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Kapitel 2 Wappnen Sie sich

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KAPITEL 2

Wappnen Sie sich

AM 20. NOVEMBER 2009 saß der Mitherausgeber von competitor.com, Sean McKeon, an seinem Schreibtisch inmitten eines Labyrinths aus Bürozellen, die sich in einem Bürogebäude in San Diego verteilten, öffnete ein Word-Dokument und begann eine Vorschau auf die NCAA Cross Country Championships zu schreiben, die drei Tage später stattfinden sollten. Er hatte keine Schwierigkeiten damit, die Gewinnerin für das Frauenrennen auszuwählen.

»Warum geben wir Jenny Barringer nicht einfach den Pokal, ersparen den anderen die Peinlichkeit und lassen die Frauen um die restlichen Plätze laufen?«, schrieb er. »Okay, das könnte ein bisschen übertrieben sein«, ergänzte McKeon, »aber meiner Meinung nach lautet die Frage nicht, ob die Studentin aus Colorado gewinnen wird, sondern wie viel Vorsprung sie haben wird.«

McKeons Vertrauen in Jenny war nicht verkehrt. Sie war bereits die am meisten ausgezeichnete weibliche College-Läuferin der Geschichte. Sie war dank eines vollen Athletik-Stipendiums an die Universität von Colorado gekommen, nachdem sie acht High-School-Staatsmeisterschaften gewonnen hatte und in ihrer Heimat Florida auf vier Distanzen einen Staatsrekord aufgestellt. In ihrem ersten Jahr hatte Jenny einen Titel im 3.000-Meter-Hürdenlauf bei den NCAA-Meisterschaften gewonnen. Im Jahr darauf, als sie bereits gegen Profis antrat, gewann sie das gleiche Rennen bei den U.S. National Championships und qualifizierte sich für die Weltmeisterschaft in Osaka. Nach ihrer Saison als Nachwuchsläuferin bekam sie einen Platz im amerikanischen Olympia-Team und wurde beim Hürdenlauf bei den Sommerspielen in Peking 2008 Neunte.

Selbst wenn Jenny nur diese Erfolge vor den NCAA Cross Country Championships vorzuweisen gehabt hätte, wäre sie als unschlagbare Favoritin ins Rennen gegangen. Aber das war erst der Anfang. Nachdem sie die Sommer-Crosslauf-Saison ausgelassen hatte, kehrte Jenny im Winter ins Wettkampfgeschehen zurück, setzte neue NCAA-Rekorde über 3.000 Meter und 5.000 Meter in der Halle. Im Frühjahr brach sie weitere drei Rekorde über 1.500 Meter, 3.000 Meter Hürden und über 5.000 Meter. Im Juni wurde Jenny zum zweiten Mal Landesmeisterin im Hürdenlauf in der Elite-Kategorie. Sie nahm diesen Schwung mit durch den Sommer, in dem sie bei der Weltmeisterschaft in Berlin einen amerikanischen Rekord von 9:12,50 Minuten im Hürdenlauf aufstellte, wo sie Fünfte wurde.

Jenny hatte zwar die vorherige Sommer-Crosslauf-Saison ausgelassen, sie war aber trotzdem berechtigt, nach Boulder zurückzukehren und im Herbst 2009 für die Lady Buffalos anzutreten. Sie entschied sich, ihren Worten nach aus Loyalität, für diese Option, obwohl sie mit Eintritt ins Profitum das große Geld erwartet hätte.

»Ich kann der Universität niemals zurückzahlen, was sie mir gegeben hat, die Ressourcen und das Geschenk dieser vier Jahre hier«, sagte Jenny, als sie ihre Entscheidung verkündete. »Wenn ich mich überhaupt irgendwie revanchieren kann, dann damit, dass ich mein Versprechen halte [meine Startberechtigung wahrzunehmen]. Ich bleibe auf jeden Fall.«

Darüber hinaus hatte sie aber noch eine Rechnung offen. Als Jenny mit 18 Jahren an die Universität von Colorado kam, hatte sie Trainer Mark Wetmore gesagt, ihr oberstes Ziel für ihre akademische Karriere sei, den NCAA-Titel im Crosslauf zu gewinnen. Doch auch fünf Jahre später war dieses Ziel noch nicht erreicht, trotz allem, was sie sonst geschafft hatte. Sie war 2007 schon einmal nah dran gewesen, als sie Zweite hinter Sally Kipyego aus Kenia geworden war, die inzwischen ihren Abschluss gemacht hatte. Jenny machte es nichts aus, ihre Profi-Karriere noch für ein paar Monate hinauszuzögern, um ihre Mission zu erfüllen.

Sie eröffnete ihre letzte akademische Wettkampfsaison am 3. Oktober beim Rocky Mountain Shootout, einer großen Veranstaltung, die auf der Hausstrecke der Buffaloes ausgetragen wurde. Jenny gewann das Rennen über 5,8 Kilometer mit 58 Sekunden Vorsprung und pulverisierte auch gleich noch einen neun Jahre alten Streckenrekord. Jennys nächstes Rennen war ein Vorlauf zu den nationalen Meisterschaften. Dort traf Jenny auf Susan Kuijken von der Florida State, die als Jennys größte Konkurrentin um den NCAA-Titel galt. Jenny schlug sie um 30 Sekunden.

Zwei Wochen später reiste Jenny mit ihren Mannschaftskollegen zur Big 12 Championship nach Columbia, Missouri. Es spielte ein fast schon entschuldigendes Lächeln um ihre Lippen, als sie die 96 besiegten Läuferinnen, die hinter ihr herhechelten, um 46 Sekunden abhängte. Danach räumte Trainer Mark Wetmore das ein, was für Linda Sprouse, die stellvertretende Leiterin der Sportinformationsabteilung der Universität von Columbia, ohnehin offensichtlich war. »Das war ein Spaziergang für sie«, sagte er. »Ein entspannter Lauf und sie hatte den ganzen Tag über Spaß.«

Am 14. November bekam Jenny einen letzten Wettkampfschliff bei den NCAA Mountain West Conference Championships in Albuquerque. Dieses Mal machte Jenny auf den ersten 4 Kilometern das Tempo für ihre Mannschaftskollegin Allie McLaughlin – für den Kick. Dann zog sie mit Leichtigkeit davon und gewann mit 12 Sekunden Vorsprung.

