Читать книгу Krebs - Matthias Beck - Страница 9
4. Philosophie und Genetik
ОглавлениеDie alte Philosophie des Aristoteles und Thomas von Aquin sah den Menschen als Leib-Seele-Einheit von innen nach außen strukturiert (von der Geistseele zur Materie). Die moderne Medizin versucht, den Menschen von außen nach innen (von der Materie zum Geist) zu konstruieren. „Seele“ stand in der alten Philosophie für das Ganze, das den Teilen vorausliegt. „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ ist eine Weisheit des Aristoteles, und Herbert Pietschmann schreibt sogar, dass das Ganze nicht nur mehr sei als die Summe seiner Teile, sondern etwas ganz anderes.36 Das Ganze der Zelle und des Organismus bildet die Grundlage dafür, dass die Kommunikationsprozesse zwischen den einzelnen Komponenten funktionieren.37 Dieser „dialogischen Struktur“ liegt eine innere Ganzheit voraus, die nicht Folge und Ergebnis der Kommunikationen ist, sondern dem ganzen Geschehen als Bedingung der Möglichkeit zugrunde liegt.
„Jeder Teil in einem Organismus hat eine spezifische Funktion für das Ganze; erst aus dem Ganzen erklärt sich das Wirken der einzelnen Teile. Man kann weder das Ganze aus den Teilen zusammensetzen, noch ist das Ganze ein die Teile von außen organisierendes Prinzip.“38
Das Ganze organisiert von innen her die Teile, diese sind auf das Ganze angewiesen. Ohne diese Einheit und Ganzheit laufen die Kommunikationen ins Leere oder ins Falsche, die Zellen verfehlen einander oder verändern sich zur Fehlgestalt. Das Ganze der Zelle liegt auch den genetisch-epigenetischen Verschaltungen zugrunde. Die Zelle entscheidet darüber, welche Gene an- oder abgeschaltet werden. Sie ist gewissermaßen die Grundlage, die die Genetik und Epigenetik koordiniert. Auf der nächsthöheren Ebene sind es die Organe und schließlich ist es der gesamte Organismus, der die Ganzheit darstellt und alle niedrigeren Ebenen zu einer Ganzheit integriert.
Wenn Thomas von Aquin dieses Ganze im philosophischen Begriff der Seele (Geistseele) beschreibt und es im erwähnten Satz auf den Punkt bringt: „anima forma corporis“, kann man diese Kurzformel auf einen „ganzheitlichen“ philosophischen Begriff von Information bringen. Diese Vorstellung von Information ist vom Ganzen her zu den Teilen gedacht, von innen nach außen, und veranschaulicht das, was als innere Entwicklungsdynamik und Selbstbewegung des Lebendigen beschrieben wurde. Beim Menschen hat es zentral mit seinem Geistcharakter zu tun.39
Ganz anders als dieser philosophische Begriff von Information versteht sich der moderne empirisch-physiologische Informationsbegriff. Hier werden – ganz konkret – Informationen über den Kranken erworben, indem von außen durch das Messen bestimmter Laborwerte auf eine Diagnose geschlossen wird. Das ist sinnvoll, um sich ein erstes Bild von einer Erkrankung zu machen, aber das tiefste Innere des Patienten erfassen diese Werte nicht. Konkret kann es sein, dass sich jemand innerlich krank fühlt, aber die Laborwerte noch in Ordnung sind und „Gesundheit“ anzeigen. Es kann auch sein, dass sich jemand gesund fühlt, aber die Laborwerte eine andere Sprache sprechen. Natürlich gibt es den Hypochonder, den Simulanten, den psychosomatisch Kranken, bei dem (noch) keine Laborwerte verändert sind, der innerlich aber schon krank sein kann, obwohl die Laborwerte noch „gesund“ anzeigen und sich erst später sichtbar verändern.
So ist der philosophische Begriff der Information, der das Phänomen des Lebendigen von innen her in seiner Entfaltungsdynamik zu beschreiben versucht, zu unterscheiden vom modernen naturwissenschaftlichen Informationsbegriff, der von außen auf die Phänomene blickt, aber die zugrunde liegende Ganzheit und damit das ganze Phänomen nicht erfassen kann. Einfach ausgedrückt: Aus dem Umstand, dass ein Gen für mehrere Proteine codieren kann und sich die Frage stellt, wie sich das Gen „entscheidet“, welches Protein herzustellen ist, zeigt sich, dass nicht das Gen, sondern die Zelle als Ganze festlegt, welche Proteine hergestellt werden sollen.
