Читать книгу Ich bin, was ich werden könnte - Mathias Wais - Страница 21
7
Der Doppelgänger I Seine Entstehung
ОглавлениеDie Substanz des Doppelgängers ist unbewusste Gewohnheit, die unbemerkt entsteht, die sich einschleicht und unbemerkt auswirkt. Diese Art der Gewohnheit wirkt sich immer einengend, verhärtend, festlegend aus. Das können wir aus Distanz, als Unbeteiligte oder hinterher so bemerken. Was wir selbst erleben, wenn solche Gewohnheiten in unserem Denken und Tun am Werk sind, ist Sicherheit und Selbstverständlichkeit. Es ist oft sehr schwer, beratend einem Menschen erkennbar zu machen, wie sehr er eingeengt und festgelegt ist von Gewohnheiten des Denkens, Fühlens oder Handelns, die ihm – wie man sagt – in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Man sagt zu Recht: Die Gewohnheiten haben eine übergroße Neigung zur Verfestigung, zur Verhärtung, ja zum Erstarren. Es gibt bei jedem Menschen geradezu einen Leib aus Gewohnheiten. Er ist fast physisch. Man kann ihn in der Biographieberatung eigentlich nur anpacken, indem man Vorschläge macht, bestimmte Gewohnheiten vorübergehend, und sei es nur für zwei Wochen, zu ändern. Dann können Bewusstsein und Wille in eine Gewohnheit kommen, die sich vor Jahren eingeschlichen haben mag. Die bewusst und willentlich gesetzten Gewohnheiten befreien geradezu aus der Einengung durch die einschleichend entstandenen. Sie befreien an dieser Stelle vom Doppelgänger.
So sieht ein Lehrer, ein ganz harmonischer und gefühlvoller Mensch, sich zu Hause zunehmend in Konflikte zwischen der Tochter und seiner zweiten Frau hineingezogen. Jeden Tag, wenn er nach Hause kommt, hat es wieder Streit gegeben zwischen den beiden, und immer wieder übernimmt er die Position des Schiedsrichters und Schlichters. – Ihm wird in der Biographieberatung die Übung vorgeschlagen, möglichst genau, bevor er den Streit zu schlichten sucht, den Streitanlass zu erfragen und für sich kurz aufzuschreiben. Nach zwei Wochen mit dieser einfachen Übung wird ihm klar, was weder er noch die beiden streitenden Frauen bisher gesehen haben: Streitanlass war immer ein Satz, ein Einwurf von ihm am Vortag. So hat er zum Beispiel einmal einen Streit zu schlichten versucht, indem er unter anderem sagte, beide sollten doch am Nachmittag einmal etwas getrenntere Wege gehen – die Tochter, sie war siebzehn, sollte ihre Schularbeiten in ihrem Zimmer machen und die Frau im Garten arbeiten. Am nächsten Tag – er ist, wohlgemerkt, gar nicht anwesend – entsteht genau hierüber wieder ein Streit: Die Tochter geht gleich nach dem Essen in ihr Zimmer, die Stiefmutter rennt ihr hinterher und beschimpft sie, weil sie sich zurückziehe. – So stellt sich heraus, dass der gemeinsame Nenner der Konflikte zwischen Tochter und Stiefmutter er war. Er erkannte nun, dass er, vordergründig schlichtend, immer neuen Zündstoff in die Beziehung zwischen den beiden Frauen brachte. Und er erinnerte sich, dass es in ihm schon immer eine ungelebte Streitlust und Aufmüpfigkeit gab, die er aber in dem sehr harmonischen Elternhaus nie ausleben durfte, auch als Jugendlicher nicht. Er war es, der sich – unbewusst – die Gewohnheit gebildet hatte, Tochter und Ehefrau statt seiner zum Streit zu bringen.
