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3. Philosophische Zugänge zum Phänomen „Leben“

Das Leib-Seele-Problem nach Aristoteles und Thomas von Aquin

Nach der Verschmelzung von Samen und Eizelle entwickelt sich der Embryo von selbst weiter. Diese innere Lebensdynamik bezeichnet Aristoteles mit dem Begriff der „Selbstbewegung“. Es geht um die Beschreibung einer Lebensdynamik von innen nach außen. Ein Keim entwickelt sich von innen her zu einem erwachsenen Organismus. Der Embryo wird zum Fetus, zum geborenen Kind, Jugendlichen und Erwachsenen.

Es ist ein zentrales Phänomen des Lebendigen, dass es sich dauernd verändert und doch eine sich durchhaltende „Identität“ besitzt. Dieses Phänomen hat Aristoteles veranlasst, von zwei Prinzipien im Lebendigen zu sprechen: von einem sich durchhaltenden und einem sich verändernden. Das eine nennt er „Seele“, das andere „Materie“. Die Seele beschreibt er als inneres Lebensprinzip, Formprinzip und Ganzheitsprinzip.21 Insofern haben nicht nur der Mensch, sondern auch Pflanze und Tier eine Seele. Genau genommen „haben“ sie keine Seele, sondern sie „sind beseelt“, sie entfalten eine innere Lebensdynamik. Beim Menschen konnte Aristoteles die Seele nicht mit dem Phänomen des menschlichen Geistes zusammendenken. Daher fügt er den Geist von außen hinzu. Dadurch verbleibt bei ihm ein Dualismus zwischen Seele und Geist.

Erst Thomas von Aquin bringt im Mittelalter die Leib-Seele-Einheit des Menschen denkerisch zustande.22 Vor dem Hintergrund seines jüdisch-christlichen Weltbildes, das den Menschen grundsätzlich als eine Einheit betrachtet, bringt er griechisches Leib-Seele-Denken mit jüdischchristlichem Einheitsdenken zusammen.23 Er übernimmt Aristoteles’ Auffassung von der Seele als innere Form des Leibes, konzipiert die Seele allerdings so, dass sie beides in einer Einheit ist. Die Seele wird so entworfen, „daß sie beides zusammen in Identität ist: ihrem Wesen nach ganz Form des Leibes und ganz subsistenter unzerstörbarer Geist“.24 „Subsistent“ heißt hier, dass der Geist dem Inneren des Menschen zugrunde liegt und alle anderen Elemente (auch das Seelische im psychologischen Sinn) zu einer Ganzheit integriert. Daher spricht Thomas auch von der „Geistseele“ („anima intellectiva“) als der inneren Mitte des Menschen. Die Tierseele als die sensible und fühlende Seele nennt er „anima sensitiva“ und die Pflanzenseele „anima vegetativa“ (ernährende Seele). Die Medizin kennt noch das Vegetativum oder das autonome Nervensystem, das vom Menschen kaum direkt willentlich beeinflusst werden kann.

In der Philosophie des Thomas von Aquin sind im Menschen alle diese drei Seelenanteile zu einer vereint. Die eine Seele in ihren dreidimensionalen Aspekten formt von innen her den Körper zum Leib. Thomas bringt diesen Sachverhalt in folgender Kurzformel auf den Punkt: „anima forma corporis“, „die (Geist-)Seele formt den Körper zum Leib“. Diese Gegebenheit kann man auch für den Alltag konkret machen: Das Geistsein hängt unmittelbar mit dem Gefühlsleben zusammen und dieses wiederum mit dem Vegetativum.