Die US-Physikerin und Philosophin Evelyn Fox Keller beschreibt es so:
„Die Verantwortung für diese Entscheidung liegt anderswo, in der komplexen Regulationsdynamik der gesamten Zelle. Von hier und nicht vom Gen kommt in Wirklichkeit das Signal (oder kommen die Signale), die das spezifische Muster festlegen, nach dem das endgültige Transskript gebildet wird. Eben die Struktur dieser Signalpfade zu entwirren, ist zu einer wesentlichen Aufgabe der heutigen Molekularbiologie geworden.“40
Das heißt, dass die einseitige Fixierung darauf, dass das Programm für den Zellaufbau, die Zellvermehrung, die Gesamtfunktion des Organismus in den Genen liege, nicht haltbar ist. Evelyn Fox Keller fasst dies so zusammen, dass ein Organismus sich wie ein System von Organen verhält, und zwar so, „als besäße es einen eigenen Geist – als würde es sich selbst steuern“.41 Dies wird heute schon durch Erkenntnisse der Epigenetik zunehmend plausibel dargestellt.
Es geht also darum zu erkennen, dass das Leben mehr von innen nach außen und vom Ganzen zu den Teilen gestaltet wird als umgekehrt. Zwar wirkt auch das Materielle auf den Geist ein und hat von dort her seine Auswirkungen. Ein Hirntumor beispielsweise kann das Zukunftsdenken der Menschen massiv beeinflussen und die materiellen Veränderungen bei Demenzerkrankungen das Gedächtnis. Für eine moderne Forschung und die Interpretation von Krankheiten ist daher beides notwendig: Zum einen soll gemessen werden, was gemessen werden kann, zum anderen sollte klar sein, dass das, was gemessen wird, nicht das Phänomen des Lebendigen mit seiner inhärenten Kommunikation erfasst. Dazu braucht es den Blick von innen, vom Ganzen her.
Wie die Quantenphysik die strenge Gültigkeit der Kausalität im Sinne einer deterministischen Ursache-Wirkung-Relation relativiert hat,42 so könnte in der Medizin und Biologie durch die erwähnten neuen Erkenntnisse des Zusammenhanges zwischen den epigenetischen Mechanismen zum An- und Abschalten von Genen sichtbar gemacht werden, dass eine eindimensionale Ursache-Wirkung-Beziehung auch für das Lebendige nicht zutrifft.43
Damit kann auch auf die ebenfalls mehrdimensionale (transdimensionale) Dimension des Menschen hingewiesen werden, dessen Geistcharakter erst die zweidimensionale psychosomatische Ebene zu einer dreidimensionalen Einheit und Ganzheit integrieren kann. Der ganze Mensch verbindet die Kommunikation der verschiedenen Organe, der Organe mit den Geweben, der Gewebe mit den Zellverbänden, der Zellverbände mit den Zellen und die Zellen über die epigenetischen Mechanismen mit den An- und Abschaltvorgängen von Genen zu einer integrativen Ganzheit. Damit wäre der Weg zu einer wirklich „personalisierten Medizin“ eröffnet und der Einzelne in seiner Einzigartigkeit berücksichtigt.
Diese Erkenntnisse könnten für die Interpretation von Krebserkrankungen fruchtbar gemacht werden. So wäre es möglich, das „Phänomen Krebs“ auch aus der Perspektive der inneren Ganzheit und des Geistes und nicht nur aus jener der Materie zu betrachten. Wenn es zutrifft, was oben dargestellt wurde, dass das Ganze etwas ganz anderes ist als die Summe der Teile, wenn der Geist die Materie formt und die Materie geradezu gefrorener Geist ist, dann haben geistige Aktivitäten auch Einfluss auf die Materie. Das ist philosophisch einleuchtend und wird heute mit empirischen Erkenntnissen bestätigt. Es könnte daher zu dem alten Spruch: „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ die Umkehrung hinzufügt werden: Ein „gesunder Geist“44 als Grundlage eines gesunden Körpers.