war nun nicht mehr angespannt, sondern verärgert. Immerhin hatte ich einen Stimmungswechsel bewirkt, aber Elsa trat mir dennoch kräftig auf den Fuß, ich hatte verstanden. Es gelang mir gerade noch „Dann viel Spaß, Kinder, und bis gleich!“, zu rufen, ehe sie mich in den Ballsaal zu unserem Tisch zog.
„Reiß dich zusammen, Hagen!“, zischte meine Gattin, bevor wir uns setzten und auf den Einzug der Gladiatoren warteten. Die Tanz-Eleven sollten nämlich vor den stolzen Augen ihrer Erziehungsberechtigten in langer Reihe in den Saal defilieren.
„Liebe Eltern, Freunde und Verwandte, es ist soweit, auf diesen Abend haben Sie sicher schon lange gewartet!“
„Ich nicht“, flüsterte ich einem neben mir sitzenden Vater zu, „oder hatten Sie Lust auf diese Veranstaltung? Tanzschule ist doch nichts anderes als die gesellschaftliche Domestizierung der Jugend, finden Sie nicht?“
Er taxierte mich mit einem abschätzigen Blick und rückte von mir ab. „Ignorant“, dachte ich und lauschte weiter Herrn Lobsang, dem Tanzlehrer. Er war in meinem Alter, mit einem tadellosen Körper gesegnet, kein Gramm Fett zu viel, und in einen eleganten Smoking gehüllt. Dazu trug er ein rotes Seidentuch in der Sakkotasche und trippelte vor dem Mikrofon wie ein nervöses Rennpferd hin und her.