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Das individuelle Urbild

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Es geschieht immer mit einer gewissen Scheu, wenn man sich über den geistigen Wesenskern eines Menschen äußert. Es geht um sein »Höheres Ich« oder »Höheres Selbst«, sein Urbild. Es ist das Individuellste an einem Menschen und damit das Intimste.

Wenn ein Mensch aus der Not, der Krise, aus dem Scheitern sich zu dem wesenhaften Kern seiner selbst durchringt, so ist das immer ein bewegendes Ereignis. Dieses auf den Weg zu bringen und versuchsweise zu begleiten, ist der wesentliche Inhalt der Biographieberatung. Natürlich geschah schon immer und geschieht dieser Durchbruch auch ohne solche Hilfe. Jemand ringt sich zu einer schweren Entscheidung durch, und es ist, als käme da einer in einem erhöhten Sinne nach Hause – zu sich selbst. Er selbst mag es so erleben, als habe da schon jemand auf ihn gewartet. Und in der Tat: Er selbst, sein Urbild hat da schon auf ihn gewartet, zu dem er sich gerade erst durchgerungen hat, zu dem er sich gerade erst aufgerichtet hat. Und er empfindet: Jetzt erst bin ich Ich.

Wenigstens ahnungsweise weiß oder empfindet jeder Mensch, dass es eine »normale«, das heißt überwiegende Zeit im Vordergrund stehende Seite seiner selbst gibt und eine erhöhte Seite, die sich nur in Momenten des Übergangs, des Aufraffens vergegenwärtigt.

Worum handelt es sich bei dieser erhöhten Seite, dem Urbild, und worum handelt es sich bei dieser alltäglicheren Seite eines Menschen? Zunächst einmal bin ich natürlich das, was ich und andere tagtäglich an mir erleben, was ich von mir weiß, was ich an mir kenne. Diese Seite des Menschen kann man das Alltags-Ich nennen. Es erkennt sich in der Erinnerung. Dass ich weiß, wovon ich geprägt bin, dass ich mich von meinen Eltern, dem elterlichen Milieu herleite; dass ich die Vorzüge und die Schattenseiten meines Temperaments kenne; dass ich in mir das gleiche Holz erkenne, aus dem alle Menschen der Gegend, aus der ich stamme, geschnitzt sind; dass ich weiß, was mir sympathisch ist, was unsympathisch; dass ich meine Vorlieben und Abneigungen kenne; dass ich meine Gewohnheiten und Sicherheiten habe; dass ich vermeide, was mir Unsicherheit bedeuten würde; dass ich meine Überzeugungen und politischen Meinungen habe – all das ist mein Alltags-Ich. Wenn mich jemand fragt, wer ich bin, wenn ich mich jemandem beim Kennenlernen vorstellen will, dann erzähle ich ihm davon.

Nun hat das vorangehende Kapitel gezeigt, dass dies – entgegen dem alltäglichen Anschein – noch nicht alles sein kann, was einen Menschen ausmacht. Es war zu sehen, dass besonders in Situationen der Krise, des Übergangs noch etwas anderes aufscheint. Die Krise, so wurde dargelegt, besteht ja eben darin, dass das Alltags-Ich nicht mehr weiterhilft. Es greift nicht mehr, was es sich bis dahin erworben oder was es als Grundausstattung mitgebracht hat: Fähigkeiten, Erfahrungen, Eigenschaften. Der Entwicklungsschritt, der nun ansteht, kommt nicht aus dem Alltags-Ich.

Das Alltags-Ich kann auch logischerweise nicht der Entwicklungsmotor sein. Biographie wäre dann nämlich nur die ständige lineare Fortschreibung dessen, was es bereits von sich kennt. Sie wäre eine Fortschreibung des Gewordenen. Das Alltags-Ich, das sich nur aus der Erinnerung kennt, besteht aus Gewordenem, aus Elementen also, die ihre Entwicklung schon hinter sich haben. Der Entwicklungsschritt besteht aber darin, dass jetzt, indem es sich aufrichtet, etwas qualitativ Neues in das Leben kommt. Der Entwicklungsschritt geht über das Gewordene hinaus.

