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Kapitel 1 Ein Rennen ist wie über glühende Kohlen zu laufen
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Ein Rennen ist wie über
glühende Kohlen zu laufen
BEI EINER PRESSEKONFERENZ einen Tag vor dem Chicago-Marathon 2010 gestand Titelverteidiger Sammy Wanjiru, dass er aktuell nur zu 75 Prozent fit sei. Er bluffte nicht. Drei Wochen zuvor hatte sich Sammy einen Magenvirus eingefangen, aufgrund dessen er einige Schlüsseleinheiten hatte ausfallen lassen müssen. Während er das Bett hütete, überlegte er, ob er Chicago absagen und stattdessen einen Monat später in New York starten sollte.
Wäre die Krankheit sein einziges Problem gewesen, hätte Sammy keinen so drastischen Schritt in Erwägung gezogen. Aber 2010 war insgesamt ein schweres Jahr für den 23-jährigen Helden aus Kenia gewesen. In der Vorbereitung auf den London-Marathon im April, bei dem er ebenfalls Titelverteidiger war, war Sammy gestolpert und hatte sich am rechten Knie verletzt. Er startete trotzdem, aber die Verletzung brach wieder auf und er musste nach 15 Kilometern aufgeben. Tsegaye Kebede aus Äthiopien gewann das Rennen.
Wenn Sammy einen Rivalen hatte, dann war es dieser Mann. Kebede war im Vorjahr beim London-Marathon Zweiter hinter Sammy geworden und holte sich Bronze, als Sammy bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking im Marathon Gold gewann. Kebede stand auf der Starterliste für den Chicago-Marathon 2010, und das könnte der Grund gewesen sein, warum Sammy sich gegen eine Absage entschied, obwohl er nicht ganz fit war. Die beiden Männer rangierten auf Platz eins und zwei in der World-Marathon-Majors-Serie, einem Zusammenschluss von Marathonveranstaltungen mit einer Auswertungsperiode von zwei Jahren und einem Preisgeld von einer halben Million US-Dollar für den Läufer, der in den teilnehmenden Rennen die meisten Punkte gesammelt hatte. Die Serie 2009–2010 sollte in New York enden. Keiner der anderen Mitbewerber um das Preisgeld würde dort jedoch starten, weshalb derjenige, der in Chicago zuerst ins Ziel käme – Sammy oder Kebede – das Ding nach Hause holen würde.
Nach seinem Ausstieg in London flog Sammy mit seinem Trainer Federico Rosa nach Italien, wo sein ramponiertes Gelenk intensiv behandelt wurde. Im Juni startete er bei einem Halbmarathon in Sizilien, aber das Knie machte noch immer Probleme und Sammy stieg erneut aus. Das nächste Rennen im Kalender war der Berlin-Marathon im September. Er sagte ab und konzentrierte sich stattdessen auf Chicago. Trotz der zusätzlichen vier Wochen Vorbereitungszeit durfte jetzt nichts mehr dazwischen kommen.
Aber es gab weitere Rückschläge. Als das Knie endlich geheilt war, fing Sammys unterer Rücken an zu mucken. Er trainierte trotz der Schmerzen, so gut er konnte, und war kurz davor, in Form zu kommen, als der Magenvirus zuschlug.
Während seiner Genesung wurde Sammy klar, dass er trotz der holprigen Vorbereitung an den Start gehen wollte, und wenn er nur verhinderte, dass Kebede die halbe Million Prämie kassierte. Sein Trainer Rosa stimmte der Entscheidung widerstrebend zu, bestand aber darauf, dass Sammy es verhalten angehen und hinter den Führenden bleiben sollte, um zu versuchen, das Rennen langsam zu halten, und das, was er an Kraftreserven hatte, für einen späten Angriff aufzuheben.
Vorsichtige Renntaktiken waren nicht Sammys Ding. Sein Rennstil ließ sich am besten mit brutal aggressiv beschreiben. Bei den Olympischen Spielen hatte er bereits von der Startlinie aus die erste Überraschungsattacke gesetzt. Olympische Marathons sind dafür bekannt, taktisch und eher langsam gelaufen zu werden, selbst wenn sie nicht in der Pekinger Sommerhitze bei 28 Grad Celsius stattfinden. Sammy brannte die ersten 1,5 Kilometer in 4:41 Minuten in den Asphalt – Weltrekordgeschwindigkeit. Nur 19 Läufer schafften es bis dahin, mit ihm mitzuhalten. Bei der 10-Kilometer-Marke war die Führungsgruppe auf acht Läufer geschrumpft. Sammy ließ nicht locker. Ein Verfolger nach dem anderen musste abreißen lassen. Er rannte die letzten paar Kilometer komplett allein, überquerte die Ziellinie in 2:06:39 Stunden und unterbot, nein, pulverisierte den bisherigen Weltrekord um fast drei Minuten. Einige Beobachter bezeichneten es als die größte Marathonvorstellung, die es jemals gegeben hat. Sammy war 21 Jahre alt.
Der 10. Oktober 2010 war kein heißer Tag in Chicago, aber es war warm. Die Temperatur war bereits auf 19 Grad geklettert, als das Rennen um 7.30 Uhr morgens startete. Sammy sortierte sich brav am Ende der Führungsgruppe ein. Shadrack Kosgei, einer von zwei angeworbenen Hasen, führte eine 12-köpfige Gruppe, die nur aus Afrikanern bestand, in 15:03 Minuten zu Kilometer 5 – eine eher moderate Geschwindigkeit. Kebede, in Purpur und Schwarz gekleidet, blieb in Sammys Nähe.
Federico Rosa, der das Rennen aus dem VIP-Fahrzeug an der Spitze des Feldes beobachtete, sah sofort, dass Sammy unruhig war. Der Olympia-Sieger mit der Zahnlücke war mit seinem kindlichen hüpfenden Schritt und den geraden, weit vom Körper abstehenden Armen und gespreizten Fingern, die auf Hüfthöhe in der Luft herumpendelten, in der Menge schnell auszumachen. Millimeterweise schob er sich nach vorn, erinnerte sich dann selbst an die Vorgabe und ließ sich unschuldig wieder zurückfallen.
Tu es nicht, dachte Rosa.
Es war umsonst. Nach 14 Kilometern zog Sammy davon. Er rannte an den Hasen vorbei und zog die Geschwindigkeit von 4:50 Minuten pro Meile auf 4:40 an. Alle außer einem Läufer in seiner Nähe gingen die Tempoverschärfung ohne große Mühe mit. Es war noch relativ früh im Rennen. Nur Robert Cheruiyot, der amtierende Sieger des Boston-Marathons geriet unter Druck. Er hing kurz am Ende der Gruppe, bevor er abreißen lassen musste.
Obwohl Sammy der Anstifter war, fühlte er sich nicht besser als der Mann, den er gerade aus der Spitzengruppe geschubst hatte. Angstschübe schossen durch seinen Körper, als er feststellte, dass seine Beine und sein Instinkt an diesem Tag nicht gleichgeschaltet waren. Der junge Kenianer reduzierte das Tempo und übergab die Kontrolle den Hasen. Die Geschwindigkeit fiel, und Cheruiyot kämpfte sich zurück in die Gruppe.
Kebede, der vielleicht die Schwäche seines Kontrahenten erkannt hatte, schob sich nun nach vorn. Er griff nicht sofort an, aber seine Gegner wussten, dass das nur eine Frage der Zeit sein würde. Der erste große Angriff kam bei Kilometer 29. Cheruiyot musste erneut abreißen lassen, diesmal endgültig. Dann begann das Gemetzel.
