Читать книгу Die Todesanzeige - Matthias F. Steinmann - Страница 11

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4. Alpenflug bei Hochdrucklage

Ich musste bald eingeschlafen sein, denn als ich aus einer traumlosen Bewusstlosigkeit erwachte, zudem in einer unbequemen Stellung, da ich sogleich eine Versteifung im Nacken fühlte, war es bereits viertel nach sechs. Die Sonne schien relativ tief in das nach Westen gerichtete Zimmer. Also hatte Annette nicht Wort gehalten und mich nicht geweckt. Ich fand sie dann auch auf dem Bett im Schlafzimmer, nicht zugedeckt und tief schlafend, mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. Es waren dies die Momente, wo ich viel Gefühl für sie empfand, wo meine zunehmenden Zweifel, ob Annette wirklich eine langfristig tragende Beziehung sei, sich zerstreuten und ich einen Drang verspürte, mich an sie zu kuscheln und sie sachte zu küssen. Doch wollte ich sie vorläufig nicht wecken. Ich deckte sie mit der freien Hälfte des Bettüberwurfes zu und ging ins Bad, um mich etwas zu erfrischen.

Ich beschloss, Annette schlafen zu lassen, um ungestört mit Mäges zu telefonieren, da er um diese Zeit zu Hause sein müsste.

Leise schlich ich an der schlafenden Annette vorbei zurück in das Grüne Zimmer und wählte Max Rublis Privatwohnung an. Niemand da. Vielleicht hatte ich mich in der Nummer geirrt. Noch einmal überprüfte ich Mäges Nummer in meinem kleinen grünen Telefonbüchlein – ein für mich interessantes Dokument, sind darin doch Namen und Nummern in unterschiedlichsten Schriften notiert, die nur noch zum Teil etwas mit meinem gegenwärtigen Leben zu tun haben und an Vergangenes erinnern – und wählte ihn noch einmal an. Wiederum erfolgloses Klingeln. Ob er im Engadin geblieben war? Das liess sich leicht feststellen. Wiederum rief ich das FIO an und war auch gleich wieder mit der mir bekannten Aushilfe verbunden. Auf meine Frage, ob Max Rubli bereits gelandet sei, wechselte sie die Stimmlage, und ich erhielt die zögernde Antwort:

«Noch nicht.»

Der Ton gefiel mir nicht … ganz und gar nicht. Daher fing ich noch einmal an:

«Es ist jetzt Viertel nach sechs. Max Rubli muss doch heute Nachmittag zurück sein. Zumindest sagten Sie mir das heute Morgen.»

«Das ist richtig.»

«Und?»

«Ich bin nicht befugt, Auskünfte zu erteilen.»

«Was soll das jetzt wieder, Max Rubli ist mein Fluglehrer und Freund. Wann kommt er?» bohrte ich, nun immer mehr Ungutes ahnend, nach.

«Also nur für Sie. Wir haben für seinen Flug einen ersten Alarm ausgelöst. Er ist um Viertel nach vier in Samedan gestartet und bis jetzt weder bei uns noch sonst wo gelandet.»

«Mit anderen Worten, im Prinzip wird Max Rubli vermisst?»

«Ja, aber unter uns, denn noch haben wir keine Sicherheit; sowohl in Samedan als auch bei uns wird gleich ein Heli starten, um noch vor der Dunkelheit ELT-Zeichen auf der Route aufzufangen und ihn zu orten.» Unter ELT meinte sie den Emergency locator, der zu senden beginnt, wenn ein Flugzeug hart aufschlägt, wie in der Regel bei einem Absturz oder einer unsanften Notlandung.

«Wie lange reicht denn überhaupt sein Treibstoff?»

«Herr Wyl, ich darf beim besten Willen nicht mehr erzählen. Seine Freundin hat ihn um fünf erwartet. Als er nicht eintraf, haben wir die Startzeit von Samedan erfahren. Aber jetzt ist es genug. Auf Wiedersehen, Herr Wyl»

Und aufgehängt, und wieder ein sonorer Ton im Ohr.

Wie mit einem Bleihammer ins Gesicht geschlagen, das Herz bis in den Hals hinauf pochend, sass ich da und fühlte, wie ich, nachdem die Stützen des Fachinteresses und der Fachsprache wegfielen, in eine Leere abtrudelte, den Halt verlor.

