Читать книгу 25 Ideen für den industriellen Mittelstand - Matthias Baumberger - Страница 7

Mehr Freiheit statt Lippenbekenntnisse für den Mittelstand

Оглавление

Alle lieben den Mittelstand. Weit und breit gibt es keine Partei und keine Behörde, die sich nicht – zumindest rhetorisch – zum Mittelstand bekennen würde. Das ist in der Schweiz nicht anders als in Österreich und gehört in Deutschland genauso zum guten Ton wie in Liechtenstein.

Die Beschwörung des Mittelstandes durch die «classe politique» kommt nicht von ungefähr. Ein starker Mittelstand ist das klassische und wichtigste Kennzeichen einer stabilen und friedlichen Wohlfahrtsgesellschaft, deren Wohlstand auf Leistung und einem gut funktionierenden Markt beruht. Allen Unkenrufen über «Abzocker» und die angeblich wachsende soziale Ungerechtigkeit zum Trotz verorten sich im wirtschaftlich erfolgreichen deutschsprachigen Raum die allermeisten Menschen selber im soliden Mittelstand.

In der Schweiz zum Beispiel fühlen sich gemäss einer Umfrage mehr als vier Fünftel der Bevölkerung dem Mittelstand zugehörig. Dieser Anteil ist seit der Jahrtausendwende sogar um acht Prozentpunkte gewachsen. Auch die Verteilung der Einkommen ist erstaunlich stabil; das von linken Kreisen immer wieder angerufene Bild von der sich dramatisch öffnenden Einkommensschere lässt sich nicht nachweisen. Die wirklichen «Abzocker» sind Ausreisser, die ohne Zweifel ärgerlich sind, dem Gesellschaftsvertrag schaden und damit ein Vertrauensproblem schaffen. Statistisch fallen sie aber kaum ins Gewicht. Den Wohlstand des Mittelstands bedrohen sie jedenfalls nicht unmittelbar. Der Mittelstand ist also das Mass der Dinge im deutschsprachigen Raum. Das macht ihn politisch attraktiv; hier sind die meisten Stimmen zu holen.

Doch vertritt die Politik jenseits ihrer einschlägigen Bekenntnisse tatsächlich auch die Interessen des Mittelstandes? Und was könnte sie dabei allenfalls besser machen? Diesen Fragen will diese Schrift auf den Grund gehen. Das Thema ist ebenso aktuell wie vorrangig. Denn der angestammte Mittelstand, der den Wohlfahrtsstaat nach dem Krieg aufgebaut hat, sieht sich im Dunstkreis von Zuwanderung, Alterung, Globalisierung, Klimawandel, wachsender Umverteilung und fortschreitender Bürokratisierung und Abgabenlast fast überall unter Druck. Wachstumsskepsis einerseits und Abstiegsangst anderseits prägen die Gefühlslage in den Industriestaaten. Ob sich diese subjektiven Empfindungen tatsächlich mit harten Fakten belegen lassen, ist eigentlich irrelevant. Das fraglos vorhandene mittelständische Unbehagen darf der Politik so oder so nicht egal sein, wenn sie es mit ihrem Bekenntnis zum Mittelstand wirklich ernst meint. Denn geht es dem Mittelstand nicht gut, steht es um das ganze Land schlecht.

Doch was genau ist eigentlich der Mittelstand, als dessen Förderer sich die Parteien gerne medienwirksam präsentieren? Der Begriff des Mittelstandes ist vielschichtig und alles andere als scharf definiert. Er ist einerseits ein Oberbegriff. Dieser wiederum umfasst sowohl eine Bevölkerungsschicht als auch ein Wirtschaftssegment, das stark unternehmerisch geprägt ist. Diese beiden Spielformen des Mittelstands sind keine getrennten Welten. Sie haben viele charakteristische Gemeinsamkeiten und sind gesellschaftlich aufs Engste miteinander verbunden. Wie sich auf den folgenden Seiten noch zeigen wird, leistet der klassische unternehmerische Mittelstand einen zentralen Beitrag zum Gedeihen der Wirtschaft und damit zum sozialen Zusammenhalt, zur Bildung, zur Integration und natürlich zum Wohlstand der ganzen Gesellschaft. Nicht zuletzt ist der Mittelstand stark dezentral. Damit sorgt er dafür, dass Arbeitsplätze auch in peripheren und strukturschwachen Gebieten entstehen und erhalten bleiben. Ein Grosskonzern wird sich kaum je im Calancatal ansiedeln.