Um es, der Deutlichkeit wegen, etwas schärfer auszudrücken: Das Alltags-Ich ist Gewordenes, Geronnenes, es ist immer gekennzeichnet durch ein Element der Erstarrung. Was früher vielleicht errungen und erobert werden musste, ganz individuell von mir, das ist jetzt, da ich es errungen habe und zu meinem Inventar zähle, typisch geworden, typenhaft. Es ist eine Art Maske, deren Wesen es ist, das Individuelle zu verbergen. »Persona« heißt im Lateinischen »Maske«. Das Wort leitet sich her von »personare«: hindurch-tönen. Also meine Persona, mein Alltags-Ich, das ist die typische Seite an mir. Dahinter gibt es noch eine individuelle Seite, die in Momenten des Übergangs durch mein Alltags-Ich hindurchtönt.

Das Wesen des Alltags-Ich ist Beharrung, Verbleiben bei dem, was man von sich kennt. Das Wesen des Höheren Ich ist die Wandlung. Das Höhere Ich weiß um alle Sinnmöglichkeiten, die sich in meinem diesmaligen Erdenleben vergegenwärtigen könnten. Es hält den roten Faden – tatsächlich sind es immer mehrere rote Fäden – meines Lebens in der Hand, es kennt meine Geburtsimpulse und Lebensaufgaben, für die ich angetreten bin. Das Höhere Ich ist der Geistkern, der von Erdenleben zu Erdenleben wandert, jedesmal verändert und bereichert um die Erfahrungen, die eine bestimmte Individualität in einem Erdenleben mit sich gemacht hat und deren Quintessenz nun weitergetragen wird in den Ansatz eines erneuten Erdenlebens.

Das Höhere Ich ist die einzige Instanz im Menschen, deren Wesen Vorausblick, Vorangehen und Suche nach weiterführender Wandlung ist. So ist dieser innerste Kern, obwohl nie so direkt anschaubar und zugänglich wie das Alltags-Ich, der natürliche Verbündete des Beratenden in der Biographieberatung.

Unter den anderen Instanzen bewegt sich das Gefühl in der Sphäre des Reagierens und kommt insofern immer hinterher. Auch da, wo es um das Fühlen von Zukünftigem geht, um Vorausahnung, Befürchtung und Angst, auch Vorfreude, sind wir in der Sphäre des Reagierens: Das Gefühl braucht einen vorgängigen Inhalt – der auch nur vorgestellt sein kann –, auf den es antworten kann. Darin liegt nichts Verkehrtes, aber auch nichts Richtung-Gebendes.

Und dann die Gewohnheiten im Tun und Denken: Sie leben erst recht aus der Vergangenheit. Man tut oder denkt etwas, weil man schon lange so tut und denkt und weil es sich bewährt hat. Auch diese Ebene im Menschen sucht das Neue nicht. Sie sucht das Geregelte, Feste, allgemein Anerkannte und persönlich Bewährte.

Schließlich die physische Seite des Menschen: Sie in eine Wandlung hineinzunehmen, ist das Schwierigste. Manchmal erlebt man es: Jemand blüht körperlich auf in einer neuen Begegnung; jemand verjüngt sich über seine seelische Bewegung hinaus bis ins Leibliche, weil er geliebt wird. Aber auch in dieser Situation geht die Wandlung nicht von der Ebene des Physischen aus.

Es ist nur das Höhere Ich, das die Wandlung sucht und sie auch impulsieren kann. Nur das Höhere Ich sucht die Zukunft. Mit ihm zunehmend – wenn auch nie endgültig, so doch annäherungsweise – in Übereinstimmung zu kommen, könnte ein Sinn unseres Lebens sein.

Dadurch, dass uns ein Höheres Ich gegeben ist, sind wir immer mehr, als wir leben. Das Höhere Ich enthält immer wesentlich mehr Möglichkeiten, als wir verwirklichen. So hat jedes Menschenleben eine unabschließbare Tendenz. Es trägt einen »Überschuss« in sich, Möglichkeiten, die nie Gegenwart werden, eine Größe, die real oft nicht erreicht wird. Daraus ergibt sich die wesenhafte Zukunftsorientiertheit eines jeden Schicksals und jeder Schicksalssituation. Da ist immer etwas, das ich noch nicht bin.

