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Kapitel 3 Die Zeit spielt für Sie

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KAPITEL 3

Die Zeit spielt für Sie

GREG LEMOND WACHTE in einem fremden Bett auf. Für eine Sekunde oder zwei wusste er nicht, wo er war, sein Verstand mäanderte irgendwo an der Grenze zwischen Schlaf und Erwachen. Dann erinnerte er sich. Er war in einem Hotelzimmer in Versailles, Frankreich. Es war Sonntag, der 23. Juli 1989. Um 16.14 Uhr desselben Tages würde er in die letzte Etappe der Tour de France starten. Es sollte das wichtigste Rennen seines Lebens werden.

Er zog sich ein gelbes T-Shirt und ausgebeulte blaue Shorts an und ging hinunter ins Erdgeschoss, wo er sich an einen langen Tisch setzte und mit seinen Kollegen des Team ADR ein herzhaftes Frühstück aus Pasta, Brot, Frühstücksflocken, Eiern und Kaffee zu sich nahm. Eine Stunde später saßen sie auf ihren Rädern, pedalierten entspannt vor sich hin und machten die Beine locker für später. Der Himmel über ihnen war bewölkt, als sie vom Hotel wegfuhren, aber als sie von der Ausfahrt zurückkamen, waren die Wolken verschwunden und die Temperatur war in den hohen 20er-Bereich geklettert.

Später erzählte Greg dem Journalisten Sam Abt, was er seinem Trainer, Otto Jácome, gesagt hatte: »Meine Beine sind gut. Ich werde einen sehr guten Tag haben.«

Es gab noch jede Menge Zeit totzuschlagen. Als Zweitplatzierter der Gesamtwertung (G. C.) würde Greg beim abschließenden Einzelzeitfahren über 24,5 Kilometer als Vorletzter der 134 noch übrigen Teilnehmer starten, zwei Minuten vor dem Franzosen Laurent Fignon, dem Führenden. Fignon hatte die Tour de France schon zwei Mal gewonnen, lag nach 20 Etappen und mehr als 2.000 Kilometern aber nur 50 Sekunden vor Greg. Greg war der stärkere Zeitfahrer, aber er hätte unwahrscheinliche zwei Sekunden pro Kilometer zwischen Versailles und Paris gut machen müssen, um Fignon im G. C. zu überholen und seinen eigenen zweiten Tour-de-France-Sieg zu holen. Wie auch immer es ausgehen würde, es würde das engste Finale in der 76-jährigen Geschichte der Veranstaltung werden.

Gregs zahlreiche Fans in Amerika und auf der ganzen Welt betrachteten es als Sieg genug, dass er überhaupt auf dieser Position lag. Zwei Jahre zuvor hatte Gregs Schwager Pat Blades ihm aus einer Entfernung von 30 Metern in den Rücken geschossen. Der Unfall ereignete sich am 20. April 1987 auf dem Anwesen von Gregs Onkel Rod LeMond in Lincoln, Kalifornien. Greg hätte in Europa sein, mit dem Team La Vie Claire Rennen fahren und sich auf die Verteidigung seines Tour-Titels vorbereiten sollen, den er im vergangen Juli gewonnen hatte. Aber bei einem Sturz in Italien hatte er sich einen Knochen in der linken Hand gebrochen und war in die Staaten zurückgeschickt worden, um wieder gesund zu werden. Gegen Ende seiner sechswöchigen Genesungsphase überredete Gregs Onkel ihn dazu, eine kurze Auszeit vom Training zu nehmen und auf die Jagd nach wilden Truthähnen zu gehen. Greg erinnert sich an jedes Detail dieses lebensverändernden Morgens und hat diesen in Interviews unzählige Male in der Öffentlichkeit wiedergegeben.

Greg und Rod LeMond waren beide erfahrene Jäger. Pad Blades nicht. Sie machten sich um 7.30 Uhr morgens auf und trennten sich, um ein größeres Gebiet abzudecken. Greg ging nach links, Onkel Rod nach rechts und Blades geradeaus, alle drei trugen Tarnkleidung. Greg kauerte sich unter einen Beerenbusch und wartete. Nach einer Weile hörte er Blade pfeifen. Weil er das Wild in seiner Nähe nicht auf sich aufmerksam machen wollte, entschied er sich dafür, nicht zu antworten. Stattdessen stand er auf und hatte eigentlich vor, nach vorn in ein neues Versteck zu kriechen. Seine Bewegungen ließen den Beerenbusch wackeln. Als Blades die Bewegung sah, zielte er schnell, drückte ab und jagte seinem Schwager eine Ladung Schrot in den Rücken.