Die oben erwähnte Umfrage fokussiert auf die mittelständische Bevölkerungsschicht und bildet dabei vorab die Selbstdefinition der Befragten ab. Ihr Befund ist daher höchst subjektiv; jeder hat hier seine eigene Definition von Mittelstand zum Nennwert genommen. Und doch sagt die Umfrage viel aus über das Wesen des Mittelstands. Ein Mittelständler zu sein ist vielleicht nicht extravagant und auch nicht besonders trendy, aber dennoch höchst erstrebenswert, ganz egal, in welcher politischen Sphäre man sich verortet. Auch das Gesellschaftsbild der Linken hat etwas ausgesprochen Mittelständisches. Wer zum Mittelstand gehört, hat etwas erreicht, ist Teil einer leistungsfähigen Mehrheitsgesellschaft und führt in der Regel ein gutes Leben. Die breite Definition von Mittelstand erlaubt zudem soziale Mobilität innerhalb dieser Gesellschaftsschicht – das ist ein wichtiger Treiber für das Fortkommen des Einzelnen.

Kommt dazu, dass der Mittelstand sympathisch ist, denn er ist sozialverträglich, solidarisch, gibt wenig Anlass für sozialen Neid, macht selten Stunk, und er stellt einen Gegenentwurf zu bedrohlichen Machtmonopolen dar, wie sie in Ländern vorkommen, die einen schmalen Mittelstand aufweisen oder deren Wirtschaft von einigen wenigen Branchen und Grosskonzernen dominiert ist. Diesen Errungenschaften einer marktwirtschaftlichen und auf dem Leistungsprinzip basierenden Gesellschaft gilt es unter allen Umständen politisch Sorge zu tragen. Es wäre töricht, ja, selbstzerstörerisch, den leistungswilligen Mittelstand mit immer schwereren Lasten zu frustrieren und damit zu entmutigen. Das stetige Wachstum der Sozialausgaben muss in diesem Zusammenhang zu denken geben.

Der unternehmerische Mittelstand erfüllt – wie erwähnt – eine ganz ähnliche Funktion im Wohlfahrtsstaat wie die Mittelschicht. In der Schweiz sind 99 Prozent aller Unternehmen dem Mittelstand zuzurechnen. Zu den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) zählen in der Schweiz rein technisch gesehen alle Betriebe, die nicht mehr als 250 Mitarbeitende beschäftigen. Zwei Drittel aller Erwerbstätigen verdienen ihr Auskommen in der Schweiz in einem solchen kleinen oder mittelständischen Betrieb.

Obwohl zunehmend weltumspannende Grosskonzerne und Trendfirmen mit klingenden Namen und attraktiven Arbeitsbedingungen um Arbeitskräfte buhlen, ist der Anteil der in kleinen und mittleren Unternehmen Beschäftigten seit Jahrzehnten auffallend stabil. Anteilmässig ist jedenfalls keine generelle Abwanderung der Arbeitskräfte zu den Grossunternehmen festzustellen, auch wenn diese mit grosszügigen Vaterschaftsurlauben, eigenen Fitnesscentern oder Designerbüros und Meditationsräumen aufwarten.

Das spricht für die Qualität der Arbeitsplätze in den mittelständischen Unternehmen. Oft sind diese Unternehmen inhabergeführt und haben deshalb eine «Seele», die dem unüberschaubaren Grosskonzern letztlich fehlt. Mittelständler sind überdies der Effizienz ganz besonders verpflichtet. Endlose Umstrukturierungsprozesse haben hier keinen Platz. Der Mittelstand spürt unmittelbar, wo das Geld herkommt oder eben auch nicht und was ineffiziente Abläufe, unnütze Extratouren oder mangelnde Innovation oder Serviceleistung kosten können. Nicht zuletzt stehen Name und Existenz des Chefs selbst zur Disposition.

So zentral die kleinen und mittleren Betriebe für das gesellschaftliche Gedeihen des deutschsprachigen Raumes auch sind – es wäre falsch, dieses Wirtschaftssegment als homogenen Block mit einheitlichen Bedürfnissen zu sehen. In der Tat ist die Welt der KMU äusserst vielfältig. Der industrielle Mittelstand, also jene Unternehmen, die im globalen Wettbewerb Waren entwickeln, herstellen und verkaufen, müssen sich anderen Herausforderungen stellen als der klassische Gewerbebetrieb, der hauptsächlich in einem lokalen Umfeld verankert ist. Das wiederum stellt Anforderungen nicht nur an die Unternehmen selber, sondern auch an die Politik, die für den regulatorischen Rahmen zuständig ist.