Bei Kilometer 32 schlug Kebede nochmals zu, und die Spitzengruppe flog sofort auseinander. Fünf der verbleibenden acht Läufer – darunter Vincent Kipruto mit einer Marathonbestzeit von 2:05 Stunden und Deriba Merga mit einer Halbmarathonbestzeit von 59 Minuten – verschwanden wie durch eine Falltür. Wusch! Weg waren sie.
Die einzigen Überlebenden waren Sammy und der 20-jährige Äthiopier Feyisa Lelisa, der im Frühjahr in Rotterdam 2:05:23 Stunden gelaufen war. Diese Männer verfolgten Kebede wie zu Evakuierende den letzten Zug, die Münder schmerzverzerrt. Im Gegensatz zum ersten Angriff hörte dieser nicht auf. Es hatte schon fast etwas von Hohn, wie der Äthiopier seine Verfolger mit versteinertem Gesichter hinter sich herzog und jeden noch so zaghaften Versuch einer Tempoverschärfung mit einer eigenen parierte, sodass der Abstand zwischen ihnen – etwa zwei Schritte – nicht kleiner wurde.
Als es auf Kilometer 37 zuging, bogen die drei Läufer, die nun wie an einer Perlenschnur aufgereiht hintereinander liefen, in einer scharfen Linkskurve von der Wentworth Avenue ab auf die 33rd Street. Sammy verlängerte seinen Schritt in einem verzweifelten Versuch, dranzubleiben. Er hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt und seine Schultern bis zu den Ohren hochgezogen, alles deutete auf eine unmittelbar bevorstehende Implosion hin. Er hatte den düsteren Ausdruck eine Kletterers, der an einem langsam reißenden Seil hängt. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf die knapp zwei Meter zwischen sich und Kebede gerichtet und in keinster Weise auf die noch fast fünf zu laufenden Kilometer bis ins Ziel. Alles hing ab vom Jetzt. Aber aus zwei Metern wurden vier Meter, aus vier Metern wurden sieben. Das Seil war gerissen. Sammy begann, die Hoffnung aufzugeben.
Auch Sammys zahlreiche Fans auf der ganzen Welt, die das Rennen live im Fernsehen oder im Internet verfolgten, gaben die Hoffnung langsam auf. Einige von denjenigen, die in interaktiven Foren unterwegs waren, während sie zuschauten, erklärten das Rennen zu diesem Zeitpunkt für zu Ende und beklagten sich über mangelnden Kampfgeist des Kenianers, der völlig untypisch für ihn war.
»Kebede gewinnt … verdammt!«, schrieb ein enttäuschter Wanjiru-Fan auf letsrun.com.
Man kann den Zuschauern nicht vorwerfen, dass sie Sammy so schnell abschrieben. Schließlich laufen Kenianer nicht »für sich« oder »machen ihr eigenes Rennen« wie Läufer aus anderen Nationen. Diese Ansätze kennen sie nicht. Wenn ein kenianischer Läufer bei einem Rennen antritt, um zu gewinnen, übernimmt er entweder die Führung oder bleibt so lange er nur irgendwie kann bei demjenigen, der führt. Er wird jede Tempoverschärfung mitgehen, egal wie nahe er schon an seinem Limit läuft. Sogar wenn es mit ziemlicher Sicherheit bedeutet, dass er explodiert, auf den letzten zehn Kilometern fünf Minuten verliert und auf den achten Platz durchgereicht wird, er wird es tun. Denn wenn du nicht gewinnen kannst, kannst du auch gleich Achter werden.
Von einem amerikanischen Läufer, der 5 Kilometer vor der Ziellinie 20 Meter hinter einem immer stärker werdenden Führenden herläuft, könnte man denken, er teilt sich seine Kraft clever ein. Aber Sammy war Kenianer, und dass er nicht aufschloss, konnte nur eins heißen: Er hatte keine Kraft mehr, die er sich einteilen konnte.
Sammy wusste das besser als jeder andere. Als Kebede sich immer weiter von ihm absetzte, wanderten die Gedanken des Olympia-Siegers zu dem Mann drei Schritte hinter ihm. Sein Ziel wechselte abrupt davon, das Rennen (und einen dicken Scheck) gewinnen zu wollen, dahin, den zweiten Platz zu halten und das immer noch üppige Preisgeld zu bekommen, das es dafür gab. Aber genau in diesem Augenblick wurde Kebede etwas langsamer. Sammy konnte die atemberaubende Geschwindigkeit von Kebede nicht halten, aber der Äthiopier selbst konnte es auch nicht. Davon ermutigt suchte Sammy in sich nach dem Willen, die Lücke zu schließen – und fand ihn. Lelisa schloss ebenfalls auf. Sie waren wieder zu dritt.
Aber nicht lange. Weil Kebede wusste, wie viel Selbstbewusstsein Sammy daraus zog, zu führen, erhöhte er das Tempo und zwang seinen Rivalen zurück in seinen Schatten. Lelisa musste endgültig abreißen lassen. Ein intensiver Willenskampf tobte nun zwischen den beiden alten Gegnern. Sammy war entschlossen, die Führung zu übernehmen, und sei es nur ein Zentimeter. Kebede war entschlossen, Sammy diesen Zentimeter nicht zu überlassen. Sammy schaffte es trotzdem, sich einen minimalen Vorsprung zu erkämpfen. Er konnte ihn genau zwei Sekunden lang halten, bevor Kebede wieder aufholte. Auf den nächsten 400 Metern rannten die beiden Kontrahenten Ellbogen an Ellbogen, mit synchron rotierenden Schultern und wippenden Köpfe.
Beide Männer litten nun sichtlich, aber die Aura der Kontrolle waberte noch immer um den Äthiopier herum. Als sie an der Zeitnahme bei Kilometer 40 vorbeikamen, lag Kebede einen Schritt vor Sammy, also machte er Druck. Innerhalb von Sekunden war Sammy wieder 20 Meter abgeschlagen, im freien Fall. Seine Hoffnungen sanken auf ein neues Tief.
Aber dann sah er etwas: Kebede schaute sich immer wieder um. Nicht einmal, nicht zweimal – dreimal. Jedes Mal blickte er über die linke Schulter. Sammy wechselte sachte auf die rechte Straßenseite. Als Kebede sich wieder umsah, war Sammy nicht mehr zu sehen.
Im Glauben, ihm endlich den Gnadenstoß versetzt zu haben, wurde Kebede etwas langsamer. Sammy nicht. Er kämpfte sich noch einmal an seinen Rivalen heran. Als es noch etwa 1,5 Kilometer bis ins Ziel waren, begann Kebede Zurufe der Zuschauer zu hören, kurz nachdem er sie passiert hatte. Er blickte über seine rechte Schulter – und da war Sammy. Kebede richtete seinen Blick wieder nach vorn, nahm sein Kinn herunter und bereitete sich darauf vor, den Willen des Kenianers zu brechen. Einen Augenblick später schoss Sammy an seiner linken Schulter vorbei.
Der Herausforderer reagierte schnell und parierte Sammys Beinahe-Sprint. Trotz der Rafinesse war Sammys Plan nicht aufgegangen. Er hatte keine Wahl und musste das Tempo verlangsamen. Umgehend startete Kebede den Gegenangriff und zeigte sich damit ebenso gewieft. Irgendwie wurde der holprige Schritt des Äthiopiers wieder geschmeidig. Er flog die Michigan Avenue hinunter mit dem Vertrauen eines Mannes, der wusste, dass er die letzte Kugel seines Kontrahenten abgefangen und überlebt hatte. Sammy lag plötzlich drei Schritte zurück. Diesmal schien es – endlich – vorbei.