Mit all diesen Informationen im Hintergrund verkündete Sean McKeon nur einen Fakt, als er in seiner Vorschau auf die NCAA Cross Country Championships schrieb: »Wenn sie nicht gewinnt, wird das der größte Aufreger der NCAA-Geschichte.« Er hatte Recht – mehr als er hätte ahnen können – dass nur ein »epischer Zusammenbruch« sie davon abhalten würde können, den Titel, den sie so sehr wollte, zu holen.

DIE CROSS-COUNTRY-STRECKE der Lavern Gibson Championship ist eingebettet in 113 grasbedeckte Hektar östlich von Terre Haute. Am Renntag herrschte fast perfektes Laufwetter dort – mild und trocken. Als die Sonne gegen halb eins hinter einem Wolkenschleier hervorkam, neigte sich das Männerrennen dem Ende zu und Jenny und ihre Teamkolleginnen machten sich für ihr Rennen fertig. Die Lufttemperatur stieg auf um die 13 Grad, für den Monat November überdurchschnittlich hoch, und die Läufer zogen ihre Langarmshirts aus und stopften ihre Handschuhe in die Sporttaschen.

Während Jenny mit ihren Mannschaftskolleginnen über das Gelände joggte, wurde ihr schwindelig. Das Gefühl war nach dem Warm-up samt Beweglichkeitsübungen und Sprints noch immer nicht verschwunden. Anschließend versammelte sich das Team um den Trainer, um letzte Instruktionen zu erhalten. Jenny dachte darüber nach, Assistenz-Trainerin Heather Burroughs wegen ihres Schwindels Bescheid zu sagen, entschied sich aber dann doch dagegen. Sie wusste, dass es wahrscheinlich ein Symptom von Nervosität war, nicht mehr, außerdem war es bereits am Abklingen.

Um 12.35 Uhr wurden die Läuferinnen an die Startlinie gerufen. Jeweils drei hintereinander stellten sich hinter dem Kreidestrich auf, der sich scheinbar endlos über die weite, frisch gemähte Wiese zog. Die Startpistole knallte und als Jenny losrannte, war der letzte Rest Lampenfieber verschwunden. 254 Frauen rumpelten über eine 900 Meter lange Auftaktgerade und formierten sich langsam in Form einer gedrungenen Träne, an deren Spitze Jenny (wer sonst?) lief. Susan Kuijken, die keine zehn Meter links von Jenny gestartet war, lief bald direkt neben ihr. Trotz ihrer Niederlage gegen Jenny bei den Vorläufen zur den Staatsmeisterschaften hoffte die Läuferin aus Florida zu gewinnen. Ihr Plan war, sofern möglich an Jenny dranzubleiben und ansonsten in Reichweite zu bleiben und zu versuchen, sie am Ende einzufangen.

Als Jenny ihren Rhythmus gefunden hatte, horchte sie in ihren Körper hinein und stellte fest, dass sie sich gut fühlte – stark und entspannt –, wie sie es schon die ganze Saison lang getan hatte. Es gab keinen Grund, warum sie sich anders hätte fühlen sollen. Ihr Training in den letzten Wochen war fast perfekt verlaufen. Im Vorfeld zu den Mountain West Conference Championships hatte sie bei den Schlüsseleinheiten ihre bisher besten Zeiten geschafft. Nach diesem Rennen hatte Mark Wetmore das Training stark zurückgefahren und ihre Beine hatten mit ganz neuer Kraft reagiert. Jenny hatte es auch geschafft, sich nicht den Erkältungsvirus einzufangen, der auf dem Campus der Universität von Colorado die Runde gemacht hatte. Sie war körperlich nie bereiter für Wettkämpfe gewesen und die inneren Sensoren ihres Körpers bestätigten das. Das kurze Schwindelgefühl war nur ein winziges Wackeln gewesen.

Jenny ließ sich an den rechten Rand der Geraden treiben, nahe an die Absperrung, die die Zuschauer von der Strecke hielt, und bereitete sich auf die erste Kurve der gewundenen Strecke vor. Das Feld hinter ihr blieb dicht zusammen, direkt hinter ihr liefen Kuijken, Kendra Schaff von der Washington und Angela Bizzarri von der Illinois.

In der Kurve erhöhte Jenny das Tempo leicht und legte damit sofort etwas Abstand zwischen sich und ihre Verfolgerinnen. Kuijken traf innerhalb von Sekunden die Entscheidung mitzugehen und schloss die Lücke. Sie lief aber respektvoll einen halben Schritt hinter Jenny, damit sie die Favoritin nicht dazu verlockte, nochmals schneller zu werden. Der lange, goldfarbene Pferdeschwanz der Norwegerin wippte synchron zu Jennys honigfarbener Mähne, als das Paar den Abstand zwischen sich und den anderen Läuferinnen immer weiter vergrößerte. Sie passierten die erste Kilometer-Marke des 6-Kilometer-Rennens nach 3:04 Minuten. Jenny registrierte die Splitzeit mit Genugtuung. Sie war mit einem zweiten Ziel nach Terre Haute gekommen: Sally Kipyegos Streckenrekord von 19:28 Minuten zu unterbieten und sie war auf dem besten Weg, das zu tun.

Jenny lief den ersten Hügel hinauf. Sie rannte in dem für sie typischen Gladiatoren-Stil, mit nach vorn gerecktem Kinn, nach vorn gelegtem Torso, weiten Ellbogen und zu Fäusten geballten Händen, der Sicherheit und Aggression ausstrahlte. Dennoch schien in ihren Augen auch Ungeduld aufzublitzen, als Kuijken, die in Interviews vor dem Rennen gesagt hatte, dass sie Jenny nicht fürchte, ihr weiterhin an den Fersen klebte.