Üblicherweise ist dieses Urbild wie verstellt durch das Alltags-Ich. Es gibt aber ein klares Unterscheidungskriterium, mit dem wir zumindest nachträglich versuchen können auseinanderzuhalten, was Alltagsseite und was wesenhafte Seite an einem Menschen ist: Was zum Höheren Ich gehört, wandelt sich. Was in die Sphäre des Urbildes rückt, wird den Impuls haben, sich zu wandeln. Aus jugendlichem Zorn wird beim Erwachsenen Milde. Was zum Alltags-Ich gehört, hat die Neigung zu bleiben und sich zu verhärten, ja unter Umständen auch zu karikieren. Der jugendliche Zorn wird beim Erwachsenen Hass. Etwas ist vom Höheren Ich ergriffen, wenn es in die wandelnde Tat hineingenommen wird.

Damit hängt ein zweites Unterscheidungskriterium zwischen Alltags-Ich und Höherem Ich zusammen: Die Wandlung ist nicht einfach Veränderung. Der jugendliche Zorn wurde unter mancherlei und großer Anstrengung, in Selbstüberwindung und in vielen Momenten des Aufraffens und der Selbsterkenntnis zur Milde gewandelt. Es wird nicht einfach nur so, von allein, etwas anderes daraus. Das Neue, das aus dem Alten entsteht, ist immer errungen.

Dagegen ist Merkmal des Alltags-Ich entweder die Beharrung bis zur seelischen Sklerose oder die beliebig erscheinende Veränderung: Heute studiere ich Kunst; letztes Jahr war ich auf dem Erzieherseminar; nächste Jahr mache ich eine Weltreise, und danach werde ich Mutter einer zahlreichen Kinderschar sein. – Auch das ist Alltags-Ich, denn die Veränderungen sind nicht errungen, sondern ausgedacht oder herbeigefühlt. Dahinter ist wieder die Neigung zum Beharren des Alltags-Ichs zu erkennen: Ich will bei meinem Selbstbild (beim künstlerischen Menschen mit tausend Möglichkeiten) bleiben. Würde ich mich auf nur eine der vielen Situationen, die ich für mich für möglich halte, einlassen, bestünde die Gefahr, dass ich meine Grenzen, meine Begrenztheit kennenlernte. Und das erst wäre, in diesem Zusammenhang, der Beginn einer eigentlichen Wandlung.

Die Biographieberatung erstrebt eine Art Imagination des Höheren Ichs des Ratsuchenden. Diese wird so nie Wirklichkeit werden, aber sie wird die Wirklichkeit immer mehr in ihren gestaltenden Griff nehmen können. Das Höhere Ich ist ein Tatwesen. Es sucht nie die Sicherheit und Gewöhnung, sondern die wandelnde Tat. Und darin liegt die Chance der Biographieberatung, die im vorangegangenen Kapitel als eine Art Entwicklungshilfe beschrieben wurde. Der zu Beratende wird zu immer sehr einfachen Wandlung freisetzenden Taten angestiftet: Gewohnheiten vorübergehend ändern, Unsicherheiten gezielt aufsuchen, die Dinge unter neuer Perspektive anschauen und dergleichen mehr.

Das Höhere Ich kann man inhaltlich nicht so bestimmen, wie man das Alltags-Ich eines Menschen bestimmen und beschreiben kann. Sein Wesen ist Aufbruch. In gewisser Weise gibt es das Höhere Ich jetzt noch gar nicht. Es ist immer das, worauf das Schicksal erst hinauswill. Das Höhere Ich hat nicht Eigenschaften, die man etwa irgendwie psychologisch messen könnte. Seine Substanz ist Aufbruch.

Wie aber kann man dann versuchen, sich ein Bild vom Höheren Ich eines Menschen zu machen?