Dieses Beispiel zeigt erstens, wie geschickt solche Inszenierungen des Doppelgängers sein können. Es zeigt zweitens, dass es nicht irgendwelche Gewohnheiten sind, die ein Eigenleben entwickeln und sich verfestigen, die man mit dem Doppelgänger in Verbindung bringt. Vielmehr handelt es sich um Gewohnheiten, die damit zu tun haben, dass man etwas meidet – eine Erkenntnis, eine negative Konsequenz, eine Selbsteinsicht et cetera. Besonders in der Kindheit und Jugend, wenn der Einfluss von erziehungsehrgeizigen Erwachsenen noch stark ist, aber auch im Erwachsenenleben ernährt sich der Doppelgänger von dem, was wir an uns nicht wahrhaben wollen oder dürfen.
Der Doppelgänger ernährt sich von dem, was das Ich nicht wahrhaben will, und kann es gerade deswegen zur unbemerkten Gewohnheit werden lassen. Erst dadurch bekommt er seine für jeden Menschen individuelle Gestalt. Im Laufe des Lebens zieht er alles an sich, was das Ich nicht wahrhaben will, was es meidet, was es verdrängt. Was vom Ich nicht durchdrungen ist, verselbständigt sich im Unbewussten. Seelenvorgänge, in denen das Ich nicht anwesend sein möchte, gerinnen, verhärten, werden Teil des Gewohnheitsleibes und damit verfügbar für den Doppelgänger. Auch mitgebrachte Prägungen wie die persönliche Temperamentsmischung werden als primäre Teile des Gewohnheitsleibes dann Nahrung für seine verfestigende Tendenz, wenn sie im weiteren Leben nicht vom bewussten Ich durchdrungen werden. So heftet sich der Doppelgänger an alles, was in der Versenkung verschwinden will, und er wird zum Gegenbild unseres Bewusstseins und bewussten Selbstbildes. Er ist ein Wesen, das seine Physiognomie aus unserer Selbsttäuschung gewinnt. Der Begriff »Schatten«, wie er in der Jungschen Psychologie verwendet wird, scheint hier zutreffend, weil der Doppelgänger tatsächlich darin lebt, dass das Licht unseres Bewusstseins nicht überall hinleuchtet. Sein Wesen liegt in der Verdichtung und Erstarrung von seelischen Vorgängen.
Von dieser Ebene aus kann der Doppelgänger Krankheiten bewirken. Das aus dem Bewusstsein abgespaltene Seelische wird verdichtet und in die biologischen Abläufe des Leibes eingearbeitet – ein Feld der Psychosomatik.
Der Doppelgänger wirkt sich in vielfältiger Weise aus. Fragt man, wie er eigentlich erlebt wird, ist zunächst zu sagen: gar nicht. Darin lebt er ja, dass er nicht direkt als solcher erlebt wird. Und gerade deswegen, weil er dieses Merkmal des Verborgenen besitzt, kann er so wirksam sein. Er versucht, in alles hineinzuschlüpfen, was vom bewussten Ich nicht durchdrungene Gewohnheit ist; daher führt die Tendenz der Gewohnheiten zur Verfestigung. Ferner lebt der Doppelgänger in den uns selbst ursprünglich unangenehmen Teilen unseres Temperaments, die wir in unser Selbstbild nicht aufnehmen wollen. Und er tobt sich besonders gern in Beziehungen und Partnerschaften aus, also gerade da, wo sich im Zwischenmenschlichen unbemerkt Gewohnheiten bilden. So kann, was man als störend am Partner erlebt, eine Wirkung des eigenen Doppelgängers sein. Man projiziert Aspekte des eigenen Doppelgängers auf den Partner – oder auf das eigene Kind, die Kollegin et cetera – und reagiert auf ihn genauso, wie man ursprünglich in sich selbst auf ihn reagiert hat: Man bekämpft ihn, hasst ihn, will ihn nur weg haben. So kommt es im Extremfall geradezu zu »Doppelgängerehen«: Zwei Menschen vertreten füreinander den Doppelgänger des anderen und bekämpfen sich deshalb jahrelang gegenseitig. Aber eigentlich bekämpfen sie sich selbst.