Oben auf dem Hügel bogen die Führenden in eine enge Linkskurve ein, wo sie nur Zentimeter entfernt an den anfeuernden Zuschauern vorbeirannten, die gegen den Maschendrahtzaun gepresst am Streckenrand standen. Die meisten Rufe waren für Jenny bestimmt, die neben zahlreichen Schulkameraden, Freunden und Familienmitgliedern, die mitgekommen waren, auch eine nationale Fangemeinde hatte.

Jenny und ihr flachsblonder Schatten liefen die ersten 1,6 Kilometer in 5:02 Minuten. Kipyego war bei ihrem Rekordlauf vor zwei Jahren genauso schnell gewesen. Jenny schien immer noch die Kontrolle zu haben, aber ihre Augenbrauen zogen sich ungewöhnlich zusammen.

Sechs Schritte dahinter rannte Kendra Schaff allein, sie hatte sich von der ersten Verfolgergruppe abgesetzt beim Versuch, die Führenden zu stellen. Sie hatte sich entschieden, dieses Risiko einzugehen, nachdem sie festgestellt hatte, dass Jennys Tempo nicht so straff war, wie sie erwartet hatte. Zehn Meter hinter Schaff hatte Angela Bizzarri am Kopf des Hauptfelds eine andere Rechnung aufgemacht. Ihr Plan lautete, ihr eigenes Rennen zu machen. Sie hoffte, dass jeder, der versuchen würde, mit Jenny mitzulaufen – wenn nicht gar Jenny selbst – sich ins Aus laufen und schlussendlich zu ihr zurückfallen würde. Dieser Plan fühlte sich immer noch richtig an.

An der 2-Kilometer-Marke erspähte Jenny die nächste Zeitnahme-Uhr und heftete ihren Blick fest darauf: 6:15, 6:16, 6:17 … Sie war ein wenig langsamer geworden, aber nicht viel, und das Tempo war immer noch schneller als das, was Kuijken jemals in einem Rennen über diese Distanz gelaufen war. Alles, was Jenny tun musste, war, gleichmäßig weiterzulaufen, dann würde ihre nervtötende Verfolgerin irgendwann schon einbrechen.

Sie gingen gemeinsam in den nächsten Anstieg. Kuijken blieb wie festgeklebt an Jennys rechter Schulter. Der Abstand zwischen den beiden Frauen und Schaff sowie zwischen Schaff und Bizzarris Gruppe war gleich geblieben. Ein flehender Unterton schlich sich in die für Jenny bestimmten Anfeuerungsrufe der Fans am Streckenrand.

Nach der Hälfte des Rennens, die nach 9:38 Minuten erreicht war, bemerkte Kuijken, dass es sich nicht mehr so anfühlte, als würde Jenny sie mitziehen. Tatsächlich war sie ein bisschen im Leerlauf und rannte etwas langsamer, als sie es getan hätte, wenn sie allein gewesen wäre. Also machte sie etwas Druck und zog umgehend mit Jenny gleich, die sofort schneller wurde, um ihren halben Schritt Vorsprung zu sichern. Nur Augenblicke später drängelte Kuijken wieder von hinten und wurde zunehmend kribbeliger.

Jennys Kopf begann zu wippen. Erst kaum merklich, dann immer stärker. Das Wippen wurde zu einem Wackeln. Das Wackeln setzte sich fort auf ihre Schultern, ihren Rumpf, ihre Hüfte, bis Jenny torkelte wie ein Preisboxer, der mit zugeschwollenen Augen nach seiner Ecke tastet. Ihr Tempo brach jäh ein, Kuijken lief federnd weiter und konnte ihr Glück kaum fassen. Jenny schien nun mit sich selbst zu sprechen, ihr Mund machte labbrige Bewegungen, während sie vorwärts stolperte. Ihre Augenlider waren auf Halbmast.

Kendra Schaff, Angela Bizzarri und Sheila Reid von der Villanova zogen in einer erbarmungslosen Perlenschnur an Jenny vorbei. Sekunden später hatte das Feld sie eingeholt. Amanda Marino von der Villanova überholte Jenny mit Leichtigkeit. Dann folgte Paca Cheruiyot von der Forida State und Jennys eigene Mannschaftskollegin, Uni-Neuling Allie McLaughlin, die Jenny noch verwirrt etwas Ermutigendes zurief.

Jenny war ein verlorenes Kalb, gefangen in einer Stampede wütender Rinder. Sie fiel zurück auf den 10. Platz, dann auf den 20., 30. Platz. Jennys frühere High-School-Rivalin Erin Bedell, nun in ihrem letzten Jahr an der Baylor, lief auf sie auf und fühlte sich bemüßigt, ihr zu helfen.

»Lauf mit mir mit!«, rief Bedell.

Jenny gehorchte, aber die nächste zerstörerische Welle der Schwere spülte kurz darauf über sie hinweg. Das Wackeln kam zurück. Mit jedem Schritt wurden Jennys Bewegungen ungenauer, weniger koordiniert. Ihr Kopf kippte nach vorn und blieb dort, als ob sie nach einem verlorenen Ring suchen würde. Sie fühlte sich merkwürdig entfernt von den Anblicken und Geräuschen um sich herum. Träume ich?, fragte sie sich. Ihr Traben wurde zu einem Schlurfen, ihr Schlurfen zum Gehen. Sie machte noch drei letzte wackelige Schritte und fiel dann wie von einem Scharfschützen getroffen zu Boden. Die Zuschauer sahen in verblüffter Stille dabei zu, wie die anderen Läuferinnen zu Dutzenden an Jennys zusammengekrümmtem Körper vorbeirannten.

So still wie Jenny dalag, mit dem Gesicht nach unten, war nicht davon auszugehen, dass sie bald oder ohne fremde Hilfe aufstehen würde. Aber nur wenige Sekunden später bewegte sie sich, als ob sie versuchen würde, noch vor Ende eines Zehner-Countdowns, wie dem beim Boxen, wieder auf die Füße zu kommen. Sie schaffte es in drei Etappen – von allen Vieren auf halb kniend auf gerade so vertikal –, stützte sich ab und fing an steif zu joggen. Es überholten sie immer noch Läuferinnen, aber nicht mehr so schnell wie vorher. Emma Coburn, eine weitere Teamkameradin von Jenny, lief auf sie auf, und Jenny, nun völlig klar und gedemütigt, dachte, hoffentlich sieht sie mich nicht! (»verrückt«, wie sie später gegenüber Flotrack sagte).