Wir erkennen den Wesenskern eines Menschen an seinem Werden, an seinen zu Neuem aufbrechenden – inneren oder äußeren – Taten. Was wagt er? Was lebt in ihm über das hinaus, was er geworden ist und schon kann? Das Höhere Ich kann man, um es etwas pointiert auszudrücken, geradezu als das Gegenteil dessen bezeichnen, was jemand schon geworden ist. Ein erstes Bild entsteht deshalb näherungsweise, indem man das, was jemand ist, was man als sein Alltags-Ich kennt, umdreht. Denn das Geistige ist in gewisser Weise immer eine Art Umkehrung dessen, was irdisch-sinnlich erscheint.1 Ist also jemand in seinem Alltags-Ich zum Beispiel sanguinisch bis chaotisch, dann kann sein Urbild damit zu tun haben, dass er sich das Gegenteil – hier also Klarheit, Systematik und Verbindlichkeit – dazu zu erarbeiten sucht, um vollständig zu werden.

So zu sprechen, heißt nicht, das Alltags-Ich gering zu achten. Das Alltags-Ich ist notwendig wie der physische Leib; es ist eine Art Kleidung für das Höhere Ich. Es kann überzeugend und schön sein, wie ein Leib, wie die Kleidung überzeugend und schön sein können. Das Höhere Ich kann gar nicht in reiner Form auf Erden anwesend sein. Und es würde diesen Zustand auch nicht wollen. Das verwirklichte Höhere Ich als irdische Situation wäre sinnlos.

Es hängt mit diesem »Prinzip des Gegenteils« zusammen, des »Umdrehens«, dass die Krise genau die Lebenssituation ist, in der etwas vom Höheren Ich hindurchtönt. Wenn das Alltags-Ich nicht mehr trägt – in der aufgelassenen Situation, in der vom Alltags-Ich nicht mehr strukturierbaren Situation, im Chaos –, dann kann das Element des Geistigen, hier in der Gestalt des Höheren Ich, in das Irdische hineinwirken. Das Geistige kann da ansetzen, wo eine irdische Ordnung aufbricht, eine Struktur zerfällt, etwas Gewohntes nicht mehr gilt. Wenn wir uns ihm nähern, uns eine Vorstellung vom Urbild des anderen machen wollen, so ist es sinnvoll, die Krisen und Umbrüche seines Lebens anzuschauen: Womit haben sie begonnen? Worin bestand die Ohnmacht? Und was hat der Betreffende daraus gemacht? – Eine alte Ordnung zerbricht. Für einen Moment ist alles offen. Dadurch werden die Verhältnisse berührbar für eine neue Ordnung, die etwas qualitativ Neues, eigentlich Gegenteiliges hereinbringt. Dazwischen liegt die Grenzsituation. Wenn ein Mensch in großer innerer Not ist, oder wenn man ihn sehr liebt, kann man etwas davon sehen, worauf es mit ihm hinaus will – in Grenzsituationen, in der Liebe. Und der Betroffene selbst – auch er wird wohl erst in Grenzsituationen, in Situationen der Liebe und im Tod seines eigenen Urbildes ansichtig werden.

Um sich die zentrale Bedeutung des Höheren Ich für den inneren Zusammenhang einer Biographie vor Augen zu führen, ist es sinnvoll, zu einer Modellvorstellung zu greifen, wie sie sich aus dem anthroposophischen Menschenbild ergibt: Das Höhere Ich ist nicht in der Weise im Menschen anwesend, wie es die Gewohnheiten, die Gefühle, das Denken, überhaupt das Alltags-Ich sind. Vielmehr strahlt es eher in den Menschen ein, von außen – von oben, wenn man so will. Es besteht also eine gewisse Distanz zwischen dem Ich, das sich im Alltag als solches erlebt, und dem geistigen Wesenskern des Menschen. Diese Distanz kann variieren. So ist sie gering in den beschriebenen Momenten des Übergangs und Sich-Aufraffens, und sie ist größer in Momenten, die auch in der Psychologie und Psychopathologie als »Ich-Störung« beschrieben werden: im exzessiven Alkoholgenuss, in der Geistesverwirrtheit. Auch in Schockmomenten kann sich das Höhere Ich gegenüber dem Alltags-Ich »lockern«. Außerdem kann diese Distanz auch von Person zu Person variieren; der eine ist seinem Urbild näher, der andere ferner.