Greg fand sich auf dem Boden wieder, ohne zu wissen, wie er dort hingekommen war. Sein ganzer Körper war taub. Er versuchte aufzustehen, ihm wurde schwindelig und er fiel zurück in den Dreck. Er versuchte zu sprechen, aber er konnte nur krächzen, ein eingefallener Lungenflügel ließ allein schon das Atmen zu einem Kampf werden – ganz zu schweigen davon, nach Hilfe zu rufen. Erst jetzt wurde Greg mit blankem Entsetzen bewusst, dass er angeschossen worden war.

»Was ist passiert?«, rief Blades aus seinem Versteck heraus.

Greg konnte nicht antworten. Er hörte krachende Schritte und sah dann seinen Schwager über sich stehen. Blades’ Gesichtsausdruck zeigte keine Überraschung – ein reflexartiger Versuch, seinen Schrecken zu verbergen, um sein versehentliches Opfer nicht in Panik zu versetzen. Es klappte nicht. Greg begann zu stammeln.

»Ich werde sterben! Ich werde meine Frau nie wiedersehen! Ich werde nie wieder Rennen fahren!«

Bald schon schrie auch Blades. Rod LeMond hörte den Krawall und rannte herbei. Der Anblick des blutüberströmten, zusammengekrümmten Körpers seines Neffen traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Blades und Onkel Rod berieten sich flüsternd und kamen schnell überein, dass sie Greg auf die Füße und aus dem Wald bringen mussten – so schnell wie möglich. Aber sie waren sich nicht einig, wie sie das anstellen sollten. Vor Gregs innerem Auge rannen die Körner aus der Sanduhr seines Lebens, während die beiden Männer diskutierten.

»Ruft einfach den Krankenwagen!«, unterbrach er.

Onkel Rod rannte zum Haus und wählte den Notruf. Minuten später war er zurück an der Unglücksstelle. Kein Krankenwagen würde dorthin gelangen, wo Greg lag, also versuchten Blades und Onkel Rod ihn hochzuheben, aber die Bewegung löste ein Schmerzinferno in Gregs rechter Schulter aus, die den Großteil der Ladung abbekommen hatte.

»Hol dein Auto«, sagte Greg.

Onkel Rod rannte nochmals zum Haus und rumpelte mit seinem Pickup zurück. Mit Unterstützung der anderen hievte sich Greg in den Wagen, wo er auf Hilfe wartete. Zehn Minuten vergingen. Kein Krankenwagen in Sicht. Fünfzehn Minuten. Gregs Shirt war nun blutdurchtränkt. Zwanzig Minuten. Es wurde langsam knapp für ihn.

Nach 25 Minuten startete Onkel Rod den Wagen und fuhr an die Grundstücksgrenze. Sie kamen an das verschlossene Tor, hinter dem ein Krankenwagen, ein Feuerwehr- und ein Polizeiauto untätig herumstanden, als ob sie sich für eine Parade am Unabhängigkeitstag aufgestellt hätten.

Ein Team von Sanitätern verfrachtete Greg auf eine Trage, schnitt sein Shirt auf und begann mit der Arbeit. Das nächste Krankenhaus war 35 Minuten entfernt, die Straßen waren schlecht. Greg wusste, dass er vermutlich verblutet sein würde, bevor er dort ankam. Erschüttert von seinen dunklen Gedanken hörte Greg das unverwechselbare Geräusch eines Hubschraubers. Es war ein Helikopter der California Highway Patrol, der zufällig gerade über die Gegend geflogen war, die Funkgespräche gehört hatte und schnurstracks zum Anwesen von Rod LeMond geflogen war. Greg wurde schnell eingeladen und zum Krankenhaus der Universität von Kalifornien-Davis gebracht, die sich auf die Behandlung von Schusswunden und anderen Traumen spezialisiert hatte. Der Flug dauerte elf Minuten.