Ganz langsam wurden Jennys Schritte wieder geschmeidiger und ihr Tempo höher. Der Fluss an Läuferinnen, der sie überholte, wurde zu einem Rinnsal. Als Jenny um die weite Kurve lief, die sie auf die 400-Meter-Gerade zum Ziel brachte, war sie genauso schnell wie die Läuferinnen, die in einem dichten Pulk um sie herum liefen.

Vor dem Rennen hatte Jenny ihren Teamkolleginnen gesagt, sie sollten die Augen offen halten nach Läuferinnen in den Shirts von Villanova, Washington und West Virginia. Das waren die Schulen, die Colorado den Sieg in der Teamwertung am ehesten streitig machen konnten. Jetzt sah Jenny eine Läuferin in Washingtons Farben, Purpur und Gold, vor sich. Sie erhöhte das Tempo und fing sie ein, wobei sie unterwegs noch eine ganze Reihe weiterer Läuferinnen überholte.

Das Zielbanner schon in Sichtweite entdeckte Jenny eine weitere Läuferin von der Washington vor sich. Sie beschleunigte, ruderte mit den Armen und schoss vorwärts, lief geschickt Slalom um die Läuferinnen herum, die sie gerade noch überholt hatten, die Augen auf die Beute geheftet. Sie schien in großartiger Form. Es fehlte ihr absolut nichts. Zwei Meter vor dem Ziel, sprintete Jenny an Kayla Evans von der Washington vorbei, einem Uni-Neuling, deren Bestzeit über 3.000 Meter 93 Sekunden langsamer war als Jennys. Die beste College-Läuferin aller Zeiten überquerte in ihrem letzten Hochschulrennen die Ziellinie als 163.

DIE NCAA NATIONAL CHAMPIONSHIPS 2009 wurden live im Fernsehen übertragen. Ein Kamerateam wartete ungefähr zehn Meter hinter der Ziellinie auf Jenny Barringer. Sie rang immer noch nach Atem, als Reporterin Cat Andersen ihr ein Mikrofon unter die Nase hielt und fragte, was passiert sei.

»Ich habe mich nach der Hälfte der Strecke nicht so gut gefühlt«, antwortete sie unter Tränen.

Am nächsten Tag nahm Jenny ein 24-minütiges Videointerview für Flotrack in ihrem Hotelzimmer in Terre Haute auf. Ihrer ersten, sehr untertriebenen Erklärung für ihren Einbruch fügte sie nicht viel mehr hinzu.

»Es kam wie eine Welle«, sagte sie. »Aus dem Nichts war da plötzlich der Gedanke: Ich weiß nicht, ob ich laufen kann. Ich weiß nicht, ob ich gegenhalten kann.«

Vielleicht verriet das, was Jenny nicht sagte, mehr über ihren Zusammenbruch als das, was sie sagte. Sie sagte nicht, dass sie sich einen Muskel gezerrt oder einen Asthmaanfall erlitten hatte, oder dass sie quälende Bauchkrämpfe bekommen hatte, die durch eine gleitende Rippe verursacht worden waren, die in ihr Zwerchfell stach (was Susan Kuijken passiert war, die Dritte wurde). Jennys knappe Beschreibung ihrer Implosion schien vielmehr nahezulegen, dass sie nicht von etwas Physischem zu Fall gebracht worden war, sondern von einem Gefühl.

Ist diese Erklärung überhaupt plausibel? Laut dem Psychobiologischen Modell des Ausdauersports ist sie das.

In Ausdauerwettkämpfen steuern die Athleten ihre Geschwindigkeit größtenteils durch ihr Gefühl. Rückmeldung von außen wie Splitzeiten oder die eigene Position im Vergleich zu anderen Athleten kann das sogenannte Pacing beeinflussen, aber es ist ein innerer Sinn für die Angemessenheit des Tempos von Augenblick zu Augenblick, der das erste und letzte Wort darüber hat, ob ein Athlet sich dafür entscheidet, schneller zu werden, das Tempo zu halten, langsamer zu werden oder zu einem leblosen Häufchen zusammenzufallen. Die wissenschaftliche Bezeichnung für diesen Pacing-Mechanismus lautet vorwegnehmende Regulation. Sie erzeugt ein fortdauerndes Gefühl, ähnlich einer Intuition, dafür, wie die jeweilige Anstrengung angepasst werden muss, um das Ziel so schnell wie möglich zu erreichen. Ihre Eingaben sind Anstrengungswahrnehmung, Motivation, Kenntnis der Distanz, die noch zu überwinden ist, und Erfahrungen in der Vergangenheit.

In einer Zusammenfassung von Samuele Marcoras Psychobiologischem Modell des Ausdauersports, die 2013 veröffentlicht wurde, schrieben brasilianische Physiologen, dass »Anstrengungswahrnehmung die bewusste Wahrnehmung der Befehle sei, die der zentrale Motor an die aktiven Muskeln aussendet«. Anders ausgedrückt ist Anstrengungswahrnehmung das Gefühl der Aktivität im Gehirn, die die Muskeln zur Arbeit anregt; es ist nicht das Gefühl der eigentlichen Muskelarbeit. Abgesehen von Reflexen beginnt jede Muskelarbeit mit einem bewussten Willensentschluss dafür. Dieser Befehl entsteht in der motorischen Rinde des Gehirns und dem supplementär-motorischen Bereich. Wissenschaftler können die Intensität dieser Befehle messen, und diese Messung wird als bewegungskorreliertes kortikales Potenzial (MRCP) bezeichnet. Marcora hat aufgezeigt, dass MRCP und Anstrengungswahrnehmung bei maximaler Intensität hoch sind und auch, dass sie kovariant steigen, wenn man über einen längeren Zeitraum bei niedriger Intensität trainiert. Das ist ein zwingender Beweis dafür, dass Anstrengungswahrnehmung tatsächlich mit der Hirnaktivität, nicht mit der der Muskeln, verknüpft ist.