Auf diesen Umstand, dass das Höhere Ich von außen in den Menschen einstrahlt, ist seine dreifache Wirkungsweise zurückzuführen:

1. Das Höhere Ich erscheint als Entwicklungsimpuls im Willensleben des Menschen.

2. Indem es von außen oder oben seine Impulse ausstrahlt, werden auch die Menschen, die sich im Umfeld bewegen und entfalten, und die Lebensumstände von dem persönlichen Höheren Ich erfasst. Es erscheint dann als von außen, durch andere Menschen oder bestimmte Lebensumstände zukommendes Schicksal, als mich-berührendes Handeln anderer, als Gelegenheit, als Zufall.

3. Schließlich strahlt das Höhere Ich von Anfang an in den Menschen ein. Deshalb gestaltet sich seine Leiblichkeit von der Zeugung an nicht nur nach dem Erbstrom, sondern auch nach den Gesichtspunkten des Höheren Ich.

Diese drei Wirkungsebenen des Höheren Ich sind noch zu erläutern.7

1. Das Höhere Ich als Entwicklungsimpuls in der Beobachtung des eigenen Seelenlebens: Dieser Gesichtspunkt ist mit Vorsicht zu handhaben. Nicht alles, was Impuls ist, ist schon eine Äußerung des Höheren Ich. Impulse aus dem Höheren Ich gehen immer auf Wandlung und damit auf Verzicht von Sicherheiten und Gewohnheiten. Impulse, die aus dem geistigen Wesenskern kommen, bringen, wenn sie in die Tat umgesetzt werden, immer die Notwendigkeit eines Verzichts mit sich.

Der Impuls, heute ins Freibad zu gehen, ist noch kein Impuls des Höheren Ich. Wünsche solcher Art sind normal und notwendig. Ihre Verwirklichung befriedigt das Alltags-Ich. Impulse aus dem Urbild dagegen sind unbequem für das Alltags-Ich, verlangen Einsatz und Überwindung und führen, wenn sie verwirklicht werden, zu einer auch als solcher empfundenen Vervollständigung der Person.

Wünsche aus dem Alltags-Ich drängen auf Wiederholung: Es war letzten Sonntag so gemütlich im Freibad, also möchte ich diesen Sonntag wieder hin. Impulse aus dem Urbild aber bringen immer eine neue Qualität und verlieren ihre voranbringende Kraft, wenn sie wiederholt werden. Niemand wiederholt so etwas. Es handelt sich um den einmalig als notwendig erkannten Schritt, seine Durchführung und das darauf folgende Empfinden, einen Schritt in Richtung Ganzheit gemacht zu haben. Er ist nicht beliebig wiederholbar, weil diese Dinge in die gesamten Lebensumstände so eingebettet sind, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt als notwendig erkannt werden – und dann auch in die Tat umgesetzt werden müssen.

Während man die Realisierung von Wünschen verschieben kann, kann man die neue Tat nicht verschieben: Wenn es heute nicht reicht ins Freibad, gehe ich eben morgen. Habe ich aber einmal die Notwendigkeit erkannt, einen Dauerstreit mit einem Nachbarn zu beenden, weil mir mein eigener Anteil daran deutlich geworden ist, so kann ich das nicht verschieben. Der Urbild-Impuls entfaltet seine Kraft im Moment des Auftretens und verliert sie, wenn ich lieber erst noch dieses und jenes erledige. Für den Phlegmatiker kann der Impuls, Fechten zu lernen, das heißt, sich in zielgerichteter, kontrollierter und geistesgegenwärtiger Aggression einzuüben, aus seinem Urbild kommen – ein solcher übender Umgang mit sich selbst würde ihn vervollständigen, das heißt dazu beitragen, dass er ganz auf die Erde kommt. Und wenn er die Einsicht einmal hat, wird er sich sogleich anmelden. Der Impuls aus dem Höheren Ich, der im Bewusstsein als willensbetonte Einsicht erscheint, richtet sich immer auf etwas Ungeahntes, etwas nicht Selbstverständliches, auf etwas, das einem eigentlich, das heißt vom Alltags-Ich her gesehen, gar nicht liegt, das man aber als notwendige Ergänzung der eigenen Person erkannt hat.