Genau hier will das von mir gegründete «Forum Industrieller Mittelstand» (FIM) einhaken. Welche Sorgen plagen den exportorientierten industriellen Mittelstand? Wo herrscht Gesprächsbedarf zwischen Politik und Wirtschaft? Was braucht es, damit sich unsere Länder nicht schleichend deindustrialisieren oder – anders gesagt – die Aufträge und Arbeitsplätze der produzierenden Wirtschaft nicht ins Ausland abwandern? Unter der Schirmherrschaft von Lionel Schlessinger, Inhaber und Geschäftsführer der Monopol Colors AG mit Sitz in Fislisbach im Schweizer Kanton Aargau, sucht das Forum den länderübergreifenden Dialog zwischen Politik, Unternehmertum, Forschung und Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum. Ein offener Gedankenaustausch unter aufmerksamen Gesprächspartnern und jenseits von effekthaschenden «gefällt mir»-Klicks oder medialer Dauerempörung ist notwendig, um brauchbare Lösungen für anstehende Probleme zu finden und den Mittelstand zum Wohle der ganzen Gesellschaft in eine gute Zukunft zu führen.

Schon seit Langem gibt sich die Politik zumindest vordergründig durchaus unternehmerfreundlich. Sie weiss um die Bedeutung unternehmerischer Tätigkeit für unseren Wohlstand und hat sich wiederholt selbst verpflichtet, «gute Rahmenbedingungen» für die einheimischen Unternehmen, insbesondere für die KMU, zu schaffen. Den Behörden ist durchaus bewusst, dass überambitionierte Regulierungen insbesondere den im internationalen Wettbewerb stehenden mittelständischen Unternehmen zum Verhängnis werden können. Jede Regulierung hat ihren Preis und beeinträchtigt die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens, aber auch eines Standorts. Wer es also mit «guten Rahmenbedingungen» wirklich ernst meint, reguliert klug und vor allem zurückhaltend. Die bestehende Regulierung ist laufend zu überprüfen und Überflüssiges gehört konsequent entfernt. Es reicht nicht, von Bürokratieabbau nur zu reden; man muss ihn auch umsetzen.

Doch grau ist jede Theorie, und was schon Goethe beklagte, hat sich bis in unsere Tage nicht geändert. Politik ist leider nicht widerspruchsfrei und das Bekenntnis zu den «guten Rahmenbedingungen» geht im politischen Schaulaufen zwar nicht immer, aber doch allzu oft vergessen. Mit Deregulierung oder Nichtregulierung lässt sich weniger gut Politik machen als mit Problematisierung und Umverteilung. Also wird reguliert, was das Zeug hält. Hunderte von Seiten Gesetzeswerk kommen jedes Jahr hinzu und ist immer öfter nicht einmal demokratisch legitimiert. Das ist ein gefährlicher Mechanismus. Er führt in eine Überregulierung, die unseren Wohlstand und den «Gesellschaftsvertrag» ernsthaft bedroht.

Ausgerechnet die zuweilen als besonders «liberal» verklärte Schweiz macht im Vergleich zu ihren Nachbarländern Deutschland und Österreich gar keine gute Figur. Die alljährlich von der Weltbank veröffentlichte Rangliste zur Geschäftsfreundlichkeit und Unternehmensregulierung in Volkswirtschaften (Ease-of-doing-business-Index) zeigt ganz unverblümt, wie sich im Vergleich zu den anderen Ländern die Rahmenbedingungen für Unternehmen in der Schweiz Jahr um Jahr verschlechtern. Von Platz 16 im Jahr 2008 ist die Schweiz innerhalb von zehn Jahren auf den Platz 38 zurückgefallen und liegt damit deutlich hinter Deutschland (Platz 24) und Österreich (Platz 26). Vor allem aber fällt auf, dass Deutschland und Österreich ihre Ränge seit zehn Jahren mehr oder weniger halten, während die Schweiz massiv zurückfällt. Führend in Europa ist seit Jahren Dänemark, das seinen dritten Platz hinter Neuseeland und Singapur das vierte Jahr in Folge verteidigt.