Herrgott, was soll das alles! An einem gewöhnlichen Samstag lese ich da eine etwas aussergewöhnliche Todesanzeige, und am Abend habe ich bereits zwei Bekannte, ja Freunde, durch Unfall verloren und bin zutiefst in einen seltsamen Ruf aus der Vergangenheit verstrickt. Dass Mäges abgestürzt oder notgelandet sein musste, war für mich sofort klar, obwohl ich mir das konkret nicht vorstellen konnte. Mäges war einer der besten Piloten auf dem Platz und in der Regel absolut pünktlich, wie eine Uhr. Auch hätte er jede Unregelmässigkeit, wie ein Abweichen seines Flugweges zu einem anderen Platz, gemeldet. Das Wetter war ja trotz unsicherer Wetterprognosen herrlich, und einen vernünftigen Grund für einen Wechsel der Destination gab es nicht.

So blieben nur zwei Varianten: Notlandung im Gebirge wegen eines Systemfehlers oder ein plötzlicher Ausfall des Piloten aus gesundheitlichen Gründen. Beides schien mir unwahrscheinlich: Bei einer zweimotorigen Maschine bestehen alle Systeme doppelt, und sie braucht vor allem nicht alle bei schönem Wetter. Was bleibt, wäre eventuell ein Motorenbrand oder der Ausfall einer Steuerung, zum Beispiel durch Ermüdungsriss der Seilzüge. Aber sogar das hätte Mäges mit seiner Erfahrung meistern müssen, denn beides bedeutet noch lange nicht Absturz, wenn richtig gehandelt wird und die übrigen Flugverhältnisse nur einigermassen günstig sind. Und das waren sie: Das Wetter war hervorragend, und Landemöglichkeiten gab es genügend. So blieb noch das Unwohlsein des Piloten oder – aber bei Mäges sehr unwahrscheinlich – Unaufmerksamkeit. Doch Mäges war kerngesund und fit, das heisst regelmässig in sportlichem Training. Das wusste ich von unseren Gesprächen auf dem Flugplatz.

Obwohl ich keine Bestätigung eines Absturzes von Mäges hatte, zogen meine Gedanken nach Samedan, und ich versuchte mir vorzustellen, wie dieser Flug abgelaufen sein könnte. Motorenschaden, wo? Welche Alternativen hatte er? Und vor allem wann? Denn Mäges hatte ja Funkverbindung, und man hätte sicher noch etwas erfahren müssen. Überhaupt, das war das Stichwort, da man nichts von ihm wusste, hatte er auch keinen Defekt gemeldet oder einen Notruf abgesetzt. Das konnte nur zweierlei heissen: Der «Unfall» trat im Steigflug auf, kurz nach der Kurve aus dem Tal, wo auch immer er diese durchführte. Wahrscheinlich irgendwo beim Julier, herrscht doch bei schönem Wetter Malojawind, was bedeutete, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach in Richtung St. Moritz/Julier gestartet war.

Also irgendwo nach dem Abschwenken aus dem Tal musste es geschehen sein, denn dann verliert sich die Funkverbindung mit Samedan-Tower, und für jene mit «Zürich-Information», welche für den Sichtflug in diesem Gebiet zuständig ist, hat man in der Regel noch zu wenig Höhe, um Verbindung zu erhalten. Seine fliegerische Sicherheit und das schöne Wetter mögen ihn vielleicht auch veranlasst haben, nicht auf «Zürich-Info» zu schalten, denn absolut notwendig ist das nicht, zumindest nicht sofort. Jedenfalls in diesem kurzen Abschnitt der «Funkstille», also noch relativ nahe beim Engadin, d.h. nach etwa 10 bis maximal 15 Minuten Flugzeit könnte es sich zugetragen haben. Denn später wäre er sicher genügend hoch geflogen, um über Funk seinen Notfall zu melden.

Meine Überlegungen führten mich daher doch zum Schluss, dass ein plötzliches, starkes Unwohlsein, ja eine Bewusstlosigkeit kurz nach dem Start, die Ursache gewesen sein musste, da alle anderen Unfallursachen für mich in hohem Masse unwahrscheinlich schienen.

«Du, jetzt sind wir aber spät dran. Ob es für das Theater noch reicht?»