Im künstlerischen Schaffen ist man den Impulsen des eigenen Urbildes in besonderer Weise nahe. Der Künstler bemüht sich nicht primär um das, was er kann, sondern um das, was er noch nicht kann. Sein Ringen um Ausdruck ist immer eine Suche nach Steigerung und Verwesentlichung. Er will über das hinaus, was er schon gemacht hat. Damit stellt er sein Werk und seinen Lebensgang in besonderer Weise unter die Gestaltungsmacht seines Urbildes.2

2. Indem mein Höheres Ich auch auf die menschlichen und zwischenmenschlichen Zusammenhänge meiner Umgebung einstrahlt und offenbar auch in die äußeren Abläufe, kommt es mir als mein Schicksal von außen entgegen. Ereignisse, bestimmte Konstellationen, das Verhalten anderer Menschen mir gegenüber – all dies enthält auch Aufgaben, Herausforderungen und Impulse für mich. Eine andere Frage ist es, ob ich das erkenne und aufgreife. Wenn ich es nicht aufgreife, bleibt das, was um mich herum geschieht, Zufall. Wenn ich es erkenne und aufgreife, dann lasse ich es mir zufallen und nehme es als meines an.

Auch hier muss man nicht in schlechthin allem, was einem begegnet, das eigene Höhere Ich am Walten sehen. Man entwickelt seine diesbezügliche Wahrnehmungsfähigkeit am besten, wenn man sich in die Haltung einer Bereitschaft, sich von menschlichen Ereignissen und sachlichen Abläufen etwas sagen zu lassen, begibt. Es sind vor allem die Situationen und Schicksalsumstände, an denen ich mich stoße, die ich nicht ohne weiteres meistere, die ich vielleicht sogar loshaben möchte, in denen sich etwas von meinem geistigen Wesenskern ausspricht.

Und es spricht sich das Höhere Ich immer als Aufforderung aus. Angenommen, ich läge seit Jahren mit meinem Grundstücksnachbarn in einem erbitterten menschlichen und juristischen Streit, weil er nach meiner Meinung seinen Gartenzaun 5 cm zu weit auf mein Grundstück gesetzt hat. Ich kann nun sagen, das ist ein dummer Zufall, dass ich einen solchen Knülch als Nachbarn habe. Ich kann aber auch fragen: Welche Aufforderung liegt für mich in diesen Vorgängen? – statt nur den Blick darauf zu richten, was diese Vorgänge vielleicht über den Nachbarn aussagen. Was sagen sie für mich aus? – Und ich könnte, im Rahmen dieses Beispiels, vielleicht dahin gelangen zu erkennen, dass ich selbst in meinem Wesen dieses ausbreitende und raumgreifende Element habe, das mich hinsichtlich des Gartenzauns an meinem Nachbarn so nervt. In dieser Angelegenheit stoße ich mich also an einem Teil meines Alltags-Ich. Das so herbeigeführt zu haben, dass ich es nun hören kann – darin liegt ein Wirken meines Höheren Ich. Und ich kann nun prüfen, wo ich generell in den Willen anderer Menschen eingreife, und kann lernen, mehr auf die Belange derer zu achten, die mit mir zu tun haben, statt mich nur selbst faszinieren zu lassen von meinem eigenen starken Willensleben.

Aber es geht hier nicht um Zeichendeuterei. Schließlich ist nicht schlechthin alles, was passiert, eine Botschaft an mich. Im beschriebenen Sinne schicksalsverdächtig sind Umstände, die entweder eine entnervende Zähigkeit an den Tag legen – Monate und Jahre verfolgt mich das gleiche Ärgernis – oder sich hartnäckig wiederholen. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass ich die Aufforderung noch nicht verstanden habe. – Im Gartenzaun-Beispiel: Nach Jahren gebe ich auf, verkaufe Haus und Grund und baue woanders eine neue Existenz auf. Mit Sicherheit bricht nach kurzer Frist ein ähnlicher Streit los, diesmal um eine Garagenzufahrt.

»Das Schicksal« ist in solchen Dingen sehr geduldig. Es kann, wenn ich nicht »höre«, auch zehnmal solche Situationen herbeiführen – bis ich verstanden habe.

