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Elternabend

Neulich lud die Schule wieder zum Elternabend, es ging um die Klasse unserer Mittleren. „Geh du bitte“, bat ich Elsa, „heute ist mein Skatabend.“

„Oh nein, Schatz, das ist deine Aufgabe, ich habe an meiner eigenen Schule schon genug Elternabende.“

Sie blieb unerbittlich, seufzend ergab ich mich meinem Schicksal. Im besten Falle lösen Elternversammlungen bei mir große Müdigkeit aus, manchmal sogar Melancholie, dann quält mich die Frage, warum ich soviel meiner Lebenszeit sinnlos vergeuden muss. In besonderer Weise sind mir Elterndiskussionen über die Höhe des Taschengeldes bei Klassenfahrten verhasst. Ich ertrage sie nur, indem ich in eine Art Wachkoma verfalle. Es geht zwar nie um große Summen, aber Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst sind dagegen eine Spaßveranstaltung. Erbittert wird um jeden Euro mehr oder weniger gerungen, selbstverständlich pädagogisch immer auf der Basis neuester Ratgeberliteratur. Sich gegenseitig zum Duell aufzufordern, wäre einfacher und effektiver. Ich würde mich gerne als Sekundant zur Verfügung stellen, allerdings fehlt es den Streitern für richtige Erziehung an Satisfaktionsfähigkeit.

Manchmal kommt mir sogar der Verdacht, Elternabende werden nur veranstaltet, um den Erziehungsberechtigten vorzugaukeln, dass sie etwas mitentscheiden könnten: Demokratie im Klassenzimmer ist machbar, Herr Nachbar. Über dreißig Kinder in einer Klasse? Bis weit in den Nachmittag Unterricht? Turbogymnasium? Klausuren ohne Ende? Schulstress? Warum sich mit solchen Nichtigkeiten beschäftigen, wenn es um Taschengeldfragen geht!

Ich betrat als Letzter den Klassenraum. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich neben Frau Winkelstein zu setzen, der Mutter von Carlotta-Sophie, Gretas spezieller Freundin. Carlotta-Sophie weiß alles besser, besitzt, so meint unsere Tochter, einen sehr eigenwilligen Humor und vor allem mehr als sonderbare Angewohnheiten. Kürzlich berichtete Greta am Mittagstisch, Carlotta-Sophie bohre, wenn sie sich unbeobachtet wähne, ausgiebig in der Nase und führe den geförderten Rohstoff nach kurzer Betrachtung wieder ihrem Verdauungsapparat zu. Wir baten Greta auf weitere Einzelheiten zu verzichten, konnten jedoch verstehen, dass Carlotta-Sophies Umgang mit getrockneten Körperflüssigkeiten sich massiv auf die Konzentrationsfähigkeit unseres Kindes auswirkte.

„Guten Abend, Herr Hagemann.“ Frau Winkelstein beugte dezent ihren Kopf, der von einer blonden Turmfrisur gekrönt wurde. Mit huldvollem Lächeln überließ sie mir den Platz an ihrer Seite, und ich ließ mich, innerlich mein Schicksal verfluchend, auf dem Schülerstuhl nieder. Sofort hatte ich das Gefühl, um Jahre zurückversetzt zu werden.

Ich war wieder in der 7a, saß neben der blödesten Ziege der Klasse, musste aufpassen und brav zum Lehrer schauen. Nur bei ihm spiele die Musik, behauptete mein damaliger Mathematiklehrer immer. Herr Oppeln-Möhlmann sah ihm ähnlich. Vielleicht war Gretas Klassenlehrer sogar ein netter und verträglicher Mensch, aber in meiner Fantasie verwandelte er sich in Dr. Holzner. Ich hasse ihn bis heute, Mathematik ist mir dank seiner pädagogischen Feinfühligkeit für immer ein Rätsel geblieben.

Herr Oppeln-Möhlmann eröffnete den Elternabend. „Es ist acht Uhr, ich denke, wir fangen dann mal an. Mein Name ist Sigurd Oppeln-Möhlmann, ich bin der Klassenlehrer Ihrer Kinder.“

Jetzt hieß es aufpassen, der Lehrer sprach, wer jetzt noch schwätzte, zog sich seinen mahnenden Blick zu.