Annettes Kommen war mir in meinen Gedankenflügen und -abstürzen entgangen, und ich erschrak auch leicht, als sie ihre Arme von hinten um mich legte. Sie kuschelte sich warm an mich, hauchte mir, besser schnüffelte mir zärtlich ins Ohr, was bei ihr ein Zeichen warmer Gefühle – wie sie das nannte – für mich war. So verhielten wir uns eine Weile still, doch die Ereignisse, besser die Gedanken um Mäges füllten mich bald wieder ganz aus, und ich beendete die Umarmung vielleicht etwas zu plötzlich:

«Du, ich sollte noch einmal telefonieren, dringend. Es ist etwas Schlimmes mit Mäges geschehen – bitte warte noch. Ich werde dir gleich alles erklären, sobald ich angerufen habe.»

Annette, immer noch verschlafen, sanft, und das war nicht ihre normale Art, setzte sich still aufs grüne Sofa, indes ich nach kurzem Suchen der Nummer in meinen Flugunterlagen den Tower in Samedan anrief. Der war noch besetzt, und jemand meldete sich prompt. Sie erkannten mich von den vielen Heimwehflügen sofort wieder. Dann sagte ich unvermittelt: «Habt ihr ihn schon gefunden?»

«Wen?»

«Natürlich Max Rubli in seiner Piper Aztec

«Sie wissen, dass wir keine Auskünfte geben dürfen.»

«Sicher, aber ich bin orientiert, ich habe ihn in Bern erwartet», verdrehte ich leicht die Wahrheit.

«Weil Sie es sind und unter uns: sie suchen zwar noch. Aber eine King Air auf einem Taxiflug von Agno nach Innsbruck hat Signale aufgefangen, so dass für uns leider kein Zweifel mehr besteht. Die Frage ist nur, ob es unserem Heli gelingt, das Wrack noch vor der Dunkelheit zu orten, das wir im Julier-, Piz Lagrev-Gebiet vermuten. Das Ganze ist für uns unverständlich und entsetzlich. Kein Ton von ihm am Funk! Aber bitte zu niemandem ein Wort. Es ist Sache der Polizei, über den Unfall zu berichten. Und nun muss ich an den Funk. Auf Wiedersehen.»

Damit waren meine Vermutungen erschreckende Wirklichkeit geworden. Ich versuchte zu schlucken, denn irgendwie war da alles in mir vertrocknet. Ich ging wortlos in die Küche, obwohl mich Annette, die nur meine Worte mitgehört hatte und daher nur ahnen konnte, worum es ging, mit fragenden Augen ansah, goss mir ein grosses Glas Mineralwasser ein und trank es in einem Zuge aus. Wieder zurück bei Annette berichtete ich ihr dann alles, was ich bereits sicher wusste, aber auch meine Überlegungen zur Ursache und zum mutmasslichen Verlauf des Unglücks. Sie sah mich dabei mit grossen Augen an und wurde immer ernster. Das Spielerische in ihrer Neugierde, das bisher im ganzen Hünger-Fall ihren Ausdruck geprägt hatte, war wie weggewischt. Ihre Zwischenbemerkungen, Fragen klangen anders, überlegter, vorsichtiger, ja beinahe etwas furchtsam. Und als ich geendet hatte, sagte sie dann auch leise:

«Du, ich habe Angst.»

Ich setzte mich zu ihr aufs Sofa. Schweigend sassen wir da und grübelten vor uns hin. Ich stellte mir vor, wie Mäges, nachdem er die Piste 28 überquert hatte, den langen, etwas schmalen Taxiway in Richtung Bever hinunterrollte, wie bereits unzählige Male zuvor, vielleicht etwas unaufmerksamer als sonst. Zwar standen alle Motoreninstrumente im grünen Bereich, zeigten Standardwerte an, nichts Aussergewöhnliches also … es sei denn der ihn ablenkende Nachhall des Gesprächs mit der Witwe Hünger. Ich ging jetzt ganz davon aus, dass dieses stattgefunden und er es vor einer knappen Stunde beendet hatte. Seine Erinnerungen an früher, die plötzliche Nähe von scheinbar Vergangenem mögen ihn aufgewühlt haben, vielleicht ebenso die Trauer der Witwe Hünger, ihr gelebtes Leid. Oder war es noch etwas mehr? Etwas, das ich mir mit meinem Blackout nicht vorstellen konnte?