Wenn erfahrene Ausdauerathleten einen Wettkampf über eine gewohnte Strecke absolvieren, tendiert die wahrgenommene Anstrengung dazu, linear anzusteigen, bis sie kurz vor der Ziellinie ihren Höhepunkt erreicht. Aber die wahrgenommene Anstrengung ist etwas Subjektives und deshalb etwas, das sich je nach den Umständen drastisch verändern kann. Wenn Athleten es wirklich wollen, sind sie in der Lage, mehr wahrgenommene Anstrengung auszuhalten, als wenn sie vergleichsweise unmotiviert sind. Folglich ändert sich ihre Pacing-Strategie. Wahrgenommene Anstrengung gleicher Intensität kann dazu führen, dass sie die Geschwindigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Rennen, für das sie nicht motiviert sind, beibehalten, während sie am entsprechenden Punkt eines Rennens, das ihnen wichtig ist, das Tempo erhöhen.

Sich bewusst zu sein, wie weit es noch bis ins Ziel ist, beeinflusst ebenfalls, wie eine bestimmte Intensität wahrgenommener Anstrengung interpretiert und genutzt wird. Ein Läufer, der bei Kilometer 4 eines 10-Kilometer-Rennens eine bestimmte Intensität wahrgenommener Anstrengung spürt, könnte Panik bekommen und langsamer werden, während ein Läufer, der die gleiche Intensität bei Kilometer 7 eines 10-Kilometer-Rennens spürt, einen Selbstbewusstseinsschub bekommen und schneller werden könnte.

Diese Berechnungen werden wiederum stark beeinflusst durch die vorhandenen Erfahrungen. Durch sie lernen Athleten, wie sie sich an verschiedenen Punkten von Rennen unterschiedlicher Länge fühlen sollten. Ein erfahrener Athlet geht in jeden Wettkampf mit vorprogrammierten Erwartungen daran, wie er sich an verschiedenen Punkten erwartungsgemäß fühlen könnte. Jede Abweichung zwischen der Erwartung und dem tatsächlichen Gefühl wird dazu führen, dass die Geschwindigkeit entsprechend angepasst wird. Ein Athlet, der regelmäßig vor einem Zeitfahren Nitrate einnimmt, wird sich wahrscheinlich besser fühlen als erwartet und schneller fahren als sonst, während ein Athlet, dem Interleukin-6 (ein zellsimulierender Faktor, der in Verbindung mit Ermüdung gebracht wird) verabreicht wird, bevor er ein Zeitfahren absolviert, wird sich vermutlich schlechter als erwartet fühlen und folglich langsamer als sonst fahren.

Die wahrgenommene Anstrengung hat zwei Schichten. Die erste ist, wie sich der Athlet fühlt. Die zweite, wie er das, was er fühlt, empfindet. Die erste Schicht ist rein körperlich, während die zweite emotional oder affektiv ist. Grob gesagt kann ein Athlet entweder eine gute oder eine schlechte Einstellung zu jedem beliebigen Niveau von Unbehagen haben. Wenn er eine gute Einstellung dazu hat, wird ihn das Gefühl weniger stören und er wird wahrscheinlich mehr Druck machen. Studien haben gezeigt, dass Athleten, wenn sie sich während eines Wettkampfs schlechter als erwartet fühlen, dazu neigen, eine schlechte Einstellung gegenüber ihrem Unbehagen zu entwickeln und infolgedessen das Tempo noch mehr reduzieren, als sie eigentlich müssten. Natürlich bräuchten sie von einem rein körperbezogenem Standpunkt aus betrachtet das Tempo überhaupt nicht zu reduzieren.

Im Jahr 2005 untersuchte Alan St. Clair Gibson den Effekt nicht erfüllter Erwartungen auf die Wahrnehmung von Anstrengung anhand einer Gruppe von 16 gut trainierten Läufern. Das Experiment bestand aus zwei Teilen. Im ersten Teil sollten die Probanden gleichmäßig 20 Minuten lang auf einem Laufband laufen. Nach jeder Minute sollten sie angeben, wie hoch sich die wahrgenommene Anstrengung anfühlte, und ihren »positiven Affekt« bewerten, also einschätzen, wie sehr sie das, was sie gerade taten, genossen. Im zweiten Teil des Experiments sollten die Probanden nur zehn Minuten lang bei gleicher Geschwindigkeit laufen, ihnen wurde aber am Ende dieser zehn Minuten gesagt, dass sie noch weitere zehn Minuten laufen sollten. Der zweite Lauf war im Prinzip also mit dem ersten identisch, aber die Probanden hatten erwartet, dass er kürzer sein würde und deshalb leichter. Die tatsächliche Anordnung der beiden Läufe war randomisiert.

Als St. Clair Gibson die Daten durchsah, die er gesammelt hatte, stellte er fest, dass die Bewertung der wahrgenommenen Anstrengung sprunghaft nach oben ging und der positive Affekt in den Keller rauschte, gleich nachdem den Läufern gesagt worden war, dass sie zehn Minuten länger würden laufen müssen, als sie erwartet hatten. Die Läufer fühlten sich auf rein physischer Ebene nicht schlechter, aber sie entwickelten eine schlechte Einstellung dazu, wie sie sich fühlten, und fühlten sich folglich schlechter.

Untersuchungen zur Psychologie des Gehirns haben ähnliches ergeben. Einige Studien haben den Effekt zweier kontrastierender antizipierender Haltungen – Akzeptanz und Unterdrücken – auf die Schmerzwahrnehmung verglichen. Einige Menschen neigen von Natur aus dazu, auf die Wiederholung bekannter Schmerzstimuli mit Akzeptanz zu reagieren. Sie sagen sich: Das wird wehtun, aber nicht mehr als vorher. Andere Menschen versuchen, die gleiche Situation durch Unterdrücken zu bewältigen, also einer Form von Verleugnung. Sie sagen sich: Ich hoffe wirklich, dass es diesmal nicht so wehtun wird wie beim letzten Mal. Psychologen sind zu der Erkenntnis gelangt, dass im Vergleich zum Unterdrücken die Akzeptanz Schmerz weniger unangenehm werden lässt, ohne dass der Schmerz als solcher nachlässt. Deshalb ist sie eine effektivere Bewältigungsstrategie.