Insgesamt also führt das Höhere Ich Begegnungen herbei, Gelegenheiten, Umstände, innere und äußere Krisen. Natürlich sind diese Impulse auch verwoben mit den Bestrebungen der Höheren Iche anderer Menschen und eingebettet in übergeordnete Bestrebungen und Vorgänge. In Kapitel 7 soll dieser Aspekt ausführlicher dargestellt werden.

3. Das Höhere Ich spricht bereits zu dem gerade entstehenden, noch ungeborenen menschlichen Wesen. Es ist ein schönes Bild, dass die Haltung des Embryos im Mutterleib die Form eines Ohrs annimmt. Der werdende Mensch »hört« auf sein Höheres Ich, das dadurch an seiner Leiblichkeit mitbildet – längst bevor es auf die Seele, das Denken und Wollen des Betreffenden einwirken kann. Durch diesen Vorgang wird die physische Individualisierung erst möglich, denn die leibliche Grundausstattung ergibt sich ja aus dem Erbstrom. Am deutlichsten wird dies am Gesicht. Es ist der individuellste Teil der Leiblichkeit. Dass man ein Gesicht unter tausenden von Gesichtern wiedererkennt, obwohl es andererseits den Eltern und Geschwistern des Betreffenden ähnlich sein mag, ist Ausdruck dessen, dass das Gesicht ein absoluter Abdruck der Individualität ist.

Es ist anzunehmen, dass sich in weiterer Zukunft auch die übrigen Teile des Leibes immer stärker individualisieren werden. Je kräftiger das hereinstrahlende Ich ist, um so individueller kann die Leiblichkeit werden.3

Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob jemand dick oder dünn, groß oder klein ist; wie er in seinem Leib steckt, wie er sich des Leibes bedient, wie er sich mit ihm bewegt – darin liegt etwas von seinem Urbild. Es gibt deshalb auch das Erkennen der Individualität eines Menschen an seinem Leib. Im besonderen ist es – bei einem primär auf den Partner gerichteten Interesse – der Sexualität gegeben, in ihr ein Urbilderlebnis vom anderen haben zu können.

In dieser besonderen Nähe des Höheren Ich zur Leiblichkeit, zu ihrer Gestalt und ihren physiologischen Vorgängen, liegt auch die intime Verbindung mit ihrer Gesundheit und Krankheit. Tagsüber ist das Verhältnis zur Leiblichkeit stark vom Alltags-Ich, von der seelischen Befindlichkeit geprägt. Schon das kann sich, über die Brücke der Psychosomatik, körperlich auswirken. Aber nachts, im Schlaf, ist das Alltags-Ich abwesend, und dann kann das Höhere Ich den Leibesvorgängen Impulse geben, die über aktuelle Gestimmtheiten hinaus grundsätzliche Individualisierungsmöglichkeiten vermitteln.4 So sind zum Beispiel chronische Krankheiten oder langfristig sich anbahnende Krankheiten, aber auch Beeinträchtigungen durch Unfälle oder Überbelastung darauf zu befragen, ob sie Individualisierungsaufforderungen enthalten, die offenbar anders nicht gegeben werden konnten.

Das Höhere Ich steckt also voller Impulse, ist selbst Impuls. Seine Substanz ist Aufbruch. Andererseits ist deutlich, dass wir nur das wenigste davon verwirklichen. Auch daraus ergibt sich die These von den wiederholten Erdenleben: Die diesmal nicht verwirklichten Impulse und Entwicklungsmöglichkeiten bringt man das nächste Mal wieder mit, wahrscheinlich in etwas veränderter Form. So hat man die Entwicklungschancen auch über dieses Erdenleben hinaus. Welche Geduld des Schicksals!

Das Wesentliche unserer irdischen Existenz scheint sich aus dem ständigen Aufgespanntsein zwischen Geistnähe und Geistferne zu ergeben, zwischen Höherem Ich und Alltags-Ich. Liebe und Freiheit können sich wohl nur von da entfalten. Es wäre deshalb unangebracht, das Alltags-Ich etwa geringer zu achten als das Höhere Ich. Beide sind gleich notwendig.

Ich bin, was ich werden könnte

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