Es war nicht vorbei. Ohne jegliche Kraftreserven in den Beinen ruderte Sammy wild mit den Armen, als ob er sie benutzen wollte, um seine ausgelaugten unteren Extremitäten damit auf Touren zu bringen. Es sah nicht schön aus, aber es funktionierte. Er holte auf. Kebede fühlte ihn, blickte sich um und sah seinen bereits dreimal gestorbenen Gegner wieder auferstanden und auf seinen Fersen. Kebede gab gerade noch rechtzeitig Gas, um Sammy einen halben Schritt hinter sich zu halten. Für den Bruchteil einer Sekunde schien die Zeit still zu stehen, Sammy eingefroren einen Hauch entfernt von Kebedes Schulter. Sammys unfokussierter Blick ließ darauf schließen, dass er innerlich rechnete. Im nächsten Moment peitschte Sammy seinen Körper zu einem ausgewachsenen Sprint – die Art von absoluter, keine Reserven schonender Anstrengung, die niemand länger als zehn oder zwölf Sekunden aushalten kann, nicht einmal mit ausgeruhten Beinen. Es war verrückt. Aber Kebede sah das nicht so. Auch er sprintete. Die beiden Männer rannten volles Tempo, Hüfte an Hüfte, als ob sie nur noch Meter von der Ziellinie entfernt wären – es war tatsächlich noch gut einen Kilometer zu laufen.
Sammy Wanjirus Fans auf der ganzen Welt schrien vor ihren Fernsehapparaten und Computermonitoren. Toni Reavis, einer der Sprecher, die die Fernsehübertragung vor Ort kommentierten, hatte sich schon heiser geschrien.
Diese Situation konnte nicht andauern und das tat sie auch nicht. Als der selbstmörderische Sprint langsam auslief, lag Kebede wieder in Führung. Trotz Sammys unvorstellbarer Willensstärke war es bei jedem Schritt klar, dass Kebede der Stärkere war. Kebede hielt die Führung, als die Läufer die vorletzte Kurve des Rennens, eine Rechtskurve auf die Roosevelt Road, nahmen.
Es gibt nur einen Hügel im Chicago-Marathon und der ist genau an dieser Stelle, knapp vor Kilometer 42. Vor dem Rennen hatten Sammy und sein Trainer beschlossen, dass Sammy hier seinen Angriff starten sollte, wenn sich die Möglichkeit ergab. Rosa hatte nicht erwartet, dass sie sich ergeben würde. Im Stillen hatte er schon beschlossen, dass angesichts der Umstände selbst ein dritter Platz noch hervorragend wäre.
Sammy lief auf den ersten zehn Metern des steilen Anstiegs hinter Kebede her. Er nutzte die Gunst, unsichtbar zu sein, und katapultierte seinen geschundenen Körper in einen letzten Sprint. Er schoss rechts an Kebede vorbei. Kebede konterte mit allem, was er hatte, aber konnte der Kraft seines Kontrahenten nicht standhalten. Mit einem grauenvollen Ausdruck in den Augen, der diese Kraft Lügen strafte, schaute sich Sammy verstohlen dreimal kurz um, bevor er sich von Kebede absetzte, der bereits aufgegeben hatte. Sammy kam 19 Sekunden vor dem zerstörten Äthiopier ins Ziel und kollabierte auf dem Bürgersteig wie ein Schlachtopfer.
»ES WAR DIE GRÖSSTE Überraschung, die ich je erlebt habe«, gestand Federico Rosa später den Reportern.
Was Rosa im Gegensatz zum Publikum wusste: Die Knieverletzung und der Magenvirus waren die geringsten Probleme, die Sammy zu lösen hatte, um seinen Titel in Chicago zu verteidigen. Das größere Problem war sein selbstzerstörerischer Lebensstil, dem er verfallen war, nachdem sein Olympia-Sieg ihn zu einer kleinen Gottheit und einem echten Milliardär in seinem Heimatland gemacht hatte. Noch im Juni hatte Sammy jede Nacht getrunken, und wenn er sich körperlich betätigte, dann meistens im Bett irgendwelcher Groupies. Im Juli lag Sammy knapp fünf Kilo über seinem Wettkampfgewicht. Im August war er noch nicht in der Lage, mit schwächeren Läufern im Training mitzuhalten. Im September sagte Sammys Trainer in Kenia, Claudio Berardelli, zu Rosa, dass Sammy den Chicago-Marathon nicht zu Ende bringen würde, falls er dumm genug sein sollte, überhaupt anzutreten.
Wie schaffte es Sammy also, dass er das Rennen nicht nur beendete, sondern sogar gewann? Carey Pinkowski, der Rennleiter des Chicago-Marathons, hatte eine Theorie.
»Sammy hat heute sein Herz bewiesen«, sagte er bei der Pressekonferenz nach dem Rennen.
Im Sport ist »Herz« eine Metapher für mentale Fitness. Pinkowskis Theorie war, dass Sammy seine physische Schwäche durch psychische Stärke überwand. So muss es gewesen sein. Wäre das Rennen wie ein Boxkampf gewertet worden, hätte Kebede jede Runde gewonnen, außer der, die zählte, die letzte, in der Sammy ihn mit einem Schlag k. o. gehauen hatte. In vergangenen Marathonduellen mit ähnlicher Dynamik hatte der Läufer, der an Kebedes Stelle war – also derjenige, der in besserer Verfassung zu sein schien und die Attacken der anderen schneller parierte – immer gewonnen. Es war für jeden sachkundigen Beobachter klar, dass Sammy näher am Limit seiner körperliche Fähigkeiten war als Kebede.
Die physiologischen Faktoren, die die Leistung in einem Marathon limitieren, sind bekannt. Einer dieser Faktoren ist die Entleerung der Glykogenspeicher der arbeitenden Muskulatur. Wenn Pinkowskis Theorie richtig war, hätte eine Gewebeprobe aus der Beinmuskulatur von Sammy und Kebede im Ziel niedrigere Glykogenwerte beim Sieger ergeben.
Ist das möglich? Kann der schwächere, stärker ermüdete Mann wirklich ein so hart umkämpftes Rennen, bei dem mit so hohem Einsatz gelaufen wurde, gewinnen? Bis vor Kurzem noch hätten Sportwissenschaftler gesagt, dass der physisch schwächere Athlet seinen stärkeren Rivalen nicht allein durch die Fähigkeit höherer mentaler Fitness besiegen könne. Von den 1920ern bis in die 1990er-Jahre wurde das Gebiet der Sportwissenschaft von einem streng biologischen Modell der Ausdauerleistung dominiert, das Kopf und Gehirn komplett aus den Betrachtungen ausschloss. Diesem Modell zufolge wird die Ausdauerleistung einzig durch die Physiologie unterhalb des Halses bestimmt und von harten Restriktionen begrenzt, wie der maximalen Geschwindigkeit, die ein Läufer über eine bestimmte Strecke halten kann, bevor die Glykogenspeicher leer sind.