„Ich denke, ich fang dann mal an!“

Wie oft hatte ich Lehrer diesen Satz schon zur Eröffnung eines Elternabends sagen hören, sicher gab es dazu eine bindende Verordnung des Kultusministeriums. Dazu dieses verlegene, infantile Grinsen, das scherzhafte „Hallo, jetzt müssen Sie aber aufpassen!", wenn man ihnen nicht sofort die gebührende Aufmerksamkeit schenkte. Wann verstehen Lehrer endlich, dass es auch Menschen gibt, die keine Schüler sind? Ich war auf Betriebstemperatur, noch bevor der Elternabend richtig begonnen hatte. Irgendetwas war anders als sonst, ich empfand weder Müdigkeit noch Melancholie, stattdessen ein beinahe triebhaftes Verlangen, mich unbeliebt zu machen.

„Ein netter Mensch, der Herr Oppeln-Möhlmann“, flüsterte mir Frau Winkelstein zu.

„Diese Einschätzung haben Sie exklusiv“, giftete ich. Sie zuckte mit den Augenbrauen. Dr. Holzner verwandelte sich wieder in Gretas Klassenlehrer, auf meine Betriebstemperatur blieb dies leider ohne kühlenden Einfluss.

„Herr Franzen hat als Elternsprecher um diesen Termin gebeten“, erläuterte er.

„In der Tat. Ich habe in Absprache mit meiner Stellvertreterin den Punkt Unterrichtsausfall auf die Tagesordnung gesetzt“, begann Herr Franzen. „Wir sind empört über die vielen Fehlstunden in Mathematik und Latein“, ereiferte er sich. „Wie sollen unsere Kinder so das Abitur schaffen?“

Gretas Klassenlehrer bemühte sich, die Gründe zu erklären und murmelte etwas von Krankheiten, Fortbildungen und Belastungen der Lehrkräfte. Frau Winkelstein hing an seinen Lippen.

„Ich mag die Art, wie er redet, er ist sicher ein hervorragender Pädagoge“, seufzte sie.

Meine Betriebstemperatur stieg weiter, in meinem Kopf arbeitete es. „Sei vorsichtig, verscherze es dir nicht mit Greta, beleidige nicht ihren Lehrer, bleibe diplomatisch“, ermahnte mich eine innere Stimme.

Doch unaufhaltsam erwachte der Neandertaler in mir, seine Stimme klang gemein und böse: „Zeig es ihnen, lass diese Winkelsteinschnepfe auflaufen, hau den Lehrer mitsamt seiner beschissenen Schule in die Pfanne!“

Ich ahnte, wenn ich mich jetzt einmischte, würde der Elternabend in einer Katastrophe enden. Bösen Geistern gleich bemächtigten sich die Demütigungen der eigenen Schulzeit jedoch zunehmend meiner Sinne, die Zeit für Rücksichtnahme und Diplomatie war vorbei, Gretas Schule sollte büßen. Kontrollverlust, Sigmund Freud hatte recht. Mein Finger schnellte hoch, während ich mich wieder an Frau Winkelstein wandte.

„Ihre Begeisterung für diesen Herrn kann ich überhaupt nicht teilen! Ihnen empfehle ich übrigens, sich mit den skurrilen Ernährungsgewohnheiten Ihrer Tochter zu befassen!“, zischte ich. Sie schreckte zusammen, ging aber sofort zum Gegenangriff über.

„Was wollen Sie damit sagen, Sie unverschämter Flegel?“, geiferte sie. Ich staunte, wie schnell sich schleimige Vertrautheit in gefährliche Bissigkeit verwandeln konnte, mir war es recht.

„Ihre Tochter popelt in der Nase“, hielt ich ihr triumphierend entgegen. „Darüber könnte man vielleicht noch hinwegsehen, aber dass sie die Ergebnisse ihrer Ausgrabungen in aller Öffentlichkeit verspeist, ist unzumutbar!“

Frau Winkelsteins Gesichtszüge erstarrten, ein Anblick, der mich ergötzte.