Die gleiche Strategie reduziert auch die wahrgenommene Anstrengung. In einer Studie aus dem Jahr 2014 betrachtete die Psychologin Elena Ivanova die Auswirkungen einer bestimmten Art der Psychotherapie namens Akzeptanz- und Commitment-Therapie auf die Ausdauerleistung einer Gruppe unsportlicher Frauen. Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie beinhaltet zu lernen, unangenehme Gefühle als unvermeidliche Begleiterscheinung bestimmter Erfahrungen – in diesem Fall sportliche Betätigung – zu akzeptieren. Ivanova stellte fest, dass die Therapie die wahrgenommene Anstrengung bei hoher Intensität um 55 Prozent reduzierte und den Erschöpfungszeitpunkt bei gleicher Intensität um 15 Prozent hinauszögerte.

Der Volksmund bezeichnet eine annehmende Haltung gegenüber einer bevorstehenden unangenehmen Erfahrung als »sich zu wappnen«. Viele von uns setzen diese Bewältigungsstrategie instinktiv ein, um im Alltag Dinge wie einen Zahnarztbesuch weniger unangenehm erscheinen zu lassen. »Tatsächlich«, so die Beobachtung der Psychologen Jeff Galak und Tom Meyvis in einem Artikel von 2011, »entscheiden sich Leute oft dafür, bei einer bevorstehenden Erfahrung das Schlimmste zu erwarten in der Hoffnung, einen vorteilhafteren Kontrast zwischen Erwartung und Realität zu schaffen.«

Im Kontext von Ausdauerwettkämpfen kann dieser »vorteilhafte Kontrast« die Leistung verbessern. Je unangenehmer es in der Erwartung des Athleten wird, desto mehr kann er aushalten, und je mehr Unbehagen er aushalten kann, desto schneller kann er sich vorwärtsbewegen. Es ist also kein Wunder, dass Top-Ausdauersportler sich für wichtige Wettkämpfe grundsätzlich wappnen. Der großartige britische Läufer Mo Farah sagte einem Reporter des Daily Mirror vor seinem ersten Marathon: »Das wird das härteste Rennen meines Lebens.« Er war nicht negativ, er wappnete sich.

Man weiß nie, wie sehr das nächste Rennen wehtun wird. Die Wahrnehmung der Anstrengung ist ein Rätsel. Man kann sich in zwei Rennen ähnlich anstrengen und dennoch bei dem einen Rennen »über dem Schmerz stehen«, während man von ihm in dem anderen Rennen überwältigt wird. Weil man nie weiß, was auf einen zukommt, bis es so weit ist, gibt es immer die verlockende Hoffnung – vielleicht nicht ganz bewusst – dass der nächste Wettkampf keiner von der zermürbenden Sorte sein wird. Diese Hoffnung ist eine schlechte Bewältigungsstrategie. Sich zu wappnen – also stets zu erwarten, dass das nächste Rennen das härteste werden wird – ist ein wesentlich reiferer und effektiverer Ansatz, um sich mental für den Wettkampf zu rüsten.

Jenny Barringer hatte sich nicht gegen das Unbehagen gewappnet, das sie bei den NCAA Cross Country Championships 2009 hätte erwarten sollen, und dies hat sie ins Verderben gestürzt. Ihr erster Fehler war, dass sie ihren Blick auf die Zeit nach dem Wettkampf gerichtet hat. Die Veranstaltung in Terre Haute sollte ihr Abschied als Hobbyläuferin sein. Bald danach wollte sie einen Agenten verpflichten, einen hoch dotieren Vertrag unterschreiben und eine Karriere als professionelle Athletin beginnen. Obwohl Jenny sich dafür entschieden hatte, für die Cross-Country-Saison 2009 nach Colorado zurückzukehren, um ihr Versprechen zu halten und sich einen Traum zu erfüllen, war sie bereit, den nächsten Schritt zu gehen – und auf ganz entscheidende Weise war sie diesen Schritt schon vor ihrem albtraumhaften letzten Wettkampf im Trikot der Buffaloes gegangen.

Sie erzählte Ryan Fenton von Flotrack am Tag nach der Katastrophe: »Ich habe einen oder zwei Monate vor dem Wettkampf angefangen, mir zu sagen: ›Ich kann es nicht erwarten, bis die Meisterschaften vorbei sind.‹ Das habe ich noch nie gedacht. Ich habe mich immer wirklich auf diese Veranstaltungen gefreut.«

Zusätzlich dazu, dass sie ihren Blick auf die Zeit nach dem Rennen selbst gerichtet hatte, hatte sie auch nicht auf die Konkurrenz geschaut. »Das war ein weiterer Fehler«, sagte sie zu Fenton. »Ich bin gestern nicht einfach nur angetreten, um zu gewinnen. Ich musste Sallys Streckenrekord brechen und mit 30 Sekunden Vorsprung gewinnen.«

Egal wie sehr sich ein Athlet in einem Rennen pusht, mit 30 Sekunden Vorsprung zu gewinnen bedeutet, mit Leichtigkeit zu gewinnen. Jennys Ziele spiegelten die Erwartung wieder, das Rennen locker zu gewinnen – im doppelten Wortsinn. Diese Erwartung war nicht unangemessen, da sie zuvor jeden Wettkampf dieser Saison gewonnen hatte, ohne richtig gefordert worden zu sein. Aber als Konsequenz dieses Spaziergangs hatte Jenny nicht nur aufgehört zu erwarten, dass sie gegen die College-Konkurrenz leiden würde, sondern auch die Übung darin verloren.

Erfahrene Athleten verlieren leicht das Gefühl dafür, wie intensiv das Leiden, das sie im Rennen fühlen, wirklich ist. Sie gewöhnen sich daran, was eine gute Sache ist, denn sich ans Leiden zu gewöhnen härtet sie ihm gegenüber ab. Aber diese Toleranz besteht nur so lange, wie ein Athlet ausreichend gewappnet ist. Jeder Athlet, der einer Wettkampfbelastung außerhalb dieses Kontexts ausgesetzt wäre, würde sofort wieder vollen Respekt dafür bekommen, wie schrecklich sie ist. Wenn ein Läufer beispielsweise beim Treppensteigen zu Hause plötzlich eine ähnlich hohe Belastung fühlen würde wie auf dem letzten Kilometer seines härtesten Marathons, würde er vermutlich zusammenbrechen und um Hilfe schreien, weil er glaubte, er würde sterben.