Konkret ausgedrückt: Das Denken des Menschen ist immer von Gefühlen begleitet und schlägt sogar manchmal bis ins Vegetative durch. Wenn eine Entscheidung zu treffen ist und jemand darüber nachdenkt (Vernunft, „anima intellectiva“), ob er dieses oder jenes tun soll, sind seine Gedanken mit bestimmten Gefühlen verbunden (sensible Anteile, „anima sensitiva“). Bei bestimmten Entscheidungen fühlt der Mensch sich wohl und freut sich, bei anderen ist er unruhig, unglücklich, deprimiert. Die Angst vor einer bevorstehenden Prüfung beispielsweise kann sogar über die Ebene des Gefühls hinaus auf das Vegetativum durchschlagen und zu Übelkeit und Diarrhö führen. Hier zeigt sich die Einheit von Geist (Denken), Seele (Gefühl, Erleben) und körperlichen Auswirkungen (Übelkeit). Die Richtung dieser Kaskade ist dabei vorgegeben: Es beginnt mit dem Gedanken an die Prüfung, ist begleitet von Gefühlen und führt zu körperlichen Reaktionen der Übelkeit. So gibt es ein Gefälle vom Gedanken über das Gefühl zum leiblichen Erscheinungsbild – nie umgekehrt. Der Prozess beginnt eben nicht bei der Übelkeit und führt von dort aus zum Gedanken an die Prüfung, sondern umgekehrt vom Gedanken zum körperlichen Symptom – allgemeiner gesagt: vom Geist zur Materie. So ist die Einheit von Geist, Seele und Körper (Leib) philosophisch ableitbar und auch im Alltag erfahrbar.25

Diese Leib-Seele-Einheit kann auch auf andere Weise philosophisch gezeigt werden, nämlich anhand eines wesentlichen Vollzugs menschlichen Lebens, am Phänomen der Erkenntnis. Erkennen ist ein Wesensmerkmal des Menschen. Der Mensch strebt von Natur aus nach Wissen (und Erkenntnis), so lautet ein Satz der Metaphysik von Aristoteles.26 Daher zeigt Thomas von Aquin die Einheit von Seele und Leib auch anhand des menschlichen Erkenntnisprozesses auf. Der Mensch erkennt nicht nur mit seinem Geist, sondern vor allem mit seinen leiblichen Sinnen: mit Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten und der Geist formt diese Sinneserkenntnis zu einem Urteil: Das ist ein Buch, das ist ein Auto. Denn genau genommen sieht der Mensch kein „Auto“, sondern etwas Großes, Rundes, Eckiges, Metallenes, Rotes und verknüpft mithilfe des Geistes diese Informationen zum Begriff „Auto“.

Im Erkenntnisprozess wirken die materiellen Sinne und der immaterielle Geist als Einheit zusammen. Ziel des Erkennens ist es, die Dinge draußen zu erfassen und durch diese Außenerkenntnis langsam zu sich selbst zurückzukehren. Die Seele formt also in dieser Philosophie den Körper zum Leib. Nur in der Einheit von (Geist-) Seele und Leib kann der Mensch (sich) erkennen.27 Damit ist jeder Leib-Seele-Dualismus ausgeschlossen.28

Zusammengefasst: Der Mensch ist nach Thomas von Aquin eine Leib-Seele-Einheit. Die Seele als das innere Ganzheitsprinzip ist beim Menschen sein Geistsein. Das Wesen dieses Geistseins ist, mithilfe des Leibes zu erkennen (die Welt und sich selbst), den Leib von innen her zu durchformen und sich in diesem Leib auszudrücken. Jedes Erkennen (Geist) ist von einem Fühlen und Erleben (Seele) begleitet und hat Auswirkungen auf den Körper. Es ist das Fühlen eines denkenden Menschen. Dieses Fühlen geht über die emotionale Beziehung zum Mitmenschen hinaus und reicht hinein in ein „Fühlen“, das sich auf einen letzten Seinsgrund bezieht.29 Es ist ein Fühlen, das mit der Letztausrichtung des Menschen auf Absolutes zu tun hat.

Das Leib-Seele-Problem nach Descartes – Medizin als Naturwissenschaft

Im Verlauf der Philosophiegeschichte zerbricht das Denken der Leib-Seele-Einheit in der Zeit nach Thomas von Aquin zunächst langsam,30 später bei René Descartes vollständig. Bei ihm wird der Begriff der Seele vollends auf den des Geistes im Sinne des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins reduziert. Geist und Materie werden in der Unterscheidung von „res cogitans“ (denkende Sache) und „res extensa“ (ausgedehnte Sache) gänzlich voneinander getrennt.31 Die Materie hat eine Ausdehnung, die gemessen werden kann (zum Beispiel das Gewicht des Gehirns), der menschliche Geist hat keine Ausdehnung und kein Gewicht. Er kann selbst nicht gemessen werden (nur in seiner Außenwirkung auf das Gehirn). Die Entwicklung nach Descartes lässt sich so zusammenfassen, dass alle Denkversuche, die durch ihn verloren gegangene Einheit von Seele und Leib wiederherzustellen, bis heute erfolglos geblieben sind.32

