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2. Die ordnenden Kräfte – Genetik und Epigenetik
ОглавлениеBei der Zeugung eines Menschen entsteht ein neuer Organismus. Samen und Eizelle kommen zusammen. Nach dem Eindringen des Spermiums in die Eizelle verschließt sich diese, damit kein zweites Spermium in die Eizelle gelangt. Durch die Verschmelzung von Samen und Eizelle entsteht ein neuer Organismus mit einem einzigartigen Genom. Diese Verschmelzung ist wie eine Initialzündung. Ab jetzt läuft ein Prozess ab, der achtzig oder neunzig Jahre dauern kann. Samen und Eizelle zusammen bilden die sogenannte Zygote. Diese Zygote teilt sich in einen Zweizeller, Vierzeller, Achtzeller. All das geschieht „von selbst“.
Ab dem Achtzellstadium7 fangen die Zellen an, sich in die etwa 220 verschiedenen Zelltypen des menschlichen Organismus zu differenzieren. Lange Zeit wusste man nicht, wie dies geschieht. Dann aber erkannte die Forschung, dass zu dieser Zelldifferenzierung jeweils unterschiedliche Gene abgeschaltet werden. Die anderen bleiben aktiv.8 Abhängig davon, welche Gene abgeschaltet werden und welche aktiviert bleiben, entsteht ein anderer Zelltyp. Für eine Haarzelle sind andere Gene aktiv als für eine Augenzelle. Es ist wie bei einer Flöte, bei der jeweils ein anderer Ton herauskommt, wenn man bestimmte Löcher zuhält und andere öffnet. Anders gesagt: Die Gene bilden nur die materiale Grundlage aller Informationsgeschehnisse einer Zelle und eines Organismus. So wie die Tasten eines Klaviers nur die materiale Grundlage für mögliche Töne darstellen. Diese entstehen erst, wenn sie durch einen Spieler betätigt werden. Erst wenn die Zelle als kleinste „spielfähige Einheit“ des Lebendigen bestimmte Gene mittels epigenetischer Mechanismen aktiviert, erklingt eine Art „Informationsmusik“. Die An- und Abschaltmechanismen müssen dabei fehlerfrei zusammenwirken und genau aufeinander abgestimmt sein. Dies ist in der Embryonalentwicklung der Fall.9 Man nennt sie – wie erwähnt – epigenetische Einflüsse. Die Lehre, die sich mit diesen Zusammenhängen befasst, heißt Epigenetik.
Die materialen Bausteine für diese Schaltvorgänge liegen beim Embryo zum großen Teil in den Bereichen zwischen den Genen, die man lange Zeit für sinnloses Zeug („cheap junk“) hielt.10 Sie liegen ebenso im Zytoplasma der Zelle, ja in der gesamten Zelle, in der Lage der Zellen zueinander sowie im gesamten Organismus bis hin zu den neuronalen Verschaltungen im Gehirn beim Erwachsenen. Gegenwärtig herrscht die Ansicht vor, dass sich das gesamte Genom in der Embryonalentwicklung erst langsam ausformt. Die entscheidenden Phasen der Formung sind die pränatale Zeit, die Zeit der Geburt und die Zeit bis zur Pubertät.
So finden Interaktions- und Kommunikationsprozesse auf verschiedenen Ebenen statt: zwischen den Genen, zwischen Genen und Proteinen, zwischen Zellen, zwischen Organen innerhalb des Organismus, letztlich zwischen den Organismen, zwischen den Menschen und ihrer Umgebung. Dies sind milliardenfache Prozesse, die ein Leben lang ablaufen. Sie bedürfen der Ordnung, der identischen Verdoppelung der Zellen, der Zelldifferenzierung sowie des Gleichgewichts zwischen Zellaufbau, Zell-umbau und Zellabbau.
Im Zuge der Weitergabe des genetischen Materials und der Proteine bei der Zellvermehrung und Zelldifferenzierung kommt es zu „Abschreibefehlern“ des genetischen Programms. Es entstehen genetische Defekte, die aber auch durch äußere Einflüsse, wie zum Beispiel Radioaktivität, entstehen können. Wenn diese geschädigten Gene aktiviert werden, können daraus fehlgestaltete Proteine oder fehlerhafte Mengen an Proteinen hergestellt werden und letztlich Krankheiten entstehen. Allerdings werden diese Fehler durch eine Fülle von Reparaturmechanismen immer wieder ausgebessert, fehlerhafte Zellen durch gezielte Eliminationsprozesse ausgesondert oder getötet (Apoptose). Auf einer anderen Ebene können sie auch durch ein intaktes Immunsystems zerstört werden. Die große Zahl dieser Kontrollmechanismen macht es relativ unwahrscheinlich, dass geschädigte Gene und kranke Zellen sich weiter vermehren und in den Kreislauf des Organismus gelangen. Andererseits ist es bei der großen Zahl der Zellneubildungen doch nicht unmöglich, dass immer wieder geschädigte Zellen auftauchen.