Nicht nur das Wirtschaften an sich, auch die Gründung von Unternehmen wird in der Schweiz im internationalen Vergleich trotz gegenläufiger Versprechungen Jahr für Jahr komplizierter. Gemessen und verglichen wird hier der bürokratische Aufwand bei der Gründung einer Firma. 2018 belegt die Schweiz den 77. Platz auf der Rangliste der Gründerfreundlichkeit. Im Jahr 2009 lag sie noch auf Rang 52. Auch Deutschland und Österreich fallen hier nicht durch bürokratische Schlankheit auf (Rang 114 bzw. 118). Natürlich kann man solche Ratings kritisch sehen. Ganz gewiss bilden sie nicht die ganze Wahrheit ab und sicher weisen sie auch nicht alle relevanten Faktoren eines Wirtschaftsstandorts aus. Aber der Weltbank-Index ist gleichwohl die umfassendste vergleichende Studie in diesem Bereich und ihre Befunde müssen ernst genommen werden.

Die wachsende Bürokratie und ihre Auswirkungen auf die Unternehmen an unserem Wirtschaftsstandort in der Mitte Europas ist deshalb eines der Kernthemen dieses Bandes. Autorinnen und Autoren aus Wirtschaft, Politik und Forschung legen dazu ihre Überlegungen dar und unterbreiten ihre Vorschläge, wie das Problem überbordender Regulierung bewältigt werden kann.

Ein Leichtes ist das allerdings nicht. Politische Entscheide folgen ihrer eigenen Logik. Oft werden sie – ohne die Folgen genau zu bedenken – aus einer unbedachten, aber populären Null-Risiko-Mentalität hinaus gefällt. Politisch gibt es durchaus viel zu gewinnen, wenn man etwa im Namen des Umwelt- oder Arbeitnehmerschutzes neue Verbote oder Restriktionen gegenüber der einheimischen Industrie erlässt. Wenn dies jedoch dazu führt, dass bestimmte Produkte in unserer Region gar nicht mehr produziert werden können, ist das nicht nur ökonomisch schädlich, es ist auch für Mensch und Umwelt fatal. Denn damit geben wir die Kontrolle völlig aus der Hand und machen uns abhängig von Importerzeugnissen, auf deren Herstellungsverfahren wir keinen oder nur wenig Einfluss haben. Man muss den Kopf schon sehr tief in den Sand stecken, um nicht wahrzunehmen, dass damit weder dem Umwelt- noch Arbeitnehmerschutz jenseits der eigenen Landesgrenzen gedient ist.

Damit soll keineswegs behauptet werden, dass jede Regulierung falsch wäre. Es braucht Regulierung sowohl für einen funktionierenden Markt als auch für den ordnenden Staat. Doch alles mit Mass und Ziel. Die Regulierungskosten sind bereits heute – wie wir gesehen haben – sehr hoch. Und leider bleiben die vollmundigen Bekenntnisse der Politik zum Bürokratieabbau fast immer Makulatur. Das erstaunt nicht angesichts der Gesetzmässigkeiten von Wahlkampf und Interessenbindungen.

Das Gedankenspiel des «wohlwollenden Fürsten» – also jener der Wohlfahrtsökonomie und der politischen Philosophie entsprungenen Fiktion des untadeligen, vollständig informierten Staatenlenkers, der alleine dem Gemeinwohl verpflichtet ist und die Wirtschaft optimiert – entbehrt da nicht eines gewissen Charmes.

Er müsste keine Gesetze aus schierem Wahlkalkül und anderen Rücksichtnahmen erlassen und käme ziemlich sicher zur Einsicht, dass die Branche mit freiwilligen Lösungen ein Problem in der Regel effizienter regeln kann als der Staat.

Dass die Industrie sich ihrer Verantwortung bewusst ist und ihre Selbstregulierung auch durchsetzt, hat sie mehrfach bewiesen; ein gutes Beispiel dafür ist die Umweltetikette der Schweizer Stiftung Farbe.

Regulierung ist natürlich nicht das einzige gesellschaftliche Thema, das den industriellen Mittelstand beschäftigt. Um weiterhin im Wettbewerb erfolgreich zu sein, braucht es gut qualifizierte Arbeitskräfte. Bildung ist daher von substanzieller Bedeutung für eine gedeihliche Zukunft. Mit der dualen Berufsbildung, welche schulische und praktische Bildung vereint, verfügen die vier deutschsprachigen Länder über einen wertvollen Trumpf. Kein Wunder, beneiden uns viele andere Länder um dieses System; kein Wunder, versuchen es viele zu kopieren.