Zugegeben, Jenny Barringer wurde vom Leiden bei den NCAA Cross Country Championships nicht ganz so kalt erwischt. Aber Susan Kuijkens Kampfansage und das Unbehagen, das sie in Jenny hervorrief, kamen überraschend genug, um sie in Panik geraten zu lassen. Zwar waren einige Aspekte ihres »epischen Zusammenbruchs« (um es mit Sean McKeons prophetischer Formulierung auszudrücken) bizarr. Sich dermaßen plötzlich »nicht so gut zu fühlen« und sich nach dem Zusammenbruch wieder komplett zu erholen, das hatte es zuvor noch nie gegeben. Vielleicht werden wir nie ganz verstehen, warum alles so gekommen war. Aber dennoch ist die einzige Erklärung, die Sinn ergibt, die von Jenny selbst.

»Ich habe mir selbst eine Falle gestellt«, sagte sie.

AM 3. DEZEMBER 2009, nur ein paar Wochen nach Terre Haute, verpflichtete Jenny Barringer den Leichtathletik-Superagenten Ray Flynn, der sie in beruflichen Belangen vertreten sollte. Flynn zettelte alsbald einen heftigen Bieterkrieg zwischen den führenden Laufschuhmarken an. Jennys Einbruch bei den NCAAs hatte das Glänzen in den Augen der Marketingverantwortlichen nicht verschwinden lassen. Im Januar unterschrieb Jenny einen Mehrjahres-Vertrag mit New Balance. Drei Wochen später verpflichtete sie einen neuen Trainer und legte ihre Fitness in die Hände von Juli Benson, einer ehemaligen Olympia-Mitteldistanzläuferin, die nun Cross-Country-Läufer und Leichtathleten an der U. S. Airforce Academy in Colorado Springs trainierte.

Benson und Jenny kamen überein, dass sie sich eine längere Wettkampfpause gönnen würde, um ihre mentalen und körperlichen Akkus aufzuladen und sich aufs Training zu konzentrieren. Ihr erstes Rennen als Profi waren die 1.500 Meter beim Payton Jordan Invitational, das am 1. Mai 2010 an der Stanford Universität ausgetragen wurde. Sie hatte in ihrem Interview mit Flotrack am Morgen nach der Katastrophe mit Nachdruck geschworen, dass sich so ein Debakel wie in Terre Haute nicht wiederholen würde. Aber als ihr Debüt näher rückte, drückte die Erinnerung schwer auf ihr Gemüt. Trotz ihrer Aufregung gewann sie locker. Nachdem sie die Ziellinie überquert hatte, feierte Jenny, als hätte sie gerade Olympia-Gold gewonnen. Ein paar Tage später hatte ich die Gelegenheit, Jenny zu fragen, ob ihre Erleichterung etwas mit dem Trauma ihres letzten Rennens zu tun gehabt hatte.

»Die Freude, die am Ende meines Rennens aus mir herausgebrochen ist, war tatsächlich der Triumph über dieses Trauma«, antwortete sie mir. »Allein, nur durch dieses erste Rennen zu kommen, war schon ein mentaler Sieg.«

Mit dieser Last von den Schultern konnte Jenny sich nun auf ihr großes Ziel, auf der Weltbühne zu gewinnen, konzentrieren. Im Februar 2011, sie war inzwischen verheiratet und trug den Nachnamen Simpson, gewann sie die Rennen über 1.500 und 3.000 Meter bei den USA Track and Field Indoor Championships. Vier Monate später wurde sie über die 1.500 Meter Zweite hinter Morgan Uceny bei den USA Track and Field Championships und qualifizierte sich für die Weltmeisterschaft in Daegu, Südkorea. In Daegu kam Jenny von den Vorläufen ins Semifinale und schließlich ins Finale.

Das Frauen-Finale mit 12 Teilnehmerinnen fand unter den Lichtern des Daegu Stadions am Abend des 1. Septembers um 20.55 Uhr statt. Die besten Kurzstrecklerinnen der Welt gingen hinter der gebogenen Startlinie in Position, Jenny stand auf der äußersten Bahn. Sie sah nervös aus und war es auch – so nervös, wie sie an der Startlinie der NCAA Cross Country Championship 2009 vor 21 Monaten gewesen war. Aber ihre Gedanken waren andere.

Jennys erster Gedanke war, dass 25 Prozent der Frauen in diesem Rennen eine Medaille mit nach Hause nehmen würden – ziemlich gute Gewinnchancen also. Ihr nächster Gedanke war, dass sie sich nicht wirklich auf ihr Glück verlassen wollte; sie wollte um einen Platz in den Top 3 kämpfen. Ihr letzter Gedanke war, dass die amerikanische Nationalhymne ihr zu Ehren gespielt werden würde, wenn sie das Rennen gewinnen sollte, und dass ihre Schwester Emily, die gerade der Armee beigetreten war, die Zeremonie später sehen und hören würde. Alle elf Frauen zu ihrer Linken zu schlagen würde härter werden als alles, was Jenny zuvor gemacht hatte – es würde ihr alles abverlangen und vielleicht würde nicht einmal das gut genug sein. Aber sie war entschlossen, sich nicht mit weniger zufrieden zu geben.

Der Startschuss knallte und die Läuferinnen schossen über die schlumpfblaue Bahn auf der Suche nach einer taktisch vorteilhaften Position – nicht in Führung, aber in der Nähe der Führenden. Jenny kam nicht schnell genug aus ihrem Startblock und durchlief die erste Kurve als Vorletzte.