Ein neueres Modell der Ausdauerleistung bezieht den Körper und den Kopf, beziehungsweise das Gehirn, mit ein. Diese alternative Theorie wurde von seinem ursprünglichen Entwickler, Samuele Marcora, das »Psychobiologische Modell« genannt. Diesem Modell zufolge findet Erschöpfung während eines echten Ausdauerwettkampfs nicht dann statt, wenn der Körper eine harte physische Grenze, zum Beispiel vollkommen leere Glykogenspeicher, erreicht, sondern wenn der Athlet das Maximum an wahrgenommener Anstrengung fühlt, das er willens oder in der Lage ist zu ertragen. Harte physikalische Grenzen existieren natürlich, aber kein Athlet erreicht sie jemals, weil er immer erst an das rein psychologische Limit der wahrgenommenen Anstrengungstoleranz kommt. Dass man scheinbar zwangsläufig irgendwann langsamer wird, wenn man ermüdet, ist kein mechanistisches Phänomen wie bei einem Auto, wenn das Benzin ausgeht, sondern eines des Willens.
Beweise dafür, dass Athleten immer eine physische Reserve haben, wenn sie den Erschöpfungspunkt erreichen, liefern verschiedene Studien. Darunter einige, bei denen die Probanden gebeten wurden, bis zur Erschöpfung zu trainieren, anschließend wurden ihre Muskeln elektrisch stimuliert, um zu testen, ob sie hätten weitermachen können, wenn die Athleten willens gewesen wären, sie zum Weitermachen zu bringen – und jedes Mal kam heraus, dass sie hätten weitermachen können.
Das soll heißen: Anstrengungswahrnehmung ist, wie hart sich eine Belastung für einen Athleten anfühlt. Sie unterscheidet sich von Schmerz, Ermüdung, Propriozeption und anderen Wahrnehmungen, die Athleten während eines Rennens spüren, und sie ist die wichtigste Quelle von Unwohlsein, die dazu führt, dass Athleten langsamer werden oder aufgeben, wenn sie im Wettkampf den Mann mit dem Hammer treffen. Athleten nennen dieses Gefühl für gewöhnlich »Ermüdung«, aber Ermüdung ist eine andere Wahrnehmung und viel schwächer als Anstrengung. Wenn man die Ziellinie eines harten Wettkampfs erreicht und anhält, fühlt man sich sofort viel besser, selbst, wenn das Anhalten keinen unmittelbaren Effekt auf das Ermüdungslevel hat. Warum fühlt man sich besser? Weil die Anstrengung aufgehört hat.
Wenn Sie ein Gefühl dafür bekommen möchten, wie sich ein hohes Maß wahrgenommener Anstrengung isoliert von Ermüdung anfühlt, suchen Sie sich einen steilen Hügel. Wärmen Sie sich auf und rennen Sie anschließend so schnell Sie können den Anstieg hinauf. Dieses Gefühl, am Anschlag zu sein, das sofort, früher als die Ermüdung, einsetzt, ist das Gefühl eines hohen Maßes wahrgenommener Anstrengung.
Vergleichen Sie nun die Situation, die ersten Meter eines Vollgas-Bergaufsprints hinter sich gebracht zu haben, mit der Situation, noch 1,5 Kilometer von der Ziellinie eines Marathons entfernt zu sein. Diese beiden Erlebnisse unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Beim Bergaufsprint sind Ihre Muskeln angestrengt, aber schmerzen nicht, wohingegen im Marathon Ihre Muskeln eher schmerzen als angestrengt sind. Aber etwas ist bei beiden gleich: ein mächtiges Gefühl generellen Widerstands gegen Ihren Willen, sich zu bewegen, ein Gefühl, am Limit zu sein, das nirgends und gleichzeitig überall in Ihrem Körper ist (an sich so ähnlich wie Ermüdung, wenn man sie während einer Ruhephase fühlt, zum Beispiel, wenn man Grippe hat). Wenn man Sie in beiden Situationen fragen würde, wie sehr Sie sich anstrengen, würden Sie vermutlich sagen: »So sehr wie ich kann!« – und in beiden Fällen das Gleiche meinen.
Was sich die letzten 1,5 Kilometer eines Marathons genauso hart anfühlen lässt wie die ersten drei oder vier Schritte eines kurzen Bergaufsprints, ist der Effekt, den die Ermüdung auf die Angstrengungswahrnehmung hat. Die Neurophysiologie der Anstrengungswahrnehmung ist komplex und noch nicht gänzlich erforscht, aber sie scheint eng mit der Aktivitätsintensität bestimmter Hirnareale zusammenzuhängen, die für die Muskelkontraktion zuständig sind. Diese Hirnareale sind von Beginn an eines Vollgas-Bergaufsprints äußerst aktiv, sodass sich die Anstrengung sofort sehr hoch anfühlt. Dieselben Hirnareale sind auf den ersten Kilometern eines Marathons viel weniger aktiv, aber sie werden mit wachsender Renndauer immer aktiver, die Muskulatur ermüdet, reagiert also immer weniger auf das Peitschenschwingen des Gehirns, was wiederum das Gehirn zwingt, härter zu arbeiten, um die gleiche Leistung aus den Muskeln zu bekommen.
Es gibt aber einen Trick. Das Gehirn selbst wird während einer langen Belastung auch müde, und ein müdes Gehirn nimmt die Anstrengung als größer wahr. Samuele Marcora bewies dies in einer Studie, die im Jahr 2009 im Journal of Applied Physiology veröffentlicht wurde, und in der er die Gehirne seiner Probanden ermüdete, bevor er sie einen Ausdauertest absolvieren ließ. Die Probanden bewerteten die wahrgenommene Anstrengung als höher und brachen früher ab, als wenn sie den gleichen Ausdauertest ohne vorherige Gehirnermüdung absolvierten. Ich habe Ausdauersport als Spiel von Kopf über Körper bezeichnet, aber es wäre wohl treffender, es ein Spiel von Geist über Gehirn und Muskulatur zu nennen.
Die Tatsache, dass Anstrengungswahrnehmung im Gehirn entsteht und nicht im Körper, erklärt, warum es eine lange Liste an Faktoren gibt, die die Ausdauerleistung verbessern, ohne dass man die physischen Fähigkeiten verbessert. Wenn ich Sie bitten würde, ein simuliertes Zeitfahren über 15 Kilometer auf einem Standrad zu absolvieren, und das Gleiche nochmals fünf Tage später verlangte, nachdem Sie Koffein zu sich genommen haben, würden Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit beim zweiten Zeitfahren besser abschneiden. Wenn ich Sie bitten würde, in 30 Minuten so weit zu rennen, wie Sie können, und fünf Tage später wieder das Gleiche verlangte, während Sie schnelle Musik hören, würden Sie erneut beim zweiten Test besser abschneiden. Und wenn ich Sie bitten würde, so schnell wie möglich 700 Kilokalorien auf einem Ruderergometer zu verbrennen, und fünf Tage später wieder das Gleiche von Ihnen verlangte, nachdem Inselrinde und Temporallappen Ihres Gehirns elektrisch stimuliert wurden, würden Sie ebenfalls sehr wahrscheinlich beim zweiten Mal besser abschneiden.