Solche Doppelgängerehen sind ohne fremde Hilfe meist nicht auflösbar. Man fragt sich, warum diese beiden Menschen sich nicht trennen, da sie sich doch nur noch hassen. Aber tatsächlich kann man sich ja von seinem Doppelgänger nicht trennen. Man braucht in einer solchen Konstellation den anderen als Leinwand für den eigenen Film. Die Beziehung zwischen zwei solchen Menschen verfestigt sich immer mehr. Der Gewohnheitsleib kann von sich aus den Griff nicht lockern. Man ist solange in diese Verhältnisse festgezurrt, wie man kein Bewusstsein in die tatsächlichen Zusammenhänge bringt. Das klar urteilende, nicht selbstbezogen urteilende Bewusstsein ist das einzige, was diesen erstarrenden Griff lockert.
Aber nicht nur in Beziehungen mit anderen, auch im Umgang mit sich selbst kann man das Wirken des Doppelgängers erleben. In allem, was ängstigt, seelisches Erleben angstvoll einengt, in allem Sicherheitsdenken liegt eine Wirkung des Doppelgängers. Auch in der Depression, im ständigen Kranksein kann er sich auswirken – er ist in allem, was uns, aus uns selbst heraus, systematisch einengt, und er hat eine besondere Nähe zur »kalten« Intelligenz. Das materialistische Denken, die mechanische Intelligenz sind besonders vom Doppelgänger geprägt. Das ist erkennbar an der Neigung der mechanischen Intelligenz zur Verfestigung, zum Sichern, zum Sicher-haben-Wollen, zum Sicher-wissen-Wollen, zur definitorischen Festlegung. Es geht hier um ein Denken, das abschließt, statt beweglich zu machen.
Es gibt aber auch noch direktere, dem Erlebnis nähere Wirkungen des Doppelgängers. Da er aber auch hier – mit einer Ausnahme, von der sogleich die Rede sein soll – als solcher nicht erkannt wird, sinkt er sofort wieder zurück in die indirekte Wirksamkeit, wie sie oben skizziert wurde. Der Doppelgänger nistet sich besonders in alles hinein, was vom bewussten Ich nicht durchdrungene Gewohnheit ist. In Situationen nun, in denen solche Gewohnheiten plötzlich nicht mehr greifen, plötzlich aussetzen, kann der Doppelgänger auf einmal wie entblößt vor uns stehen. Das ist dann ein Schreckerlebnis, als würde man wie ein Dieb auf frischer Tat ertappt.
Eine Angestellte geht mit einem Kollegen immer besonders harmonisch – man könnte auch pointierend sagen: süßlich – um, kritisiert an ihm aber ständig seine Aggressivität und seinen Zynismus. Eines Tages wird es dem Kollegen zu bunt, und er schleudert ihr entgegen: »Du bist ja selbst so destruktiv mit deiner Süßlichkeit.« In diesem Moment hat die Angestellte ein Erlebnis wie bei einem elektrischen Schlag. Sie spürt physisch, wie kurz, nur für einen Moment, sich etwas von ihr löst, und sie sieht, fast sinnlich wahrnehmbar, sich selbst in hässlicher, zynischer, aggressiver Fratze. Es ist ein Schock. Sie sieht auf einmal ihren Schatten und erlebt, wie dieser Schatten nach ihr greift. Möglicherweise erfasst sie, dass sie das selbst ist. Es kann aber auch beim Eindruck eines unbestimmt Dämonischen bleiben. Nach wenigen Sekunden ist das Erlebnis vorbei, und zurück bleibt eine tiefe Erschütterung und Verunsicherung.
Eine andere Situation, in der der Doppelgänger, wenn auch nicht so dramatisch und plötzlich, hervortritt, ist die Lebensmitte-Situation (siehe Kapitel 4). Sie ist ja dadurch charakterisiert, dass, was bislang selbstverständlich, sicher und gewohnt war, hinterfragt wird, dass sich Zweifel einschleichen, ob man sich eigentlich in dem, was man bisher gelebt hat und von sich kennt, schon erschöpft, oder ob man im Tiefsten vielleicht noch gar nicht vollständig ist. Und hier kann nun, mehr schleichend als plötzlich, wiederum der Doppelgänger vor das innere Auge treten: Die eigenen Versäumnisse werden zunehmend bewusst. Man sieht sich in immer klareren Umrissen von seiner Schattenseite. – Auch dies kann ein niederschmetterndes Erlebnis sein, das möglicherweise zu Depressionen und chronischen Krankheiten führt, wenn man sich nicht bewusst und gezielt damit auseinandersetzt.