Wie so oft in 1.500-Meter-Rennen der Fall, geriet das Tempo im Feld nach dem ersten wilden Gefecht um die Positionen schnell ins Stocken. Jenny nutzte die reduzierte Geschwindigkeit, um auszuscheren und nach vorn zu laufen, wo sie sich rechts von der früh in Führung gegangenen Mimi Belete aus Bahrain einordnete. Maryam Jamal, ebenfalls aus Bahrain, fand Jennys Idee ziemlich gut und tat es ihr gleich. Sie zog nach vorn und setzte sich direkt vor Jenny, bevor sie langsamer wurde und den Neuling einen Platz nach hinten zwang.

Belete blieb jedoch ganz vorn und führte das Feld über 400 Meter in einer recht langsamen Zeit von 1:08,78 Minuten. Die Spurtstarken im Feld, besonders Natalia Rodriguez aus Spanien, hätten nicht glücklicher sein können. Wenn das Trödeln weiterging, wären diejenigen, die am Schluss richtig Gas geben können, gut positioniert, um das Rennen in der letzten Runde an sich zu reißen.

Es war im Interesse aller anderen, ein ehrliches Rennen zu machen, dennoch traute sich niemand, die Bürde der Führung von Belete zu nehmen, die ihrerseits das Tempo moderat anzog, aber nicht genug, um irgendjemanden unter Druck zu setzen. Die gedrängte Pulkformation, in der die Läuferinnen unterwegs waren, führte dazu, dass sich viele Ellbogen in Rippen bohrten und Spikes mit Schienbeinen in Kontakt kamen.

Belete passierte die 800-Meter-Marke nach 2:13,94 Minuten. Es waren noch 300 Meter, bevor die letzte Runde eingeläutet werden würde, und die Läuferinnen begannen, verstärkt zu drängeln. Die Läuferinnen von hinten drückten nach vorn. Diejenigen, die am Rand eingeklemmt waren, erzwangen sich ihren Weg nach außen. Die Frauen, die bereits gut positioniert waren, kämpften um ihren Platz. Jenny gewann einen Platz und rutschte von Position 12 auf 11, wo sie zumindest außer Reichweite von Ellbogen und Spikes war.

Rodriguez war die erste, die Beletes Führung anfocht. Das setzte eine Kettenreaktion in Gang. Alle warfen sich auf einmal nach vorn, in einem Versuch, der Spanierin an den Fersen zu bleiben. Obiri touchierte Rodriguez’ Ferse von hinten und die Kenianerin stürzte auf die Bahn. Morgan Uceny konnte nicht mehr rechtzeitig reagieren und ging ebenfalls zu Boden. Jenny fand eine schmale Lücke zwischen den Gestürzten. Das Gedränge unter den verbleibenden Läuferinnen wurde nur noch schlimmer: Einige Athletinnen schoben sich auf die dritte und vierte Bahn in dem panischen Versuch, nach vorn zu kommen, während diejenigen, die in der Mitte eingekeilt waren, versuchten, über die Läuferinnen vor sich hinwegzurennen.

Als die letzte Runde eingeläutet wurde, war Jenny an letzter Stelle einer achtköpfigen Führungsgruppe, in der auch eine kämpfende Jamal – die fast gestürzt war – direkt rechts neben ihr lief. Jenny musste nach vorn, und um das zu schaffen, musste sie von der Bahninnenseite wegkommen. Sie wurde gerade so viel langsamer, dass Jamal einen Schritt vor ihr rannte, zog nach rechts und flog an Jamal und Karakaya vorbei, während die nun führende Rodriguez die Gruppe aus der zweiten Kurve in die Gerade führte.

Das Tempo wurde immer schneller, als sie auf Kurve drei zurannten. Jenny war jetzt nur noch einen Schritt hinter Rodriguez, steckte aber hinter der Norwegerin Ingvill Bovim auf Bahn zwei fest und musste ein paar Extrameter zurücklegen.

Beim Einbiegen auf die Zielgerade machte Jenny einen noch größeren Bogen bis auf Bahn drei. Rodriguez hatte sich nun von ihrer direkten Verfolgerin Kalkidan Gezahegne aus Äthiopien abgesetzt.

Mit schwingenden Armen schoss Jenny an Bovim vorbei. Jeder ausgreifende Schritt schluckte zweimal so viel Bahn, so schien es, wie die kürzer werdenden Schritte von Rodriguez. Vierzig Meter vor der Ziellinie setzte sich Jenny an die Spitze.

Die Britin Hannah England kämpfte wie eine Löwin hinter ihr, aber mit nur noch 20 verbleibenden Rennmetern konnte sie keinen Boden mehr gut machen. Jenny lief nach 4:05,40 Minuten als Erste über die Ziellinie. Sie war die neue Weltmeisterin über 1.500 Meter.

Jenny legte die Hände auf den Kopf und schüttelte ihn in ekstatischem Unglauben. Sie lachte und weinte gleichzeitig. Sie sprang mit ihren Fäusten in der Luft auf und ab, zog ihre Knie hoch wie ein Cheerleader am höchsten Punkt eines Sprungs. In einem Interview Minuten später gab Jenny das zu, was diese Sequenz merkwürdigen Verhaltens bereits offenkundig gemacht hatte: Sie hatte das wirklich nicht erwartet. Sie hatte lediglich erwartet, dass sie härter laufen würde als jemals zuvor und dass sie sich dem Kampf ihres Lebens würde stellen müssen bei dem Versuch, dorthin zu kommen, wo sie jetzt war. Und was genau der Grund dafür war, dass sie war, wo sie war.

Jenny wurde von einer großen amerikanischen Flagge aus ihrem Delirium, in dem sie sich seit ihrem Finish befand, gerettet, die sie sich umwickelte wie einen Umhang, als sie auf die Siegesrunde ging.

In weniger als zwei Jahren hatte sich Jenny Barringer (Simpson) von einem 163. Platz bei einer College-Meisterschaft auf den ersten Platz in einem Weltmeisterschafts-Finale katapultiert. Sie war gefallen. Aber sie war wieder aufgestanden – und hatte gelernt, dass man sich, egal wie talentiert und erfolgreich man ist, immer gegen das Schlimmste wappnen muss, um im Wettkampf sein Bestes geben zu können.

Siegen ist Kopfsache

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