Koffein, Musik und transkranielle Elektrostimulation konservieren weder Glykogen, noch neutralisieren sie Laktat oder erhöhen die physischen Fähigkeiten in irgendeiner Weise. Dennoch erhöhen sie die Ausdauerleistung tatsächlich. Sie beeinflussen das Gehirn, nicht die Muskulatur, und wirken, indem sie die Rennintensität sich leichter anfühlen lassen. Wenn Radfahren, Laufen oder Rudern in Rennintensität sich leichter anfühlt, können Athleten näher an ihre wahre physische Grenze kommen, bevor ihre maximale Leidenstoleranz erreicht ist. Aber selbst wenn Sie vor einem Ausdauertest Koffein genommen und eine Elektrostimulation für Ihr Gehirn bekommen hätten und Sie während des Tests Ihrer liebsten hochenergetischen Musik lauschten, würden Sie dennoch nicht 100 Prozent Ihres physischen Potenzials umsetzen können. Egal was Sie tun, Sie werden immer eine physische Reserve am Ende eines jeden Rennens oder Zeitfahrens haben, das länger als 30 Sekunden dauert. Die 30-Sekunden-Grenze werde ich in Kapitel 3 erklären.
Obwohl kein Athlet jemals sein absolutes physisches Limit in einem Wettkampf erreicht, kommen manche Athleten ihm näher als andere. Ein Athlet, der nur ein wenig näher an sein physisches Limit gehen kann im Vergleich zu einem anderen Athleten, der etwas stärker ist, könnte diesen in einem Kopf-an-Kopf-Rennen besiegen.
Es gibt zwei Arten, ein Rennen zu gewinnen. Man kann gewinnen, indem man die besseren physischen Fähigkeiten mit in den Wettkampf bringt, oder man kann gewinnen, indem man mehr aus etwas geringeren physischen Fähigkeiten herausholt. Nur sehr selten haben siegreiche Ausdauersportler ihren Erfolg ihren physischen Fähigkeiten zu verdanken. Viel öfter beharren sie darauf, dass ihr Vorteil nicht darin begründet liegt, mehr leisten zu können, sondern mehr von dem nutzen zu können, was sie zu leisten fähig sind. Frühere Generationen von Sportwissenschaftlern haben solche Aussagen als Wunschdenken abgetan. Aber das Psychobiologische Modell der Ausdauerleistung schenkt der Weisheit der Sieger Glauben und geht davon aus, dass die Fähigkeit seine physischen Fähigkeiten anzusteuern ebenso wichtig ist wie die physischen Fähigkeiten selbst.
Ein Rennen ist wie über glühende Kohlen zu laufen. Wenn der Wettkampf beginnt, stehen Sie vor einem Feld glühender Kohlen, an dessen anderem Ende eine Wand in die Höhe ragt. Die Wand symbolisiert Ihr ultimatives physisches Limit. Sie werden es nie erreichen. Ihr Ziel ist es lediglich, so nah an die Wand heranzukommen wie möglich, weil sie eine bessere Leistung bringen, je näher Sie ihr kommen. Mit fortschreitender Renndauer sinken Ihre nackten Füße immer wieder in die glühend heißen Kohlen ein. Jeder Schritt wird schmerzhafter als der vorige. (Vergessen Sie nicht: Schmerz ist etwas anderes als Anstrengungswahrnehmung. Dies ist eine Metapher.) Schließlich erreichen Sie das Limit Ihrer Schmerztoleranz und Sie sind gezwungen, aus der glühenden Kohle zu springen und das Feld zu verlassen. Der Abstand zwischen diesem Punkt und der Wand ist der Maßstab, welche Leistung Sie in Relation zu Ihrem vollen Potenzial erbracht haben.
Ihre physische Fitness bestimmt, wo die Wand steht, die Ihr physisches Limit symbolisiert. Ihre mentale Fitness bestimmt, wie nah Sie im Wetttkampf an dieses Limit herankommen können. Mentale Fitness ist eine Ansammlung von Bewältigungsstrategien – Verhalten, Gedanken und Emotionen, die Athleten dabei hilft, das Unwohlsein und den Stress einer sportlichen Erfahrung zu meistern: Indem sie die Toleranz für die wahrgenommene Anstrengung erhöht und die Höhe der Anstrengung, die bei jeder beliebigen Belastungsintensität wahrgenommen wird, verringert. Das, was ich die neue Psychologie des Ausdauersports nenne, zielt darauf ab, die mentale Fitness zu kultivieren. Und zwar indem sie den Athleten hilft, die Herausforderungen, denen sie aus psychobiologischer Perspektive gegenüberstehen, zu verstehen, und ihnen zu zeigen, wie sie die Taktiken der erfolgreichsten Athleten nachahmen können, um mit diesen Herausforderungen umzugehen.
Die neue Psychologie des Ausdauersports kann keine komplette Klassifizierung effektiver Bewältigungsstrategien für Ausdauersportler bieten. Jede Verhaltensweise, jeder Gedanke und jede Emotion, die es einem Athleten ermöglicht, bessere Leistung zu bringen, qualifiziert sich als effektive Bewältigungsstrategie. Das ist eine sehr lange – und tatsächlich endlose – Liste. Es gibt jedoch eine Handvoll herausstechender Bewältigungsstrategien, auf die die erfolgreichsten Wettkämpfer durchweg vertrauen, um die größten Herausforderungen, denen sich Ausdauersportler stellen müssen, zu meistern. Diese Strategien und Herausforderungen stehen im Fokus der folgenden Kapitel.
Wir wissen, dass körperliche Fitness nur zu einem Teil durch Training entsteht – der Rest liegt in den Genen. Sammy Wanjiru hat hart trainiert, um fit genug dafür zu werden, Marathons zu gewinnen, aber dank seiner Genstruktur war er ohne Training schon fitter, als die meisten Läufer selbst mit dem härtesten Training je sein werden. Mentale Fitness ist ebenfalls teils angeboren. Einige Athleten sind von Natur aus darauf konditioniert, über heiße Kohlen zu gehen. Sammy Wanjiru war einer von ihnen. Er hatte die angeborene Fähigkeit, mit einer enormen Menge wahrgenommener Anstrengung umzugehen. Diese Fähigkeit scheint in jeder Faser seiner Persönlichkeit verwoben zu sein.
Sammy hatte auch eine rücksichtslose Seite. Sie zeigte sich im Alltag, als er beispielsweise seine Frau mit einem AK-47-Sturmgewehr bedrohte oder – nur sieben Monate nach dem Chicago-Marathon 2010 – betrunken von einem Balkon zu Tode stürzte. Er zeigte dieselbe Rücksichtslosigkeit auf der Rennstrecke, als er an einem heißen Tag die ersten 1,5 Kilometer des Olympia-Marathons in 4:41 Minuten rannte. Es war diese fest verankerte Rücksichtslosigkeit, die Sammy mental fitter machte als andere Läufer mit ähnlich viel Talent.
Aus psychologischer Perspektive ist Ausdauerleistung eine Art der Selbstregulierung, oder der Prozess, durch den Organismen ihren inneren Status und ihr Verhalten beim Verfolgen ihrer Ziele kontrollieren. In einer Studie über Selbstregulierung wurde das Konzept der Persönlichkeit durch das des Bewältigungsstils ersetzt. Dieses alternative Konzept nimmt die Idee auf, dass das, was wir Persönlichkeit nennen, nicht nur bei Menschen existiert, sondern auch in Tieren, und dass es einen praktischen Zweck erfüllt. Ein Bewältigungsstil ist ein charakteristischer Satz individueller Verhaltensweisen, Emotionen und (im Fall von Menschen) Gedankenmuster, auf die zurückgegriffen wird, um auf die Herausforderungen des Lebens zu reagieren. Anders ausgedrückt: Ein Bewältigungsstil ist die Summe der charakteristischen Bewältigungsstrategien oder -merkmale einer Person. Wie alle Eltern bestätigen können, sind Bewältigungsstile weitestgehend angeboren. Ausgeprägte Persönlichkeitsmerkmale zeigen sich schon von Geburt an bei Babys, manchmal sogar früher. Wer von Natur aus jemand ist, der über glühende Kohlen geht, hatte das Glück, mit einem Bewältigungsstil geboren worden zu sein, der sich in Form einer gut ausgeprägten mentalen Fitness im sportlichen Bereich manifestiert.