Von diesem Beispiel aus ergibt sich ein Blick auf die eigentliche Funktion des Doppelgängers. Er hat die Funktion eines »Hüters der Schwelle«. Was in der Lebensmitte von allein geschieht, wird auf dem Schulungsweg, wenn man sich durch gezielte Selbsterziehung für das Geistige zu öffnen versucht, bewusst und mit Willen erreicht.13 Auf dem Schulungsweg nähert man sich bewusst dem eigenen Doppelgänger und setzt sich, wie es auch Aufgabe der Lebensmitte ist, willentlich mit ihm auseinander. Man erkennt ihn als solchen, man anerkennt, dass man auch diese hässliche Figur voll Selbsttäuschung und Versäumnisse ist, und anerkennt sie als Teil des eigenen Erdenwesens. Dies ist so eine Art Eintrittskarte in das Verstehen des Wirkens der geistigen Welt. – Und es mag einsichtig erscheinen, dass in diesem Zusammenhang vom »Hüter der Schwelle« gesprochen wird, denn die Anerkennung des Doppelgängers als Teil des eigenen Wesens macht den Menschen vollständig, und erst aufgrund dieser Vollständigkeit kann sich der Blick für das Wirken der geistigen Sphäre öffnen.
In der Lebensmitte ist es biographiegesetzliche Aufgabe, damit zu beginnen, sich auf sich selbst als geistiges Wesen zu begründen und von äußeren Sicherheiten frei zu machen. Aber dieser Zugang zum eigenen Höheren Ich ist bewacht von dem »Hüter der Schwelle«. Er steht an der Schwelle zwischen mir als irdischem, an äußeren Gegebenheiten haftendem Wesen und meinem geistigen Wesenskern. In dem Maße nun, wie an einer solchen Schwelle – es kann auf dem Schulungsweg, es kann in der Lebensmitte, es kann aber auch bei biographischen Brüchen sein, wenn plötzlich Gewohnheiten zusammenbrechen – der Doppelgänger mit der Bewusstheit erkannt und durchdrungen wird, die den ganz normalen Selbstbetrug abbaut, wandelt sich der Doppelgänger und wird Gewissen.
Offenbar steht in allen Kulturen, jeweils natürlich in anderem mythologischen Gewand, vor dem Eintritt in die geistige Welt ein Hüter. Er wacht darüber, dass ich die Selbsttäuschung ablege und nur als vollständiges Wesen, das sich in seiner Ohnmacht anerkennt, den Blick auf das Wirken der geistigen Welt lenke.
Der vollständige Eintritt in die geistige Welt ist der Tod. Kurz vor dem Tod löst sich der Doppelgänger vom Leib des Sterbenden. Der Doppelgänger, soweit er nicht von Bewusstheit durchdrungen und damit Gewissen geworden ist, kann nicht in die geistige Weit eintreten. Schon bei alten Menschen kann man manchmal erleben, wie der Doppelgänger sich zunehmend verselbständigt. Etwas Hässliches, Boshaftes gar, Erstarrtes ergreift dann immer mehr Besitz von Denken, Fühlen und Verhalten des betreffenden Menschen. Möglicherweise ist das besonders dann der Fall, wenn der Betroffene sich nie mit seinen Schattenseiten auseinandergesetzt hat. Man meint, hier eine Art letztes Aufbäumen des Doppelgängers vor sich zu haben. Und erst ganz kurz vor dem Eintritt des Todes, wenn der Betroffene es weiß und annimmt, dass er stirbt, erleben wir an dem Sterbenden etwas Ruhevolles, Friedevolles. Jetzt ist er wie erlöst von seinem Doppelgänger.
Und doch ist zu vermuten, dass auch der Sterbende ihn nicht eigentlich los wird. Denn schließlich dürften die Ziele und Aufgaben, die sich eine Individualität für ihren weiteren Erdengang stellt, gerade aus den Versäumnissen und Unvollständigkeiten des gehabten Erdengangs hervorgehen.