„Herr Hagemann, Sie haben eine Frage?“, lächelte Herr Oppeln-Möhlmann, denn ich streckte noch immer meinen Finger in die Höhe.

„Nein, ich habe keine Frage. Wenn es sie glücklich macht, kann ich Ihnen aber gerne eine stellen“, polterte ich los. „Sie, Herr Franzen, beklagen den Unterrichtsausfall, Herr Oppeln-Möhlmann entschuldigt sich, sagen wir höflich, mit lächerlichen Begründungen, ich frage also: Ist es zumutbar, ein Gebäude mit Asphalthof und hohen Zäunen wie Guantanamo light so viele Stunden des Tages zum Aufenthaltsort unserer Kinder zu machen? Sollen wir sie in eine Schule schicken, die so baufällig und ungepflegt ist wie eine verkommene Mietskaserne in der Südbronx? Wie lange noch müssen unsere Kinder sich in der Mittagspause wie ausgehungerte Herdentiere am Schulzaun drängen, um die vom Pizzaservice georderten Kartons mit den fettigen Sattmachern in Empfang zu nehmen? Warum werden sie überhaupt bis in die späten Nachmittagsstunden gefangen gehalten? Ich behaupte, Schüler lernen trotz Schule, aber nicht wegen ihr. Sollte Unterricht nicht eine menschenwürdige Veranstaltung sein oder sind Schüler keine Menschen? Jede ausgefallene Stunde ist ein Gewinn für unsere Kinder, je weniger Zeit sie in diesem Bildungsknast verbringen, desto besser! Ich schreib es an jede Wand, neue Schulen braucht das Land! Falls Sie schon mal etwas von Ina Deter gehört haben!“

Mit rollenden Augen und Schaum vor dem Mund suchte ich Blickkontakt zu meinen Zuhörern, aber sie wichen mir aus, peinlich berührt sahen sie aus dem Fenster oder ins Leere. Frau Winkelstein schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, zornbebend schnellte sie hoch. „Mit dieser Turmfrisur eine wackere Leistung“, schoss es mir durch den Kopf.

„Wenn der Herr Hagemann meint, er habe die Weisheit mit Löffeln gefressen, wenn er meint, er könne uns hier als Rabeneltern hinstellen, ist er schiefgewickelt. Sie, mein Herr, übertreiben maßlos. Sie wollen ein verantwortungsvoller Vater sein? Es geht Ihnen doch nur darum, an Herrn Oppeln-Möhlmann und uns ihr Mütchen zu kühlen, aber wir lassen uns von Ihnen nicht wie Deppen behandeln. Ich fordere sie auf, den Klassenraum zu verlassen, ihr Verhalten ist eines Vaters unwürdig! Was glauben Sie, was Ihre Tochter über Sie denken wird?“

Auch sie konnte mit den Augen rollen, und Schaum vor dem Mund sah nicht wirklich vorteilhaft aus. Wenn ich ehrlich sein soll, nötigte mir ihr Frontalangriff sogar Respekt ab, während der laue Herr Oppeln-Möhlmann sich beinahe hinter seinem Lehrerpult zu verstecken schien.

„Ich, ich … glaube, auf diesem Niveau sollten wir nicht diskutieren“, stotterte er.

„Wenn Sie das Gackern von Frau Winkelstein niveauvoll finden, bitte schön“, schleuderte ich ihm entgegen, „ich jedenfalls habe hier nichts mehr verloren. Gleich morgen werde ich meine Tochter von dieser Anstalt abmelden, darauf können Sie Gift nehmen!“

Empört schnaufend sprang ich auf und rauschte aus dem Klassenraum. Die kühle Luft auf dem Schulhof tat mir gut, langsam bekam ich wieder Kontakt zur Realität, mir dämmerte, was ich angerichtet hatte. Noch am gleichen Abend verlangte Elsa, mich bei Carlotta-Sophies Mutter und Herrn Oppeln-Möhlmann zu entschuldigen. Greta sprach drei Wochen nicht mehr mit mir, die Schule besuchte sie natürlich weiter. Vorläufig war ich von allen Elternabenden befreit, immerhin.

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