»Glück« ist aber nicht immer das richtige Wort. Ein Bewältigungsstil, der im Sportbereich vorteilhaft ist, kann sich im Alltag als ungut erweisen. Wie im Fall von Sammy Wanjirus tödlicher Rücksichtslosigkeit, einem Charakterzug, der neuesten neuropsychologischen Untersuchungen zufolge auf eine abnorme Verdrahtung des serotonergen Systems seines Gehirns zurückzuführen sein könnte. Andere Bewältigungsstile sind sowohl auf als auch abseits der Rennstrecke vorteilhaft. Louis Zamperini zum Beispiel ermöglichte es sein ungezügelter, tief verwurzelter Optimismus, im Alter von 19 Jahren die 5.000 Meter bei der amerikanischen Olympia-Qualifikation zu gewinnen. Dieser half ihm später auch, 47 Tage lang schiffbrüchig auf hoher See und mehr als zwei Jahre Folter, Hungern und Krankheit als Kriegsgefangener in den Händen der Japaner zu überleben. Zamperinis natürlicher Optimismus könnte auch der Grund dafür gewesen sein, dass er selbst in seinen 80ern noch Skateboard fuhr und schließlich 97 Jahre alt wurde.
Es ist unmöglich, ein siegreicher Ausdauersportler zu werden, wenn man nicht von Natur aus in hohem Maße körperlich fit ist. Gilt das Gleiche für mentale Fitness? Wenn es so wäre, wäre es sinnlos, die Bewältigungsstrategien – oder -stile – der Sieger nachzuahmen. Es ist ganz offensichtlich, dass die Rücksichtslosigkeit eines Sammy Wanjiru und der ungetrübte Optimismus eines Louis Zamperini nicht nachgeahmt werden können. Glücklicherweise sind solche Menschen, die von Natur aus dafür gemacht sind, über glühende Kohlen zu gehen, auch im Spitzensport die Ausnahme. Es gibt viele großartige Ausdauersportler mit »normalen« angeborenen Bewältigungsstilen, die im Laufe der Zeit mentale Fitness entwickeln und damit einen Weg vorgeben, den der Rest von uns auf seiner sportlichen Reise zu einem gewissen Grad nachahmen kann.
NEUN MONATE NACHDEM SAMMY Wanjirus Herz ihn zum Sieg beim Chicago-Marathon getragen hatte, sah ich das Herz eines anderen Spitzenläufers bei den USA Track and Field Outdoor Championships in Eugene, Oregon, versagen.
Es waren noch zweieinhalb Runden des Frauenrennens über 5.000 Meter zu laufen und Alissa McKaig hatte sich auf Position neun festgebissen, als die amerikanische Rekordhalterin Molly Huddle vorn einem harten Angriff ansetzte. Alissas Mannschaftskollege David »Janko« Jankowski stand in einer Traube Zuschauer hinter einem Maschendrahtzaun an Kurve vier. Als Alissa dort vorbeilief, setzte er die Hände an den Mund.
»Gib Gas!«, schrie er. »Wie sehr willst du das hier?«
Genau das war das Problem. Alissa wollte es zu diesem Zeitpunkt nicht – nicht so sehr wie Molly Huddle zumindest. Wenn Alissa hätte stehenbleiben und Jankos Frage beantworten können, hätte sie darauf beharrt, dass sie unbedingt unter den Top 3 ins Ziel kommen und ihr Ticket zur Weltmeisterschaft lösen wollte – und sie hätte das auch wirklich so gemeint. Aber die Art und Weise wie sie lief, sprach eine andere Sprache. Der einzige Beweis dafür, dass man etwas mehr will, ist, mehr zu leiden, und auf diesen 1.000 Metern, die sie im größten Rennen, das sie je gelaufen war, noch zurückzulegen hatte, war Alissa schon mit einem Fuß von den glühenden Kohlen gestiegen. Und sie hasste sich dafür.
Am Anfang der vorletzten Runde schaltete Molly Huddle geschmeidig in den nächsten Gang – einen Gang, den zwei der drei Frauen direkt hinter ihr nicht hatten. Sie mussten so schnell abreißen lassen wie Rennautos mit Motorschaden. Die einzige Läuferin, die Huddles Tempo mitgehen konnte, war Angela Bizzarri, eine bisher recht unauffällige 23-Jährige, die das Rennen ihres Lebens machte – das Rennen, das Alissa McKaig eigentlich hätte machen sollen. Als die Glocke die letzte Runde einläutete, legte Huddle die Karten auf den Tisch. Sie zog Bizzarri mit Leichtigkeit davon und holte sich den Sieg.
Mehr als 20 Meter dahinter war Alissas Sturm auf das Ziel weniger von wettkämpferischem Feuer getrieben als von dem tiefen Wunsch, ihren Qualen endlich ein Ende zu setzen. Sie schloss zu Elizabeth Maloy auf und überholte sie, aber nur, weil diese einbrach. Dann machte Lauren Fleshman das Gleiche mit Alissa. Nicht mehr in der Lage, sich darüber Gedanken zu machen, versuchte Alissa nicht einmal mehr zu reagieren und blieb an neunter Stelle, bis sie, zum Glück, endlich über die Ziellinie lief.
Mit gesenktem Kopf schlich sie von der Bahn, holte ihre Tasche von einer Aufbewahrungsstation unter der Haupttribüne West ab und ging hinüber zur Aufwärmbahn dahinter. Janko hatte sie dort bald gefunden. In dem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, brach Alissa zusammen. Janko tat nicht viel, um sie zu trösten. Er wusste, dass sie das nicht wollte. Schweigend bis auf ihr Schniefen zog sich Alissa Tights und ein langärmliges Aufwärmtop an und begann zu joggen. Janko lief neben ihr her. Während sie so dahinliefen, stellte Alissa fest, dass ihr Körper sich erstaunlich frisch anfühlte, nicht so, als hätte sie eben einen Wettkampf gemacht. Ihr Selbsthass wurde stärker.
Alissa war eine talentierte Läuferin, die hart an sich arbeitete. Allein im letzten Jahr war sie Sechste bei den amerikanischen Cross-Country-Meisterschaften geworden und Fünfte bei den amerikanischen Marathon-Meisterschaften der Frauen. Aber es war ihr schon öfter passiert, dass sie in einigen der größeren Rennen nicht ihr Potenzial abrufen konnte. Ein paar Stunden vor dem diesem jüngsten Vorfall hatte Alissa gerade letzte taktische Instruktionen von ihrem Trainer, Pete Rea, bekommen, als sie in Tränen ausbrach. Rea rekonstruierte diese Szene später für mich.
»Alissa, was ist los?«, fragte er.
»Ich weiß nicht!«, antwortete sie. »Ich glaube, es ist das Lampenfieber. Der Druck ist so groß!«
Auf dem Rückflug fasste Alissa einen Entschluss. Das war das letzte Mal gewesen, dass sie nicht abgeliefert hatte. Das Bedauern und die Wut gegen sich selbst, die sie fühlte, waren nichts Neues, aber etwas war anders. Dieses Mal hatte sie das Scheitern endgültig satt.