Der deutschsprachige Raum hat allerdings einen grossen Vorsprung. Hier ist das Berufsbildungssystem über viele Jahrzehnte hinweg gewachsen und tief verwurzelt. Es ist selber zu einer tragenden Säule des Mittelstands geworden. Auch vor dem Hintergrund von Migration und Zuwanderung bewährt sich die Berufsbildung als Motor für die Integration. Man denke an all die Lehrmeister, die Tag für Tag und Jahr für Jahr ihre Schützlinge auf den beruflichen Tugendpfad führen. Sie helfen der Integration konkreter auf die Sprünge als all die akademischen Studien und Fachgremien dazu.

Wer eine Berufslehre macht, kann mit einer soliden Grundausbildung in sein Berufsleben starten. Dank der Durchlässigkeit des Bildungssystems stehen dem gelernten Berufsmann und der gelernten Berufsfrau unzählige Wege offen, um sich weiter zu qualifizieren, bis hin zur Habilitation, sofern sie dies wünschen. Die Berufsbildung hat auch im 21. Jahrhundert alles andere als ausgedient – im Gegenteil; selten waren qualifizierte Fachkräfte so gesucht wie heute; selten waren sie in einer so komfortablen Situation wie heute.

Gleichwohl ist die Berufsbildung unter Druck eines Arbeitsmarktes, der sich zunehmend nach internationalen Massstäben ausrichtet. Dass viele internationale Unternehmen oder weltläufige Topmanager die duale Berufsbildung nicht kennen und bei der Auswahl ihres Personals einzig die akademische Ausbildung in Betracht ziehen, setzt der Berufsbildung zu. Auch standardisierte Software im HR-Bereich wirkt wie eine Filterblase, die den Blick auf die Vorzüge der einheimischen Bildungssysteme verstellt. Viele Eltern drängen ihren Nachwuchs deshalb aufs Gymnasium, auch wenn er bei einem Lehrmeister und in der Berufsschule besser aufgehoben und glücklicher wäre.

Kommt dann auch noch die modische Diskussion um die vermeintliche Chancengleichheit ins Spiel, dauert es nicht mehr lang, bis der Ruf nach einer «Matura für alle» laut wird. Es wäre das Ende des Leistungsprinzips im Bildungssystem und damit vermutlich auch das Ende der tiefen Jugendarbeitslosigkeit. Ausserdem fände eine Entfremdung zwischen Bildung und Arbeitswelt statt. Jene EU-Länder, in denen die Matura quasi der Regelfall ist, weisen allesamt eine hohe Jugendarbeitslosigkeit auf; in Frankreich liegt sie bei 21 Prozent, in Italien gar bei fast 32 Prozent, und selbst das Bildungswunderland Finnland muss sich mit einer Jugendarbeitslosigkeit von über 17 Prozent auseinandersetzen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz liegen diese Zahlen überall im einstelligen Bereich. In Liechtenstein ist Jugendarbeitslosigkeit so gut wie inexistent.

Es braucht also eine entschiedene Gegenbewegung gegen die Tendenz der allgemeinen Akademisierung und für die Stärkung der dualen Berufsbildung. Hier sind gute Ideen gefragt. Geld gibt es genug. Das Bildungsbudget wächst und wächst, von «Kaputtsparen» kann in keiner Weise die Rede sein, auch wenn (akademische) Linksaktivisten diesen Mythos hingebungsvoll pflegen. Allein – beim Einsatz der Mittel darf die berufliche Aus- und Weiterbildung nicht zu kurz kommen. Insbesondere im Bereich der technisch-mathematischen Fächer braucht es angesichts eines Fachkräftemangels besondere Anstrengungen. Es ist überdies im Interesse der gesamten Wirtschaft, wenn auch die mittelständischen Unternehmen von den grossen Forschungsprojekten der Hochschulen mitprofitieren können; auch hier – in den Hochschulen – lohnt es sich, den Blick für die Bedeutung des einheimischen Mittelstandes schärfen. Nicht nur im Silicon Valley entstehen Innovationen.