Worin die Gründe für den denkerischen Verlust dieser Leib-Seele-Einheit im Einzelnen liegen, kann hier nicht weiter analysiert werden. Für den vorliegenden Kontext genügt es, zu sagen, dass sich die Philosophie durch die Reduktion des Seelenbegriffs auf jenen des Geistes vorwiegend der Reflexion des Geistphänomens zuwandte (zum Beispiel im deutschen Idealismus u. a. mit der „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel) und die Medizin sich im Gefolge der aufkommenden Naturwissenschaften vorrangig den ausgedehnten und messbaren Dingen widmete. Sie wurde nahezu reine Naturwissenschaft. Die Medizin suchte folglich Ursachen von Krankheiten in der Materie. Aus dem Philosophicum33 wurde im Medizinstudium das Physikum, der Mensch wurde auf seine physikalisch messbaren Parameter reduziert. Das Grundproblem des Verhältnisses von Seele und Leib wurde auf den Aspekt der Gehirn-Geist- oder Geist-Materie-Problematik verkürzt. Deswegen wird die Seele oft im Gehirn gesucht,34 von der Seele als innerem Ganzheitsprinzip, die den ganzen Körper durchseelt, ist keine Rede mehr.

Diese Verengungen und Vereinseitigungen führen bis heute zu Missverständnissen. Erstens ist der alte Begriff der Seele umfassender als jener des Geistes und zweitens ist die Seele kein Etwas. Sie hat keine Gegenständlichkeit und daher auch keinen Ort. Schon Rudolf von Virchow unterlag einem Irrtum, als er bemerkte, er habe viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden. Die Seele ist kein Gegenstand und kann daher auch nicht gefunden werden. Sie ist in gewisser Weise alles und macht in Verbindung mit dem Leib die ganze Lebendigkeit und Identität des Menschen aus. Umgekehrt verschwindet sie hinter dem körperlich Sichtbaren und verbleibt in ihrer Unsichtbarkeit. Sie wird nur „sichtbar“ durch den Ausdruck im Leib.

Die neuzeitliche Spaltung von Geist und Materie führte denkerisch zu einem Verlust der Seele als innerster Mitte des Menschen. Diesen Verlust greift zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts Sigmund Freud auf, begreift aber die Seele jetzt als Unbewusstes, Trieb, Verdrängtes, „Es“; sowie Ich und Über-Ich als rationale beziehungsweise moralische Instanzen.

Während in der Sichtweise des Thomas von Aquin die Seele noch als innerste Mitte des Menschen mit Vernunft, Verstand, Gefühl, Emotion, Intuition und den Blick auf Absolutes umfasste, beschreibt der Seelenbegriff Freuds und jener der nachfolgenden Psychologie nur noch die Welt der Gefühle, des Erlebens und des Verhaltens. Der Begriff der Seele hat also eine große Wandlung und Verkürzung durchgemacht: von der innersten Mitte des Menschen als Geist-Seele hin zur Seele im modernen psychologischen Sinn.

So kommt das innere Auseinanderbrechen des Menschen heute an einen Punkt, wo die Medizin als Naturwissenschaft trotz vieler Fortschritte gerade im Bereich chronischer Erkrankungen – zu denen man auch Krebserkrankungen zählen kann – nicht recht weiterzukommen scheint. Sie muss ihren Fokus über die Betrachtung der Materie hinaus auf die menschliche Seele (Psychologie, Psychosomatik) ausdehnen, vor allem aber auf den menschlichen Geist als innerer Mitte des Menschen. So kann sie zu einer wirklich „personalisierten Medizin“ werden. Die alte innere Einheit von Geist, Seele, Körper muss heute neu als transdisziplinärer Zugang der Wissenschaften erarbeitet werden.35 Die neue Einheit ist als Einheit in Verschiedenheit zu denken.

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