Alissas nächstes großes Rennen war ein noch wichtigeres: die Olympia-Qualifikation im Marathon. Sie wurde am 14. Januar 2012 in Houston ausgetragen, und am Start standen die stärksten jemals versammelten Marathonläuferinnen Amerikas. Alissas oberstes Ziel war es nicht, sich für die Olympia-Mannschaft zu qualifizieren, unter den Top Ten zu finishen oder persönliche Bestzeit zu laufen (obwohl sie all das natürlich wollte). Ihr Ziel war es, alles zu geben und den Rest einfach auf sich zukommen zu lassen. Nach knapp 16 Kilometern lag Alissa auf dem 13. Platz. Anstatt jedoch ihr Herz zu verlieren und sich zurückfallen zu lassen, erinnerte sie sich daran, dass sie sich nach dem Rennen viel schlechter fühlen würde, wenn sie nicht weiterkämpfte, als sie sich im Rennen je fühlen könnte, wenn sie weiter Druck machte. Also machte sie weiter Druck, während die anderen um sie herum wegbrachen. Alissa überholte auf den letzten 16 Kilometern fünf Läuferinnen und kam als Achte ins Ziel. Ihre Zeit von 2:31:56 Stunden lag um fast sechs Minuten unter ihrer bisherigen persönlichen Bestzeit. Wäre sie die gleiche Zeit vier Jahre früher gelaufen, wäre sie zu den Olympischen Spielen gefahren.
Nach dem Rennen gab Alissa ein Fernsehinterview für Flotrack. Es dauerte fünfeinhalb Minuten und während der gesamten Frage-Antwort-Zeit konnte sie nicht aufhören zu lächeln.
»Das löst in mir eine solche Vorfreude auf die Zukunft aus«, sagte sie über ihre Leistung. »Ich hatte viele Probleme mit meinem Selbstvertrauen in der Vergangenheit. Jetzt kann ich das alles hinter mir lassen.«
Athleten können also lernen, besser über glühende Kohlen zu gehen. Alissa McKaigs Geschichte beweist es. Sie erlaubt auch einen Einblick in die Art und Weise, wie der Prozess funktioniert. Die Standardformel lautet folgendermaßen: Unterentwickelte Bewältigungsfähigkeiten lassen einen Athleten sich auf irgendeine Weise abmühen. Die Erfahrung dieses Ringens mit sich ruft eine adaptive Antwort seitens des Athleten hervor. Diese Antwort lässt früher oder später die Bewältigungsfähigkeiten effektiver werden. In Alissas Fall führte mangelndes Selbstvertrauen dazu, dass sie bei einem wichtigen Rennen nicht abliefern konnte. Ihr Versagen führte zu dem Entschluss »nie wieder«, und dieser Schwur brachte sie dazu, einen hilfreichen Trick zu entdecken. In entscheidenden Augenblicken des Rennens verglich sie ihr aktuelles körperliches Leiden mit dem emotionalen Leiden, das sie erwarten würde, wenn sie sich selbst erlaubte, wieder einmal nicht alles zu geben. Diese spezielle Bewältigungsstrategie ist eine spezifische Manifestation einer umfassenderen Fähigkeit, der wütenden Entschlossenheit, auf die ich in Kapitel 6 näher eingehen werde.
Weil die angewandten Bewältigungsstrategien den Bewältigungsstil einer Person oder ihre Persönlichkeit ausmachen, könnte man sagen, dass Alissa McKaig in der olympischen Marathon-Qualifikation 2012 nicht die Person war, die 2011 bei den USA Track and Field Outdoor Championships nicht abliefern konnte. Die »Probleme mit dem Selbstvertrauen«, die sie überwand, beschränkten sich nicht auf den Sport, sondern beeinflussten auch alle anderen Bereiche ihres Lebens. Diese Probleme haben nur zufällig im Sport den größten Schaden angerichtet, weil die Verfolgung ihrer sportlichen Träume ihr Selbstvertrauen vor eine größere Prüfung stellte als irgendetwas sonst, das sie im Leben tat. Aus dem gleichen Grund eröffnete das Laufen Alissa aber auch die besten Möglichkeiten, allgemein eine Person mit mehr Selbstvertrauen zu werden. Wenn man sie in diesem Interview nach der Olympia-Qualifikation sprechen hört, hört man mehr als eine Frau, die gerade einen hilfreichen neuen Trick gelernt hat; man hört eine Frau, die sich auf einer tiefen Ebene verändert hat, die sich anders sieht als vorher.
Einige Bewältigungsstrategien sind kontextspezifisch und man kann sie sich aneignen, ohne dass der übergeordnete Bewältigungsstil einer Person angetastet wird. Ein Beispiel für eine Ausdauersport-spezifische Bewältigungsstrategie ist, seine gesammelte Rennerfahrung zu nutzen, um sein Tempogefühl zu verfeinern – die Kunst, die aggressivste Geschwindigkeit zu finden, die man bis ins Ziel halten kann, ohne die Schwelle der maximalen Toleranz wahrgenommener Anstrengung zu überschreiten. Aber ein Athlet wird niemals seine mentale Fitness maximieren können, wenn er nur kontextspezifische Bewältigungsstrategien erwirbt; er muss seinen allgemeinen Bewältigungsstil verbessern, indem er sich – zu einem gewissen Grad – als Person verändert.
Psychologen unterscheiden zwischen Fähigkeiten und Charakterzügen. Ein Charakterzug ist im Grunde eine verallgemeinerte oder nicht kontextspezifische Bewältigungsfähigkeit. Beispiele für Charakterzüge, die für die Bewältigung relevant sind: Grundsätzliche Selbstwirksamkeit (oder der Glaube an die eigene Kompetenz) und ein innerer Kontrollmechanismus (oder der Glaube, dass man der Kapitän seines Schiffs ist und nicht nur eine Marionette des Schicksals). Kein Athlet kann seine mentale Fitness maximieren, wenn er nicht auch Charakterzüge wie grundsätzliche Selbstwirksamkeit oder Kontrollmechanismen verbessert, und zwar zusätzlich zum Erwerb kontextspezifischer Fähigkeiten wie ein feines Tempogefühl.
Experimentelle Forschung bestätigt das, was Alissa McKaig im wahren Leben bewiesen hat: dass es dem Menschen möglich ist, durch den Erwerb kontextspezifischer Bewältigungsstrategien umfassendere, für Bewältigung relevante Charakterzüge zu entwickeln. Einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet ist Ronald Smith, ein Sportpsychologe an der Universität von Washington. In einer 1989 veröffentlichten Studie, die im Zuge eines Selbstverteidigungsprojekts für Frauen durchgeführt und im Personality and Social Psychology Bulletin veröffentlicht wurde, fand Smith heraus, dass Selbstverteidigungstraining nicht nur die Fähigkeiten der Frauen verbesserte, sich zu wehren, sondern auch »umfassendere Aspekte der Persönlichkeit wie physische Selbstwirksamkeit und Durchsetzungsvermögen«. Das funktioniert auf die gleiche Art und Weise im Ausdauersport. Manchmal ist die einzige Möglichkeit, ein Hindernis, das der eigenen Entwicklung als Athlet im Weg steht, zu überwinden, indem man eine spezifische Fähigkeit erwirbt, die es erfordert, sich als Person weiterzuentwickeln – ein Schritt vorwärts auf Charakterzug-Ebene.