Im gesunden Organismus besteht ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den auftretenden fehlerhaften Zellen und den Reparatur- und Eliminationsmechanismen. So bleiben die Zellzahl sowie das Verhältnis von kranken und gesunden Zellen (trotz Schwankungen, zum Beispiel altersbedingt) relativ stabil. Erst wenn dieses Gleichgewicht gestört wird und die Reparaturmechanismen und Selbsttötungsprogramme abnehmen oder die Abwehrleistung des Immunsystems zu schwach ist, nimmt die Zahl der kranken Zellen zu. So können dann Krebszellen längere Zeit überleben. Sie können sich zu größeren Aggregaten zusammenschließen und finden ihren Endpunkt in manifesten Tumoren und schließlich Metastasen.
Je unreifer ein Organismus ist, desto eher können Gene durch äußere Einflüsse geschädigt werden. Aber auch die epigenetischen Schaltmechanismen werden durch Umgebungsbedingungen sowie durch zwischenmenschliche Beziehungen beeinflusst. „Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“ lautet der Untertitel eines Buches von Joachim Bauer.11 Diese epigenetischen Einflüsse entfalten bei unreifen Organismen wie bei Kindern größere Wirkungen als bei Erwachsenen.12
In der Embryonalentwicklung ist es vor allem der Dialog zwischen Mutter und Kind, der für die weitere Entwicklung von großer Bedeutung ist. Die pränatale Psychologie hat hierzu sehr viel erforscht.13 Umgekehrt gibt es einen sehr frühzeitigen „Dialog“ vom Embryo zur Mutter. Er sendet schon früh Signale, dass sie ihn nicht abstoßen soll. Denn er enthält die Hälfte des Genmaterials vom Vater und dieses Fremdeiweiß würde eigentlich vom Immunsystem der Mutter abgestoßen werden. Durch die Abgabe bestimmter Stoffe (leukemia inhibitory factor, LIF) wird diese Abstoßungsreaktion verhindert. All diese Kommunikationsprozesse stehen wiederum in einem größeren Zusammenhang zwischen den Zellen, den Menschen, letztlich der ganzen Welt. Bereits die genetisch-epigenetischen Verschaltungen bilden eine große Komplexität aus. Auf die 30.000 Gene kommen etwa 1,5 Millionen epigenetische Einflussvarianten. Die Palette der neuesten Erkenntnisse über diese Interaktionsvariabilität ist groß. So hat auch das Denken und Fühlen des Menschen sowie die gesamte Innenwelt des Menschen Auswirkung auf diese Verschaltungen. Das Gehirn hat „direkten Einfluss darauf, welche Gene einer Zelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden“.14
Für das seelische Innenleben des Menschen wurde der Zusammenhang zwischen epigenetischen Einflüssen und dem Abschalten von Genen so beschrieben, dass „der seelische Stress der Depression mehrere Gene des Immunsystems ab[stellt], die für die Produktion von Immunbotenstoffen zuständig sind“.15 Das Immunsystem kann also durch das seelische Innenleben des Menschen unterdrückt werden. Auf diese Weise brechen Krankheiten – auch Krebserkrankungen – leichter aus. Bezogen auf zwischenmenschliche Beziehungen und die Auswirkungen auf Krebserkrankungen fasst Joachim Bauer die genetischepigenetischen Verschaltungen so zusammen:
„Dass zwischenmenschliche Beziehungen Einfluss auf die Aktivität von Genen und auf biologische Abläufe haben, hat sich auch für das Immunsystem als zutreffend erwiesen. Stress und Depression verändern [mittels Zellaktivität] die Genaktivität nicht nur bei zahlreichen Immunbotenstoffen (Zytokinen), sondern auch in Zellen des Immunsystems (T-Zellen und Natural-Killer-Zellen), sodass deren Abwehrkraft gegenüber Erregern und gegenüber Tumorzellen entscheidend vermindert ist.“16
Auch das menschliche Verhalten wird neu erklärt und es wird gezeigt, wie Erbanlagen (Genetik) und Umwelt (Epigenetik) sich gegenseitig beeinflussen.17 Es werden zunehmend verschiedene epigenetische „Schalter“ im Gehirn gefunden, die für die Entwicklung des Gehirns und für Krankheiten eine besondere Rolle spielen.18 Auch die Epigenetik von neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer wird genauer erforscht.19 Schließlich wird das Sozialverhalten der Menschen in ihren epigenetischen Auswirkungen auf das Genom untersucht.20 Es scheinen also nahezu alle inneren und äußeren Faktoren Einfluss auf die genetischen Verschaltungen zu haben und damit auch für Krebserkrankungen relevant zu sein.