Gleichwohl ist ein Blick in die weite Welt hinaus natürlich nicht falsch. Der seit Anbeginn stark international geprägten und exportorientierten Schweizer Industrie etwa kann es nicht egal sein, was um sie herum und jenseits des Ozeans passiert. Das Gleiche gilt natürlich auch für ihre Nachbarländer. Europa wird gegenwärtig Zeuge geopolitischer Verschiebungen, wie sie in der Geschichte der Menschheit bisher nie stattgefunden haben. Innerlich gespalten und zu sehr mit sich selber beschäftigt ist der alte Kontinent bei vielen Entwicklungen nur noch Zuschauer.

Wir erleben seit den 1980er Jahren den kometenhaften Aufstieg Chinas zur heute zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt. Wer die Reden der chinesischen Staatspräsidenten liest, weiss: Es ist ein Aufstieg gemäss Ansage. Allen kapitalistischen Allüren zum Trotz bleibt China aber ein autoritärer kommunistischer Einparteienstaat, der im Marxismus die edelste aller Heilslehren erkennt und seine Volkswirtschaft entsprechend lenkt und kontrolliert.

Es wäre grenzenlos naiv, Chinas wirtschaftlichen Aufstieg als Symptom oder Resultat liberal-demokratischer Morgendämmerung zu sehen; nie sass die Elite im kommunistischen China so fest im Sattel wie heute. Nie zuvor hatte sie solch vielfältige Möglichkeiten zur totalen Kontrolle. Nie zuvor hatte die Volksrepublik so viel Geld und so viele Menschen, die – wie einst die Europäer nach dem Krieg – von Reisen, Reichtum und Ruhm träumen und vieles dafür tun, um diese Träume zu verwirklichen. Chinas Ansage, in wenigen Jahren im Bereich der künstlichen Intelligenz weltweit führend zu sein, gilt es ernst zu nehmen; bisher hat die Volksrepublik ihre Ankündigungen in der Regel umgesetzt.

Am anderen Ende der Welt, in den USA, herrscht – vorsichtig ausgedrückt – eine Phase der politischen Überraschungen. Geopolitische Verwerfungen entstehen unter dem Eindruck eines neuerwachten Nationalismus in den USA, in China, in Russland, aber auch in der Türkei, in Indien und im arabischen Raum.

Europa sieht sich derweil politisch geschwächt, in vielen Fragen uneins und in sich zerstritten. Allenthalben manifestieren sich Risse in der Gesellschaft der einzelnen Länder – zwischen rechts und links, zwischen Nord und Süd, zwischen «gilets jaunes» und der «classe politique». Auch in der EU selbst, jenem «Friedensprojekt» Europas, ist der Hausfrieden bedroht. Der Eine macht’s dem Andern nicht recht und umgekehrt, man beschimpft sich und mahnt ab, droht und belehrt sich gegenseitig, stellt sich quer oder zieht den Botschafter ab. Militärisch ist man schwach, eine gemeinsame Marschrichtung zu finden erweist sich ohnehin als immer schwieriger – nicht nur in militärischen Belangen. Kurzum: Im europäischen Haus ist der Kessel am Dampfen und Brennstoff gibt es reichlich.

Eine Gesellschaft, die sich nicht mehr auf eine rudimentäre gemeinsame Marschroute festlegen kann, ist keine gute Voraussetzung für die Wirtschaft. Ähnlich verhält es sich mit der gesellschaftlichen Grundstimmung. Wenn Ängste vor sozialem Abstieg, vor Umweltzerstörung und Klimawandel oder vor wachsender Kriminalität den Alltag der Menschen prägen, stimmt etwas nicht im Land. Und wenn heute schon die 16-Jährigen angeben, dass ihre grösste Sorge der eigenen Altersrente gelte, tönt dies wie eine bittere Ironie der Geschichte.

Denn hatte man die Altersrente nicht gerade deshalb eingeführt, um den Menschen die Angst vor der Altersarmut zu nehmen? Jetzt, nur wenige Generationen später, hat sich der vermeintliche Segen in eine Art Dämon verwandelt, der bereits den Teenagern Angst einjagt und Geld aus der Tasche zieht. Nicht zuletzt sind solche Entwicklungen und Ängste ein Zeichen für die Entfremdung zwischen Politik und Bevölkerung, aber auch für eine Entfremdung zwischen den Generationen. Es ist leider zu befürchten, dass eine solche Dynamik wiederum in neue Regulierungen mündet; letztlich beherrscht die Politik nur dieses eine Handwerk. Ob es ihr gelingen wird, die Ängste insbesondere in Bezug auf die Altersvorsorge zu entkräften, steht in den Sternen.