Er verbrachte fünf Stunden im Operationssaal. Der Chirurg konnte nur die Hälfte der 60 Schrotkugeln entfernen, die in ihm steckten; der Großteil der anderen würde für den Rest seines Lebens in Greg bleiben, eingebettet in seine Herzhaut.

Als er aufwachte, wurde Greg gesagt, dass er tatsächlich verblutet wäre – mit 26 Jahren –, wenn nicht das Wunder mit dem vorbeifliegenden Hubschrauber geschehen wäre, er sich aber nun vermutlich wieder ganz erholen würde. Allerdings würde das sehr lange dauern, und in der Zwischenzeit würde er fast seine gesamte Fitness verlieren, die er in 12 Jahren Radrennen erlangt hatte. Bei seinem Comeback würde er bei Null anfangen.

Greg verlor in den ersten zehn Tagen seiner Reha fast fünf Kilo Gewicht. Seine längste Trainingseinheit in dieser Phase war ein Spaziergang von sechs Metern Länge. Erst sechs Wochen nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, stieg er wieder auf ein Rad. Er fing mit fünf Kilometern an und steigerte sich mit jeder Ausfahrt. Zwei Monate nach dem Unfall war Gregs Blutvolumen endlich wieder auf normalem Stand.

Im September nahm Greg wieder an Rennen teil. Seine Ergebnisse waren wenig beeindruckend (er wurde 44. bei der Irland-Rundfahrt), aber das war zu erwarten in so einer frühen Phase seines Wettkampf-Comebacks. Der Grund, warum er wieder am Renngeschehen teilnahm, war lediglich, dass er seine Wettkampf-Beine wieder bekommen und den Grundstock legen wollte, um für die Saison 1988 in Form zu kommen. Alarmierend war jedoch, dass Gregs Form im November nicht besser war als noch vor zwei Monaten. Er sagte sein letztes Rennen der Saison, die Mexiko-Rundfahrt, ab, weil er die Hügel nicht hinaufkam.

Gregs erstes Rennen 1989, die Ruta del Sol in Spanien, verlief nicht besser. Diesmal mussten seine Teamkollegen ihn die Anstiege hinaufschieben. Einige Wochen später stürzte Greg wieder. Er verletzte sich nur leicht an einem Muskel in seiner rechten Wade, aber als er nach zwei Wochen Pause zu aggressiv wieder ins Training einstieg, wurde das Problem chronisch. Statt im Juli die Tour de France zu fahren, wurde er operiert.

Im Herbst stieg Greg wieder in den Rennzirkus ein, aber wenig erfolgreich, und er hatte Mühe, den für ihn typischen Optimismus zu wahren. »Ich fühle mich besser, fange aber wieder einmal ganz von vorn an«, sagte er der New York Times. »Ich fange immer von ganz vorn an.«

Dass Greg keine guten Ergebnisse einfuhr, belastete das Verhältnis zwischen ihm und seinem neuen Arbeitgeber, dem Team PDM. Die Spannung führte zum Bruch, als die Teamleitung ihren kämpfenden Starfahrer unter Druck setzte, sich Testosteron spritzen zu lassen, ein verbotenes, leistungssteigerndes Mittel, und er sich weigerte. So oder so war Doping immer ein Teil des Straßenradsports gewesen, aber 1988 war die Situation kurz davor, außer Kontrolle zu geraten. Im Vorjahr war eine Dopingprobe von Laurent Fignon positiv auf Amphetamine gewesen. Einige Wochen später, während der Tour de France, wurde der Spanier Pedro Delgado mit einer steroid-verschleiernden Substanz im Körper erwischt, durfte aber das Rennen beenden – und gewann –, weil die Substanz offiziell nicht verboten war. Greg glaubte, vielleicht etwas naiv, dass solche Betrügereien eher die Ausnahme seien, aber immer normaler wurden und die Methoden immer ausgefeilter.

