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Du darfst und du sollst

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Ein neues Leben beginnt. Ein Mensch tritt ins Sein. Er ist da. Schrittweise versteht er, was Dasein bedeutet. Ungefragt wurde er von den Eltern in dieses Dasein gebracht, „in die Welt geworfen“ (Heidegger). Jetzt ist er da. Er darf sein und soll sein. Es geht um das Dürfen und Sollen des Daseins: Du bist da, und es ist gut, dass du da bist. Idealerweise bist du von den Eltern gewünscht, gewollt und willkommen auf dieser Welt, von Gott her unbedingt bejaht. Und nun darfst du schrittweise der werden, der du bist, du sollst es sogar. Es gibt also ein zweifaches Sollen: Das erste Sollen ist ein Geschenk: Du darfst sein und sollst sein, du bist willkommen. Das zweite Sollen ist ein Sollen als Aufgabe: Du sollst und kannst mithelfen, dass sich das entfalten kann, was in dir angelegt ist. Hier kommen freie Entscheidungen ins Spiel. Der Mensch kann einschwingen in die Entfaltung seines Daseins, er kann sich aber auch verweigern.

Die alte Philosophie hat das Dürfen als ein Sollen formuliert, als Auftrag und Imperativ: „Werde, der du bist“ und „Erkenne dich selbst“.19 Jeder soll der werden, der er schon ist, er soll sich selbst erkennen. Eine eigenartige Formulierung: Jemand ist schon da und soll noch werden, sich entfalten. Dieses Werden der Entfaltung ist eine Bewegung aus der Wirklichkeit in die Möglichkeit und aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit.20 Es gibt die Wirklichkeit des schon Verwirklichten und die Wirklichkeit des noch Möglichen. Das ist Werden.21 Dieses Werden geht zum Teil von selbst, es muss aber auch mitgestaltet werden.

Das Sein ist schön, gut und wahr. Das kann schon das Kind im Gegenüber zur Mutter und zum Vater „erkennen“. Durch das Lächeln der Eltern hindurch erkennt das Kind das gesamte Sein in seiner Einheit, Gutheit, Wahrheit und Schönheit: Im Lächeln der Mutter sieht das Kind die mütterliche Liebe und wird durch sie „ins Bewußtsein gerufen.“22 Im weiteren Verlauf dieser Begegnung eröffnet sich dem Kind laut Hans Urs von Balthasar „der Horizont des gesamten unendlichen Seins und zeigt ihm vier Dinge: 1. Daß es ‚eins‘ ist in der Liebe mit seiner Mutter, obwohl ihr gegenübergestellt, also daß alles Sein ‚eins‘ ist. 2. Daß diese Liebe ‚gut‘ ist: also alles Sein gut ist. 3. Daß diese Liebe ‚wahr‘ ist, also alles Sein ‚wahr‘ ist. 4. Daß diese Liebe ‚Freude‘ weckt, also alles Sein ‚schön‘ ist.“23 So wäre es ideal. Leider werden Kinder auch abgelehnt und haben es somit sehr schwer, zu erkennen, dass das Leben wahr, gut und schön ist.

Es geht im Leben um die Entfaltung dessen, was schon angelegt ist. Ein Blatt entfaltet sich im Frühjahr. Am Baum entfalten sich die Blätter, im Herbst blüht er und bringt Frucht. Ein Mensch wird gezeugt und der Embryo entfaltet sich zum erwachsenen Menschen. Dabei geht es zunächst um die körperliche Entfaltung, dann um die seelische und geistige. Die körperliche Entfaltung geschieht weithin von selbst (bei entsprechender Nahrung), an der seelischen und geistigen kann und muss der Mensch mitwirken. Auch der Kosmos entfaltet sich und dehnt sich aus. Im Urknall ist das Ganze gleichsam eingefaltet und verdichtet, dann entfaltet es sich bis heute. Selbst im Göttlichen spricht das Christentum von der Drei-Faltigkeit Gottes. Diese „Faltigkeit“ ist aber keine Entfaltung im Sinne eines innerweltlichen Werdensprozesses, sondern das göttliche Sein ist schon immer entfaltet. Das Werden ist das Phänomen des Endlichen und Relativen. Dieses Werden hat eine Zielrichtung: Aus dem Samen wird der große Baum, aus der Zygote24 ein erwachsener Mensch.

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