Einfach nur Sport zu treiben führt jedoch nicht zwangsläufig dazu, dass ein Athlet einen reiferen und effektiveren Bewältigungsstil entwickelt. Das geschieht nur in dem Maße, in dem der Athlet sich selbst in den Sport investiert und in dem er bewusst das innere Ringen als Herausforderung für das eigene Selbst wahrnimmt. Der sechsmalige Ironman-Sieger Mark Allen traf den Nagel auf den Kopf, als er Ausdauerwettkämpfe beschrieb als »einen Test seiner selbst als Person zusätzlich zu einem Test seiner selbst als Athlet«. Doch er war nicht immer so weise gewesen. Allen verlor den Ironman sechsmal aufgrund mentaler Selbstsabotage, bevor er es seinem inneren Ringen erlaubte, ihn zu verändern, und er anfing zu gewinnen.
Die Frage, die ein Teil Ihres Selbst in den entscheidenden Augenblicken eines Rennens stellt – wie sehr willst du das? – ist eigentlich eine Einladung dazu, sich selbst zu erkunden. Nicht alle Athleten nehmen diese Einladung an. Wenn Sie beim »Lauf über glühende Kohlen« der Beste werden möchten, der Sie sein können, – mehr noch, wenn Sie alles aus dem sportlichen Erleben herausholen möchten, was möglich ist, – dann werden Sie diese Einladung annehmen. Die Reise mit dem Ziel, ein mental fitter Athlet zu werden, ist größtenteils auch eine Reise persönlicher Entwicklung.
Wir sehen dies besonders deutlich am Beispiel von Alissa McKaig. Vor der Krise, die ihren Durchbruch herbeiführte, hatte sie zwei Jahre lang mit einem Sportpsychologen an ihrem Selbstbewusstseins-Problem gearbeitet. Die Werkzeuge, die er ihr an die Hand gegeben hatte, waren jedoch nutzlos gewesen, bevor sie diese Erfahrung machte. Die Techniken, die Sportpsychologen traditionell lehren, gehen allein einfach nicht tief genug, um Athleten in kritischen Momenten zu retten, wenn ihre Seele selbst dazu herausgefordert wird zu reagieren. Keine Methode des mentalen Trainings oder der Therapie, die in Alltagskleidung durchgeführt wird, kann es mit der Kraft erlebter Erfahrungen aufnehmen, wenn es darum geht, effektive Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
Alissa erinnerte sich selbst daran, dass sie viel lieber litt, weil sie sich bis ins Ziel kämpfte, als dass sie die Schande aushielt, aufgegeben zu haben. Doch diese Methode hätte für sie nicht funktioniert, wenn sie nicht so oft die Erfahrung gemacht hätte, wie schlimm es war, nicht abgeliefert zu haben. So fokussiert und spezifisch diese Bewältigungsstrategie auch war, ihr Erwerb und Einsatz veränderten Alissa auf der Charakterzug-Ebene, und verliehen ihr einen selbstbewussteren allgemeinen Bewältigungsstil.
Es wird nie eine Fünf-Schritte-Strategie geben, die mentale Fitness in dem Maße zu einem vorhersagbaren Ergebnis macht, wie eine bessere körperliche Leistungsfähigkeit ein vorhersagbares Ergebnis sinnvollen Trainings ist. Mentale Fitness muss man sich im chaotischen Kontext eines Athletenlebens verdienen. Das einzige, was ein Athlet kontrollieren kann, ist, wie er mit dem umgeht, was das Leben ihm gegeben hat. So oder so muss ein Athlet, der seine mentale Fitness verbessern möchte, irgendwie die Erfahrungen nutzen, die das Potenzial haben, ihn durch Grenzen brechen zu lassen.
Alle Athleten sehen sich Herausforderungen gegenüber, die Möglichkeiten bieten, die mentale Fitness auf spezifische Art und Weise zu verbessern. In den folgenden Kapiteln werden wir uns Beispiele von Athleten anschauen, die ihre mentale Fitness verbessert haben, indem sie Probleme überwunden haben – wie beispielsweise in Rennen nicht die bestmögliche Leistung abrufen oder überhaupt nicht abliefern zu können, sich schwer zu verletzen, immer wieder an einem wichtigen Ziel zu scheitern und sich einer körperlich überlegenen Konkurrenz gegenüber zu sehen. Ob ein Athlet es schafft, solche Herausforderungen zu meistern, hängt von seiner grundlegenden Einstellung gegenüber dem Sport ab. Athleten, die bewusst vorhaben, ihre Erfahrungen zu nutzen, um ihre mentale Fitness zu entwickeln, neigen dazu, schneller bessere Bewältigungsstrategien zu erwerben, als Athleten, für die es kein explizites Ziel ist, besser über glühende Kohlen gehen zu können. Ich führe noch einmal das Beispiel von Alissa McKaig an, die ihren Durchbruch durch einen bewussten Entschluss dazu und dem Hinarbeiten darauf schaffte, mental fitter zu werden.
Die Kraft eines Vorsatzes im Ausdauersport ist gut dokumentiert. Eine Studie von Jacob Havenar von der Universität von San Francisco, die 2006 beim Jahrestreffen des American College of Sports Medicine vorgestellt wurde, zeigte zum Beispiel: Die Wahrscheinlichkeit, dass Marathon-Neulinge aus einem Gruppen-Trainingsprogramm aussteigen, variierte mit der jeweiligen Zielsetzung. Diejenigen, deren Hauptmotivation das Erreichen des persönlichen Ziels war, die ihr Selbstwertgefühl steigern oder einen Lebenssinn finden wollten, stiegen seltener aus, als diejenigen, deren Hauptmotivation darin bestand, Gewicht zu verlieren oder soziales Ansehen zu erlangen. Sämtliche Läufer sahen sich derselben Herausforderung gegenüber – ob sie sie bestanden, hing größtenteils von der Intention ab, mit der sie diese Herausforderung angingen.
Das übergreifende Vorhaben, das allen Ausdauersportlern gemein ist, ist die Leistung zu verbessern. Aber die eigene mentale Fitness zu maximieren, ist für das Erlangen dieses Ziels entscheidend. Deshalb sollte man sich das Vorhaben, seine mentale Fitness zu verbessern, so bewusst machen wie das, schneller zu werden.
Wenn Sie glauben, dass Sie sich als Ausdauersportler nur dann verbessern können, wenn Sie Ihre Einstellung zur wahrgenommenen Anstrengung verändern, werden Sie auch erfolgreicher dabei sein, dies umzusetzen. Wenn Sie den Gedanken verinnerlichen, dass Sie Ihr eigener Sportpsychologe sein sollten und dass es Ihr Hauptziel in dieser Funktion ist, Ihre gesamte Geisteskraft darauf zu verwenden, die Anstrengung, die Sie als Athlet ertragen können, zu erhöhen und mehr herausholen zu können, wenn Sie Ihr Bestes geben, werden Sie Ihre mentale Fitness schneller verbessern. Wenn Sie es als Tatsache hinnehmen, dass die einzigen Grenzen, an die Sie in Ihrem Sport jemals stoßen werden, mentale sind, werden Sie besser darin werden, über glühende Kohlen zu laufen und Ihrem unerreichbaren körperlichen Limit ein wenig näher kommen, als Sie es sonst getan hätten. Kurz: Wenn Sie die neue Psychologie des Ausdauersports annehmen, wird sich Ihre Leistung stärker verbessern, als wenn Sie es nicht tun.
Auch wenn es niemals ein Fünf-Schritte-Programm geben wird, mit dem man mentale Fitness aufbauen kann, gibt es immerhin einen sinnvollen ersten Schritt. Und vielleicht haben Sie den gerade getan.