Nach Gregs Bruch mit PDM erzählte sein Anwalt Ron Stanko einem Reporter der Los Angeles Times: »Ich habe ihnen erklärt, dass wir kein Interesse daran haben, der Leistung mittels Chemie auf die Sprünge zu helfen. Das ist Gregs Einstellung, zu 100 Prozent.« Diese Haltung gründete sich nicht nur auf Gregs Abneigung gegen Betrügereien, sondern auch auf der Überzeugung, dass er talentiert genug war, um ohne Abkürzungen zu gewinnen. Schließlich hatte er das vorher auch geschafft.

An Silvester 1988 unterschrieb Greg bei einem neuen Team, ADR. Er hatte ADR zuvor als Team zweiter Klasse belächelt und behauptet, die Fahrer seien zu schwach, um einen einen Sieganwärter bei der Tour de France zu unterstützen. Aber es war nun das einzige Team, das ihn bezahlen wollte – eher, weil er ein noch junger ehemaliger Tour-de-France-Sieger war und weniger aufgrund seiner zweitklassigen Erfolge als Radprofi in der jüngsten Vergangenheit.

Greg eröffnete die Saison 1989 mit einigen vielversprechenden Ergebnissen, wurde Sechster in der Gesamtwertung des italienischen Radrennens Tirreno – Adriatico und Zweiter auf einer Etappe beim Criterium Internationale. Aber das Versprechen dieser Erfolge erfüllte sich nicht. Im Mai nahm Greg bei der ersten Tour de Trump in den USA teil. Eine Veranstaltung, die durch die knackige Namensgebung, die Spektakel verhieß, im Vergleich zum sonstigen Interesse der Amerikaner am Straßenradsport große öffentliche Aufmerksamkeit erregte. Sie wäre eine ideale Bühne für den ersten amerikanischen Tour-de-France-Gewinner gewesen, um sein Können zu zeigen – wenn er nicht 27. geworden wäre.

Der nächste Stopp für Greg und seine Kollegen vom Team ADR war der Giro d’Italia, eine dreiwöchige Rundfahrt wie die Tour de France. Greg fühlte sich auf dem Rad immer noch nicht ganz wohl, und das schlug sich in den Ergebnissen nieder. Beim ersten Anstieg des Rennens verlor er acht Minuten auf die Führenden. Als er in den folgenden Tagen immer weiter zurückfiel, begann es in Greg zu bröckeln. Nach einer Etappe saß er auf seinem Bett in einem schäbigen Hotelzimmer und weinte. Bitterkeit und Frust ergossen sich aus ihm wie Dampf aus einem geplatzten Rohr. Er sagte seinem Zimmergenossen Johan Lammerts, dass er als Radprofi am Ende wäre. Er könne nicht weiterhin so viel leiden für etwas, das im Vergleich zu früher so wenig war. Es sei Zeit aufzuhören und nach vorn zu schauen.

Lammerts drängte Greg dazu, zumindest den Giro zu beenden, bevor er irgendwelche überstürzten Entschlüsse für seine Zukunft fasste. Greg gab nach, saß am nächsten Morgen wieder im Sattel und krebste erneut am Ende des Feldes herum. Am letzten Tag des Giro lag er 55 Minuten hinter dem Führenden, Laurent Fignon, der selbst nach drei Jahren mit Verletzungen und anderen Rückschlägen in Folge sein Comeback gab. Aber etwas hatte sich seit Gregs Krise im Hotelzimmer geändert: Bei ihm war eine schwere Anämie diagnostiziert worden – vermutlich ein von seinem Unfall verbliebener Effekt – und er hatte eine (völlig legale und medizinisch tatsächlich notwendige) Eisenkur begonnen. Er fühlte sich sofort besser. Die letzte Etappe des Giro war ein 53 Kilometer langes Einzelzeitfahren. Von dem Augenblick an, an dem er die Startrampe verließ, wusste Greg, dass er wieder da war. Zumindest fast. Nach 6 Kilometern holte er einen Fahrer ein, der 90 Sekunden vor ihm gestartet war, und ließ ihn hinter sich. Weitere 15 Kilometer später überholte er den nächsten Fahrer, der einen Vorsprung von drei Minuten gehabt hatte. Greg beendete das Zeitfahren mit der zweitbesten Zeit des Tages und war sogar schneller als Fignon, der den Gesamtsieg um 78 Sekunden retten konnte.

Siegen ist Kopfsache

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