Beim Start liess Mäges, wie schon Hunderte Male zuvor, die Motoren auf Touren kommen, überprüfte Magnete, Propeller und Instrumente, um anschliessend die Start-Checkliste durch zu beten. Mag sein, dass ihm in diesem Moment auffiel, wie trocken sein Mund, wie pelzig sich seine Zunge anfühlte oder dass irgendeine andere Änderung in seinem Körper vorging, die er allerdings nicht als gravierend beurteilte. Beim Eindrehen auf die Piste mochte ihm ein leichter Schwindel oder eine Schwere des Kopfes aufgefallen sein, dem er, weil dies hin und wieder bei raschen Drehungen auftreten kann, keine weitere Bedeutung zumass. Auch war er nun viel zu sehr mit dem Startvorgang befasst, um darüber nachzudenken: Mensch und Maschine werden da vorübergehend eins. Der Lärm der hochdrehenden Motoren, die Vibrationen waren sozusagen in ihm selbst, wie wenn er selbst zum Flugzeug geworden wäre.

Nachdem das Fahrwerk eingefahren, die Steigleistung gesetzt, Richtung und Steigwinkel ausgetrimmt waren, mag ihm plötzlich wieder der Schwindel, die Müdigkeit aufgefallen sein. Augen schliessen, Kopf drehen und tief ein- und ausatmen – sie blieben trotzdem. Ja, sie schienen noch stärker als zuvor. «Vielleicht sind das Probleme mit der Höhe», mag er gedacht haben. Mäges nahm daher, vielleicht bereits etwas schwerfälliger als gewöhnlich, denn er hatte Mühe, sich zu konzentrieren, die Sauerstoffmaske aus der Tasche, schloss sie an, streifte sich die Mundmaske über und zog den entsprechenden Knopf. Keine Wirkung – im Gegenteil, irgendwie fühlte er sich schwer, schwerer, müde und schwindlig zugleich.

Ein Blick auf den Höhenmesser: 11 500 Fuss, also Zeit für die Kurve nach rechts, auf Kurs Richtung Bern – oder vielleicht doch besser gleich zurück ins Tal. Denn das war nun tatsächlich nicht normal. Ja, er fühlte sich zunehmend müde und hatte bereits Mühe, die Instrumente in der Kurve zu koordinieren. Daher dachte er wohl: Am besten «level off» und in einer grossen Linkskurve zurück ins Tal, wieder landen, und zwar auf Piste 10, so schnell als möglich, denn so geht das wirklich nicht!

Doch nur mit grosser Mühe konnte er noch die notwendigen Handgriffe durchziehen, denn es fiel ihm nun immer schwerer, die Augen offen zu halten. Darüber hinaus drehte sich zunehmend alles, und die Instrumente begannen vor seinen Augen zu verschwimmen. Herrgott, ich bin in Absturzgefahr, realisierte er irgendwie noch ganz klar. Es gelang ihm nicht mehr, gegen die schwindelnde Schwere anzukämpfen. Am besten oben bleiben und Richtung Bern!

Mit grösster Mühe drehte er das Flugzeug wieder auf Kurs 290, drückte den Autopiloten, damit die Maschine Kurs und Höhe halten würde. Dann hat Mäges wohl sein Bewusstsein verloren. Es kann sein, wenn ihm das alles noch gelang, dass er dabei den Trimmknopf oder den roten Auslöseknopf auf dem Steuerhorn berührt hatte und damit den Autopiloten wieder ausschaltete. Ohne sein Zutun senkte daher die Maschine leicht die Nase und begann einen flachen Sinkflug in Richtung der Berge, eben in die Flanke des Lagrevs zum Beispiel, die er in dieser Reisehöhe nur sehr knapp überflogen hätte.

So etwa könnte es gewesen sein. Vielleicht auch anders. Aber nur ein plötzliches, starkes Unwohlsein könnte mir den Absturz von Mäges plausibel erklären. Ein Fall für den Gerichtsmediziner auf alle Fälle. Das heisst in ein bis zwei Jahren werden wir es wissen, wenn der offizielle Unfallbericht publiziert wird.

Doch wissen sollte ich es eigentlich heute, ja, und zwar dringend, dachte ich. Denn irgendwie fühlte ich, dass es bei diesem Absturz nicht mit rechten Dingen zuging, und falls Mäges Frau Hünger besucht hatte, könnte es oder müsste es gar mit diesem Besuch zusammenhängen.

Die Todesanzeige

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