Die demografische Entwicklung jedenfalls kennt ihre eigenen Gesetze und richtet sich nicht nach politischen Plänen oder Wünschbarkeiten. Inwieweit das Rentensystem in der heutigen Form weiterexistieren kann, wird sich zeigen. Zuwanderung allein wird das Rentenproblem der alternden Gesellschaft wohl nicht lösen können, im Gegenteil. Zuwanderung ist selber mit Kosten verbunden – auch im Bereich der Sozialversicherungen; steigende Sozialkosten sind aber kein Wachstumstreiber. Letztlich ist für die Sicherung der Renten weniger die schiere Anzahl der produktiven Köpfe massgebend, als vielmehr die Produktivität der Aktiven.

Ein anschauliches Beispiel dazu liefert der Schweizer Kanton Zürich. Dort wuchs in den Jahren 2012 bis 2016 die Bevölkerung schneller als das Steueraufkommen, was weder im Sinne des Standorts noch der Altersvorsorge ist. Die Gründe dafür waren neben stagnierenden Löhnen und weniger Boni eine Zuwanderung im Tieflohnbereich. Überdies vermutet der kantonale Finanzdirektor, dass finanzkräftige Steuerzahler den Kanton bewusst verlassen haben, eine Entwicklung, die für den Kanton zum Problem werden könnte, wenn sie sich fortsetzt. Denn gut 35 Prozent der Einkommenssteuer werden hier von 30 000 Personen bezahlt, die mehr als 200 000 Franken verdienen und insgesamt über rund 21 Prozent des steuerbaren Einkommens verfügen. Es ist keine gute Idee, gute Steuerzahler davonzujagen. Das wird sich rächen – an der Volkswirtschaft allgemein und auch an den Sozialwerken.

Es braucht also ein System, das zwar solidarisch ist, das Leistung aber auch honoriert und nicht bestraft. Insbesondere bei der jungen Generation, die eine ausgewogene Work-Life-Balance als ihr gutes Recht begreift, ist nicht davon auszugehen, dass sie sich für Arbeit und Staat aufopfert und allein darin selig wird. Sie findet auch in anderen Lebenssphären Sinn und Erfüllung, vor allem dann, wenn sich – etwa angesichts eines «bedingungslosen Grundeinkommens» – Arbeit nicht mehr lohnt. Bei den Pensionen wiederum ist im Sinne der langfristigen Sicherung über einen Mechanismus nachzudenken, der sich an der Lebenserwartung und Leistungsfähigkeit orientiert und nicht an einer fixen Altersgrenze.

Gute Ideen sind also gefragt und genau das will diese Schrift präsentieren. 25 Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein unterbreiten auf den folgenden Seiten ihre Gedanken zur Zukunft des Wirtschafts- und Unternehmensstandorts im Herzen Europas. Es sind Stimmen aus Politik, Wirtschaft, Forschung und Journalismus. In knapper Form berichten sie aus erster Hand über ihre Erfahrungen, ihre Forderungen, ihre Wünsche, ihre Sorgen und liefern Vorschläge, wie die gegenwärtigen Herausforderungen am besten gemeistert werden können. So unterschiedlich die Ideen und Perspektiven dabei auch sein mögen – alle Schreibenden haben das gleiche Ziel vor Augen: eine ebenso prosperierende wie sozial- und umweltverträgliche Wirtschaft und eine Gesellschaft, die in den grundlegenden Fragen am gleichen Strick zieht. Dafür braucht es ein innovatives Unternehmertum und politische Rahmenbedingung, die die Wettbewerbsfähigkeit unserer Standorte stärkt und dem sich verschärfenden Fachkräftemangel entgegenwirkt.

Mögen die hier vereinten Ideen, Vorschläge, Gedankenblitze und Erkenntnisse die Leserin und den Leser zum Nach- und zum Weiterdenken anregen – auf dass ein starker und lebendiger Mittelstand auch in 50 Jahren noch ein gutes Leben als zentrale Säule der Gesellschaft führt.

Matthias Baumberger ist

Gründerpräsident des Forums industrieller

Mittelstand und Herausgeber dieses Buchs.

25 Ideen für den industriellen Mittelstand

Подняться наверх